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Spiegel
Hey you, in the mirror
stop twisting my weak mind
Mirror of madness,
stop haunting me
Hey you, before the mirror
your eyes keep telling you lies
Mirror of madness,
is making you insane
Norther, Mirror Of Madness
Die Bässe verschwammen zu einer rumpelnden Masse, als die Tür zufiel. Sabine hatte zu viel getrunken und lief schon das dritte Mal zwischen Toilette und Konzerthalle hin und her. Langsam ging es ihr gehörig auf die Nerven. Zumindest entkam sie so für ein paar Minuten der völlig überzogenen Lautstärke. Ganz vorne an der Bühne hielten es ohnehin nur Wahnsinnige aus.
Neben einem nach Sabines Meinung viel zu jungen und ziemlich unpassend gestylten Mädchen war sie diesmal die Einzige auf dem Klo.
»Geiles Konzert, oder?«, stellte die schmale Vierzehnjährige fest. In ihren auf sexy getrimmten Girlieklamotten schaute sie drein, als würde sie Lob für die gerade geäußerte Weisheit erwarten.
Sabine hatte keine Lust, sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen.
»Naja, geht schon, ich warte auf den Headliner«, antwortete sie.
»Oh ja, die sind viel besser als die jetzt gerade«, versuchte die Kleine ihr zu gefallen.
»Bist du eigentlich in Begleitung, oder treibst du dich hier allein herum?«
»Das geht dich gar nichts an und außerdem bin ich schon 18.«
Sabines Rechnung ging wunderbar auf. Schon stampfte die Minderjährige hinaus. Das in solchen Fällen obligatorische Knallen der Tür verhinderte der Türschließer.
»Kinder!«, grinste Sabine, während sie sich vor dem Spiegel die dünnen Haare zurechtzupfte.
Plötzlich spürte sie einen leichten Windstoß. Irritiert drehte sie sich um, doch es war nichts Ungewöhnliches zu bemerken.
Das Dröhnen brach ab und Begeisterungsstürme des Publikums tosten dumpf in den Waschraum. Sie korrigierte den Sitz ihrer Lederhose und wollte sich gerade die Hände waschen, als sie im Spiegel deutlich einen unsteten Schatten sah. Draußen richtete der Sänger ein paar Worte an das Publikum. Sabine fuhr zusammen; der Spiegel begann in unregelmäßigen Abständen geräuschvoll zu zittern. Dass er vibrierte, während die Band spielte, erschien ihr ja noch plausibel, aber ein Zittern aus heiterem Himmel, war doch mehr als merkwürdig. Schnell wusch sie sich die Hände, doch zu ihrem Missfallen gab der Wasserhahn nur ein mageres Rinnsal von sich. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ihre Hände darunter zu halten und abzuwarten. Mit einem dumpfen Knall bekam der Spiegel einen Sprung, der sich von der Mitte bis zum rechten Rand bildete. Sie stieß einen Entsetzensschrei aus und machte einen Satz bis an die Wand hinter sich. Ungläubig starrte sie den Spiegel an.
Der Schatten wanderte noch immer im Spiegel hin und her. Nur langsam beruhigte sie sich wieder. Sie wollte sich das Phänomen genauer ansehen und näherte sich dem Spiegel. Was sie sah, erstaunte Sabine. Das Spiegelbild zeigte nicht nur eben dieses, es wirkte plastisch. Je länger sie es betrachtete, desto stärker wurde ihr Eindruck, nicht sich selbst, sondern eine andere Person im Spiegel zu sehen. Die Augen saßen tief in den Höhlen und breite Augeringe ließen das Gesicht alt aussehen. Die deutlich hervortretenden Wangenknochen sahen aus wie die eines Verhungerten. Sie fuhren mit der Hand über die Oberfläche des Spiegels. Er fühlte sich warm und klebrig an, ganz so, als würde Schaumstoff von einem Lösungsmittel an ihrem Finger zersetzt. Im Bruchteil einer Sekunde wurde die Oberfläche plötzlich heiß und ein Blitz flammte über ihren Finger und breitete sich wie eine Welle über die ganze Hand aus. Das Licht im Waschraum war merklich schwächer geworden und sie hielt sich die Hand. Ihr war, als hätte ihr jemand mit einem Hammer auf den Zeigefinger geschlagen. Es war merkwürdig ruhig. Auf dem Weg nach draußen fielen ihr zum ersten Mal die Pissoirs auf. Merkwürdig, dachte sie. Sie hätte schwören können, dass sie beim Hereinkommen noch nicht da gehangen hatten. Alles schien seitenverkehrt und als Sabine das Schild an der Türe kontrollierte, war ihre Verwirrung komplett.
