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Spätsommerreise
1. Auf der anderen Straßenseite steht ein Toter. Ein Mann, schätze ich, oder zumindest der Körper eines solchen; groß, breites Kreuz, teure Schuhe.
Ein mächtiger Spätsommerregen prasselt auf die Pflastersteine zwischen uns.
2. Im vollständig bandagierten Gesicht trägt der Tote eine verspiegelte Sonnenbrille und Kopfhörer, dazu ein mitternachtsblauer Mantel, dessen Spitzen ihm um die Knie flattern.
Silberne Knöpfe halten den Stoff straff am Körper.
3. Die eine Hand steckt in der Manteltasche, in der anderen hält der Tote einen Walkman. Er steht im Regen, das bandagierte Gesicht zum Himmel, und lauscht, was ihm die Kopfhörer zu erzählen haben.
Der Tote riecht nach Rosenöl und Baumharz. Nicht einmal der Regen kann das verwaschen.
4. Der Tote sagt etwas; ich sehe, wie sich unter den Bandagen Lippen bewegen. Seine Stimme geht im Orchester aufplatzender Wassertropfen unter; vielleicht ist er auch stumm.
Ich glaube, er ruft nach mir.
5. Rinnsale bilden sich, fließen gemeinsam die Straße hinunter. Rotes Make-up treibt mit. Ich mag den Regen, er macht mich rein, trägt mich Schicht für Schicht ab, bis nur noch das Innerste übrig ist. Nur das, was nicht gehen kann.
6. Ich sage dem Toten, er soll verschwinden.
Er lässt den Walkman in die Tasche gleiten. „Darf ich zu dir herüberkommen?“, ruft er durch den Regen.
Ich beachte ihn nicht. Vielleicht geht er dann wieder weg.
7. An einem Metallpfahl hat Papas Nachbar seine Bulldogge angekettet. Der Tote macht einen Schritt auf die Straße. Kein Laut löst sich aus dem Maul der Bulldogge; sie zerrt an der Kette, kauert sich dann auf den Boden, still und heimlich, als wünschte sie, darin zu versinken.
8. „Hallo“, sagt der Tote und geht in die Knie, die bandagierten Hände auf die Oberschenkel gestützt; die Mantelspitzen baumeln im Dreck.
„Kannst du mich verstehen?“, frage ich.
Der Tote zeigt auf die Kopfhörer. „Sogar ganz wunderbar.“
8. „Wer bist du?“
„Ein … Fährmann.“
„Wenn es so weiter regnet, könnte ich einen gebrauchen“, sage ich.
Ich glaube, unter den Bandagen schmunzelt der Tote.
9. „Warum sitzt du da?“, fragt der Tote.
„Ich warte. Auf Papa.“
Der Tote schweigt.
Was gibt es da auch zu sagen.
10. Der Tote und ich warten zusammen. Er setzt sich auf die Türschwelle neben mich. So lange zu warten macht einsam, da ist jede Gesellschaft willkommen.
Je länger ich mit ihm sitze, desto mehr glaube ich, dass genau das seine Aufgabe ist.
11. „Was macht ein Fährmann so?“
„Worauf tippst du denn?“
„Irgendetwas mit Schiffen.“
„Das ist gar nicht so falsch.“
12. „Wie lange wartest du schon auf deinen Vater?“
„Weiß nicht.“
„Du hast dich verirrt.“
Ich schaue meinem Make-Up nach, das zwischen den Pflastersteinen verläuft. Ich kann mich nicht verirrt haben, denke ich; ich hab ja gar kein Ziel.
13. Papa verirrt sich nicht. Um halb zwei ändert sich das Prasseln der Regentropfen; weiche Schläge, wie Finger auf einer Trommel.
Vier verhüllte Beine eilen die Straße herauf; zwei lange, zwei kurze. Jemand kichert unter dem Regenmantel. Es schnürt mir die Kehle zu.
14. Der Regenmantel stoppt. Jemand bückt sich; ein Arm bricht durch den Stoff, wirft ihn zurück. Es ist Papa, in der Hand ein Schlüssel; die Haarsträhnen kleben an der Stirn. Ihm ist ein Bart gewachsen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.
Er wirkt so reif, so stark im Regen.
Wie der Vater einer anderen.
15. „Papa?“ Ich stehe auf.