Die Halle war menschenleer. Nicht einmal die Spur eines Konzertes war zu sehen. Sabine stand starr in der Tür zur Halle. Alte Konzertplakate und Aufkleber hingen an den Wänden und der Verputz machte den Eindruck, als würde er schon seit Jahren abbröckeln. Ihre Hand schmerzte, und als Sabine sie noch einmal betrachtete, schien sie von feinen, flackernden Linien überzogen zu sein.
»Was ist das denn?«, flüsterte sie.
Sie betastete ihre Hand und spürte eine leichte, elektrische Aufladung, die sie an das Gefühl erinnerte, mit dem Finger über einen Fernsehschirm zu gleiten. Vorsichtig versuchte sie, das langsam schmerzhaft werdende Phänomen abzuschütteln, doch das brachte keine Linderung.
»Hallo, ist jemand da?«, rief sie.
Ein mulmiges Gefühl drückte ihr allmählich die Luft ab. Angst zu haben, passte gar nicht zu Sabine; sie war immer selbstsicher gewesen und hatte nie Schwierigkeiten mit der Dunkelheit oder dem Alleinsein gehabt.
Das ist der Vorteil wenn man scheiße aussieht, dachte sie grimmig. Sie beschloss, so schnell wie möglich zu verschwinden, nahm ihren ganzen Mut zusammen und rannte in den Vorraum, wo sich auch der Ausgang befand. Abrupt blieb sie stehen.
»Verdammt!«
Die Türen waren mit dick von Staub bedeckten Ketten verschlossen. Durch verglaste Luken in den Türen drang Tageslicht herein. Auf Zehenspitzen versuchte sie einen Blick nach draußen zu erhaschen, aber sie war zu klein und konnte nur einen Baumwipfel erkennen. Wie komme ich hier nur raus, überlegte sie fieberhaft. Ein Anflug von Panik überrollte Sabine. Voller Wut trat sie gegen die Ketten und im selben Moment fühlte sich ihre Hand an, als bade sie in kochendem Wasser. Sie schrie vor Schmerzen und fiel auf die Knie. Nun saß sie einem Schulmädchen gleich im Vorraum und wimmerte wie in Trauer um ein verendetes Kaninchen. Nach endlosen Minuten ließen die Schmerzen nach. Unregelmäßige Nadelstiche waren an ihre Stelle gerückt und langsam konnte sich Sabine wieder beruhigen. Sie stand auf und sah sich vorsichtig um. In einer Ecke stand eine Kombination aus Mülleimer und Aschenbecher, die ihr Interesse weckte. Bis auf eine entwertete Eintrittskarte aus dem Jahr 2003 war er leer und sie wunderte sich, was sie eigentlich gesucht hatte. Zögerlich betrat sie wieder die Halle.
Der Mund trocken, die Hände feucht, sie fühlte sich verfolgt, zumindest beobachtet, und das Geräusch ihrer eigenen Schritte kam ihr unheimlich vor. Sie bewegte sich dicht an der Wand entlang, blickte nervös in alle Richtungen und versuchte, kein Geräusch zu verursachen. Wenn ich doch nur etwas Licht haben könnte, dachte sie und ihr kam der Gedanke, dass doch Bühnen zu beleuchten sein mussten.
Vorsichtig durchschritt sie den Raum, drehte sich dabei misstrauisch um Ihre eigene Achse, damit ihr keine Bedrohung, welcher Art auch immer, entginge, die sich vielleicht hinterrücks auf sie stürzen und sie verschlingen mochte.
Je näher sie seiner Mitte aber kam, desto stärker das unlängst versiegte Stechen in ihrer Hand, steigerte sich zu einem Sägen und gipfelte bald in rasendem Brennen. Es wurde stärker und stärker, bis sich Sabine, in die Flucht geschlagen, wieder zur Wand zurückzog. Müde schlich sie nun um das Zentrum herum, stets darauf bedacht, das Pulsieren ihrer ungewöhnlichen Fessel nicht zu stark werden zu lassen.
Etliche Minuten später, Stunden für Sabine, stand sie vor der Bühne Sie vermochte kaum etwas zu erkennen, doch ein Kasten an der rechten Seitenwand der Bühne erschien ihr wie ein Lichtblick. Nach fünf Stufen stand sie auf dem Podium. Sie öffnete das Metallschränkchen und fand eine Reihe Lichtschalter, von denen sie jeden betätigte.
Die Bühne war jetzt in blendendes Scheinwerferlicht getaucht, was ihr Gefühl, beobachtet zu werden, noch verstärkte. Sie wollte die Lichter wieder löschen, doch eine dicke Spinne ließ sie ihren Plan verwerfen. Wie ausgeliefert fühlte sie sich durch die Bühnebeleuchtung, schon allein deswegen, weil sie nicht mehr sah, ob sich im Zuschauerraum etwas abspielte. Was soll da schon sein, dachte sie, vorhin war dort auch schon nichts, warum sollte es jetzt plötzlich anders sein? Angewidert von der Erinnerung an das achtbeinige Geschöpf verließ sie die Bühne. Jetzt konnte sie alles deutlich erkennen und die unheimlichen Gedanken wichen von ihr, bewegen mochte sie sich aber dennoch nur leise.
Ihr Weg beschrieb einen respektvollen Bogen um das Zentrum der Halle bis hin zur Bar. Sabine ging hinter den Tresen. Ein seltsames Brummen, das von der Bühne kam, ließ sie erschrocken herumfahren. Das Geräusch steigerte sich in ein Knirschen und sie glaubte, die Luft flimmern zu sehen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Hinter dem Tresen kauernd lugte sie zur Bühne und wünschte sich weg von diesem Ort, der nicht zu dieser Welt gehören konnte. Mit einem Knall brach das Geräusch ab und Sabine stand wieder im Halbdunkel. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, dass lediglich die Beleuchtung ihren Geist aufgegeben hatte.
Sie schnappte sich eines der verstaubten Gläser und zuckte von neuem zusammen, als der Wasserhahn, unter dem sie das Glas abwaschen wollte, nur ein lautes Rumpeln von sich gab.
Die vielen Schnapsflaschen machten, wie schon die Ketten an den Eingangstüren, den Eindruck, als hätte sie schon lange keiner mehr in die Hand genommen.
Was zur Hölle war nur los? Sie suchte die Flaschen in den Regalen ab. Offensichtlich waren die Getränke preislich sortiert. Billiger Fusel auf der linken, ausgewählte Whiskys und andere edle Tropfen auf der rechten Seite. Eigentlich war ihr egal, womit sie ihren trockenen Mund anfeuchtete. Sie holte die nächstbeste Flasche vom Regal und stolperte über ihre eigenen Füße.
Die Flasche zersprang auf dem Betonboden. »Scheiße!«
Sie wollte sich eine andere holen, als plötzlich ein weißes Rauschen einsetzte. Sie sah sich in der Halle um. Ihr Blickfeld war durch verschwommene Linien gestört. Alles flimmerte wie ein schlecht eingestelltes Fernsehprogramm. Hinten auf der Bühne glaubte Sabine, eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Das ihre Hand umspannende, bläulich leuchtende Geflecht verflüchtigte sich, umspielte sie kurz wie ein Handschuh und verpuffte, begleitet von einem Funkenflug im Nirgendwo. Das weiße Rauschen wurde lauter und lauter und nach einer Weile gesellte sich noch ein tieffrequentes, verzerrtes Hämmern hinzu. Die von Schlieren und unscharfen Linien durchzogene Halle krümmte und dehnte sich mit jedem Klopfen, als würden sich zufällig ausgewählte Stacheln eines gläsernen Igels vor Sabines Augen ruckartig ausdehnen und wieder zusammenziehen. Sie konnte nicht ausmachen, ob ihr nur die Augen einen Streich spielten, oder die Halle tatsächlich durch das Rauschen verformt wurde.