Er bleibt stehen; sein Blick fällt auf das Make-up, das ihm gegen die Stiefel schwappt. Langsam hebt er den Kopf; ich folge seinen Augen. Dicke, rote Farbe quillt durch den Türspalt, fließt die Treppenstufen hinunter, mündet im Regen.
Unsere Blicke treffen sich.
16. „Papa. Ich bin es.“
Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Sein Blick hält stand.
Ich strecke die Hand nach ihm aus; Regentropfen fallen durch meine Finger, platzen unter meinen Schuhen auf dem Straßenpflaster auf. So viel ist schon abgetragen; ich bin nicht mehr als meine eigene Erinnerung.
17. „Papa?“ Aus dem Regenmantel schaut ein Mädchen mit fuchsroten Haaren und Sommersprossen; fremd und doch vertraut. Papa dreht sich zu ihr.
„Ja?“
„Mach auf. Mir ist kalt“
„Ja, es ist nur …“ Er schüttelt sich das Wasser aus den Haaren. „Nur so ein Gedanke gerade“, sagt er.
Und läuft durch mich hindurch.
18. Zum ersten Mal scheint Papa den Toten zu bemerken. Er mustert ihn mit aufeinandergepressten Lippen.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt er.
Der Tote schmunzelt. „Sehr freundlich, aber nein. Wegen dir komme ich ein anderes Mal.“
Papa nickt langsam, als wäre er dadurch schlauer geworden.
19. Der Tote reicht Papa die Kopfhörer. „Möchtest du dich von ihr verabschieden?“
Papa starrt auf seine Hand. „Was?“
„Nimm es!“, schreie ich ihm ins Ohr. „Bitte!“
„Sie ist sehr aufgebracht“, sagt der Tote. „Sie bittet darum.“
20. Papas Blick wandert vom Walkman zur rot benetzten Treppenstufe. Mit zitternden Fingern schließt er die Haustür auf.
Der Geruch von Farbe kommt mir entgegen; inmitten einer Lache liegt ein leerer Eimer. Rote Pfotenabdrücke führen in die Wohnung.
Er atmet aus, richtet sich auf; die Hand fährt über die nassen Strähnen. Einen Augenblick lang sagt keiner ein Wort. „Finden Sie das witzig?“, fragt Papa den Toten; Schmerz liegt in seinem Gesicht.
Der Tote schweigt.
21. „Komm rein“, ruft Papa und schaut mich an.
Eine Hand fährt aus meiner Brust; der Arm, dann die Schulter. Das Mädchen im Regenmantel tapst die Stufen hinauf und verschwindet im Haus.
Papa wirft dem Toten einen letzten Blick zu, dann folgt er ihr.
Und schließt die Tür.
22. Der Tote setzt sich die Kopfhörer auf.
„Wollen wir?“, fragt er.
„Er will sich nicht von mir verabschieden.“
„Oh, das hat er schon. Schon vor langer Zeit.“
23.
„Muss ich gehen?“
„Willst du denn bleiben?“
Schwere Frage, denke ich. Wie kann ich denn wissen, ob ich aufbrechen will, wenn ich nicht weiß, was noch kommt?
Vielleicht kommt auch gar nichts mehr.
„Ist das das Ende?“, frage ich den Toten.
„Oh nein.“ Er lacht. „Das ist der Anfang.“
Ich schaue in den Himmel. Ich wünschte, ich könnte noch einmal den Regen auf meiner Haut spüren.
„Da, wo wir hingegehen, gibt es da Regen?“, frage ich.
„Den gibt es überall.
„Dann lass uns los.“
Wir folgen dem Make-up. Der Tote singt ein wortloses Lied. Zu unseren Füßen fließt der Regen dahin. Bald gräbt sich das Wasser in die Rillen zwischen den Pflastersteinen, spült Sand und Erde mit sich; die Steine lösen sich, treiben davon. Häuser versinken in Schlamm und Wasser. Was mal eine Straße war, ist zu einem reißenden Fluss gewachsen. Mein Make-up wird zu Fäden zerrissen, immer kleiner und kleiner, bis man es nicht mehr erkennt.
24. Der Tote setzt einen Fuß auf das Wasser und streckt die Hand nach mir aus. „Bist du bereit?“
Ich nicke; Wind zieht auf, peitscht wellenlos an uns vorbei.
Ich nehme seine Hand.
Regentropfen fallen mir auf die Haut.