Der Boden verlor seine Festigkeit, bekam Risse, zerfiel zu einer Wolke von Zementbröckchen, die über einem zähflüssigen See trieben, als seien sie Staubpartikel. Fast wie ein Asteroiden fällt, dachte Sabine. Ihre Beine sanken hinein, wurden von den Fragmenten durchdrungen und fühlten sich an wie eingeschlafen. Je tiefer sie in die Wolke einsank, desto höher kroch das pelzige Gefühl. Ihre Füße näherten sich dem halb flüssigen See, der gerade noch harter Zementboden gewesen war, doch niemals berührte sie ihn wirklich, er verkochte, ja verflüchtigte sich zu schwarzem Dampf. Bald wandelte sich das Kribbeln in ein Stechen, ein fast greifbares Knistern, wie eine Brause mit zu festem Strahl und die Halle zuckte immer intensiver, zog sich mit jedem Hammerschlag deutlicher in die Länge. Dann wieder stürzten die Wände herbei, von Mal zu Mal näher und der Druck in Sabines Kopf nahm ebenfalls zu.
Die Gesteinsbrocken wühlten sich durch ihren Körper, stießen mitunter zusammen, blitzten dann auf und erzeugten wohlige Wärme. Sabine war in eine Wolke von Steinchen gehüllt; ihre Sinne von den Blitzen der Zusammenstöße eingenommen, die sie überfluteten und keinen Raum zum Denken ihr ließen. Der Schwarm umschwirrte sie schneller und eine nie gekannte Brandung in ihren Lenden schlug höher und höher. Gewaltig erhob sich weit hinten auf der Bühne ein Wellenkamm und raste dann, gleich einer Wand, auf Sabine zu, die sich, einem Abbild des Saturn gleich, im Zentrum der Halle schweben sah.
Die Welle kam näher, türmte sich bis zur Hallendecke auf und krachte in die äußeren Ringe, schob sie ineinander, verdichtete sie und noch während des Brechens der Welle stürzten die Brocken in Sabine zusammen, verschmolzen, erstrahlten wie zehntausend Sonnen.
Wohin nur mit all dieser Kraft?, fragte sie sich und versuchte, sie beisammen zu halten, aber vergebens. Das brennende Weiß war nicht mehr zu bändigen. Sabine stürzte hinaus ins Nichts, vorbei an Sternen, Planeten, Galaxien, zum Zentrum von allem, betrachtete tausende Welten in einer Sekunde und erlangte beruhigende Gewissheit, dass das Leben nicht nur eine einzige Insel besaß. So vieles, das sie hätte wissen wollen, fiel nun von ihr ab, und es kümmerte sie nicht mehr, ob irgendwann alles zu Ende sein mochte. Am Gipfel höchster Ekstase brach sich ein neues All in einer lautlosen Explosion Bahn.
Dann war nichts mehr. Das Beben verschwunden, der Boden zurück in seiner ursprünglichen Form, gab es keine Spur dieses unbeschreiblichen Ereignisses mehr. Wie eine ferne Erinnerung glimmte das Erlebnis beim Gedanken daran noch einmal auf und Sabine verspürte den unwiderstehlichen Drang, ihre wenigen Freunde an dieser sensationellen Offenbarung teilhaben zu lassen. Plötzlich schoss Erkenntnis durch Sabines Synapsen: Ein Mensch war ihr Weg aus diesem fremden Universum. Hätte sie das nur vorher gewusst, doch andererseits, dachte sie, hätte sie dieses überwältigende Ereignis dann nicht erlebt und niemals erfahren wie es war, hatte man Zugang zu aller Erkenntnis. All ihre Fragen waren es nicht mehr wert, gestellt zu werden, denn ehe sie ihre letzte Frage noch hätte stellen können, war die Antwort in ihr. Die andere Seite war der Schlüssel durch den Spiegel.
Dieser Geistesblitz gab ihr Hoffnung; zurück im Waschraum sah sie in den Spiegel, erkannte darin aber nichts als den Raum. Dort, wo eigentlich Sabines Spiegelbild hätte sein sollen, waberten verschwommene Schatten. Sie strich über den Spiegel und stellte entsetzt fest: Das Wissen um den Weg aus ihrem Gefängnis half nichts, ohne die Möglichkeit es auch einzusetzen, denn ihre Hände waren wie Rauch, körperlos und unnütz.
Nun quälte Sabine sich mit der Frage, wie sie den geheimnisvollen Mechanismus des Spiegels in ihrem körperlosen Zustand auslösen sollte. Je länger sie nachdachte, desto weiter verteilte sich ihre neue Erscheinungsform in der Halle und jedesmal, wenn sie sich von ihren Gedanken kurz losreißen konnte, stoben die nebligen Ausläufer ihres Selbst wieder zusammen und formten ein vages Abbild, eine lustlose Imitation der Sabine, die sie früher gewesen war. Als körperlose Kreatur ließ es sich durchaus leben. Die menschlichen Bedürfnisse wie essen und trinken waren nicht mehr von Belang. Sie fühlte sich befreit und erleichtert, im gleichen Moment aber hilflos und begrenzt.
Egal, welche Gestalt sie annehmen wollte, mit der Mühelosigkeit eines Wimpernschlages befahl sie und die Schwaden ihrer selbst gehorchten. Schließlich kam ihr der Gedanke, wie dieser Halle durch eine irgendwo sicherlich zu findende Öffnung zu entkommen sei. Sabine begab sich ins Zentrum des Raumes und verordnete sich selbst, zur Kugel zu werden, und es geschah. Für eine Sekunde dachte sie an die Ringe, die sie vor ihrer Verwandlung um sie herum schweben gesehen hatte und in derselben Sekunde war sie, die Kugel, von ähnlichen Ringen umgeben. Das half ihr, denn beim Gedanken an Saturn vergrößerte sie ihren Umfang hundertfach. Sie konnte alles sehen, nur nicht durch all diese Risse und Löcher, die das Gebäude mannigfach durchzogen, denn sie waren unerklärlicherweise nicht zu durchdringen, verklebt von zähflüssigem Schleim.
Sabines Ausdehnung fand schließlich ihr Ende. Aller Platz war aufgebraucht, und wäre die Halle um sie entfernt worden, Sabine hätte die Form derselben gehabt.
Trotzig unternahm sie einen letzten Versuch zu entkommen und streckte ihre Schwaden Fingern gleich in das klebrige Zeug. Ein schmerzhafter Schlag ließ sie dann wie ein roter Riese zusammenstürzen zum weißen Zwerg. Schreien wollte sie, alles zu Klump schmeißen und zerstören, egal was, selbst die Erde wäre ihr Recht gewesen, ob ihrer Machtlosigkeit. Allwissend zu sein hieß nun mal nicht allmächtig. Wer weiß, dachte sie, vielleicht war es umgekehrt nicht viel besser, trösten aber konnte sie der Gedanke nicht übermäßig. Wie eine Wahnsinnige schrie sie jetzt los und verzweifelte an dem was sie aus Ihrem Mund hörte: Weißes Rauschen. Die Halle verschwamm und alles erzitterte. Zacken und Nadeln stachen aus den Sabineschwaden, unscharfe Linien durchkreuzten den Raum.
Stunden waren vergangen und Sabine fühlte sich leer. Was gäbe sie darum, endlich diesem Verlies zu entkommen. Sogar zur ganz normalen, durchschnittlichen Sabine würde sie sich wieder machen lassen, käme sie dann endlich frei, nur wem sie sich in dieser Angelegenheit hätte zuwenden sollen, war ihr nicht klar. Es war, verdammt nochmal, niemand hier und sich selbst würde sie auch nicht als Jemand bezeichnen wollen, zumindest nicht in diesem sprichwörtlich benebelten Zustand. Andererseits, überlegte sie, was soll ich draußen, wenn mir der Zugang zur Allwissenheit dann ebenfalls verwehrt bliebe? Nein, die traurige Sabine von früher wollte sie nie mehr werden.
Wie der fahrige Strich in einem abstrakten Gemälde hing sie vor dem Spiegel im Waschraum. Was sie hier wollte, wusste sie nicht so genau.
Sabines Zeitgefühl war verschwunden. Für sie lag der Vorfall auf der Toilette schon Wochen zurück. Gerade war der Gedanke zu Ende gedacht, da erschien plötzlich im Spiegel eine schmale Gestalt.
Das ist es, wollte sie rufen, aber leider, sie hätte es längst wissen sollen, war es bloß ein Rauschen, das sie zu Stande brachte. Um nicht bedrohlich zu wirken, nahm sie zuerst die Form eines Schmetterlings an. Die undeutliche Gestalt registrierte aber keine Schatten, schon gar keinen Schmetterling im Spiegelbild und sperrte sich in eine der Kabinen. Vielleicht sieht man mich gar nicht, zweifelte Sabine. Sie war außer sich; ihre einzige verdammte Chance saß auf dem Klo. Nervös zuckte sie vor dem Spiegel umher und die Bahnen, die sie beschrieb, hätten Jackson Pollock vermutlich gefallen.
Die Minuten, Tage für sie, ließen viel Platz für bohrende Ungeduld, die irgendwann in die Sorge mündete, die schmale Gestalt könnte an einer Überdosis zu Grunde gegangen sein, einem Herzanfall vielleicht, oder einfach, zwar nicht sehr plausibel, aber wer weiß, eingeschlafen sein. Je länger Sabine warten musste, desto aggressiver wurde sie und umso grauenvoller wuchs sich die Wahl ihrer Manifestationen aus.
Dann endlich drehte sich die Schrift am Riegel der Kabine von besetzt auf frei und die Tür schwang auf. Sabine hatte Mühe zu erkennen, ob der Mensch dort vielleicht auf ihre Schatten aufmerksam wurde. Ihre Hoffnung, bald freizukommmen, bekam einen Dämpfer bei dem Gedanken, die Gestalt auf der anderen Seite mochte vielleicht das Mädchen sein, demgegenüber sie so abweisend gewesen war.
Kurz darauf sah sie es deutlich, ja, es schien das Mädchen zu sein und es bot einen erbärmlichen Anblick. Menschenskinder, dachte Sabine, was müssen die Balgen auch schon so viel saufen?! Es war mehr ein Gespenst denn ein Mensch und Sabine konnte nicht anders, als mütterlich zu empfinden. Wahrscheinlich sollte ich die Taktik wechseln, überlegte sie und fragte sich, womit man ein vierzehnjähriges Kind interessieren könnte, und noch bevor Sabine überhaupt angefangen hatte, an einen Teddybären zu denken, hatte sie dessen Gestalt schon eingenommen. Das war ihr glatt peinlich, ein Baby war das arme Ding ja wirklich nicht mehr. Es wusch sich das Gesicht, betrachtete seine dunklen Augenränder, machte aber gleichzeitig den Eindruck, sich nicht besonders elend zu fühlen. Sabine formte eine Hand und winkte ihm zu.
Ja, jubelte Sabine, jetzt fass den Spiegel an, komm schon, lass uns Plätze tauschen! Ob das wohl mütterlich war, überlegte sie mit schlechtem Gewissen, verwarf diesen Gedanken aber wieder und bescheinigte sich noch schnell, dass wohl jeder seine eigenen Probleme zu bewältigen hätte.
Sie geriet völlig aus dem Häuschen und steigerte sich immer weiter in Rage, schrie auf das Kind ein, wohl wissend, dass dieses keins ihrer Worte hören, geschweige denn verstehen würde. Lauter und lauter schrie sie, ignorierte das verzerrte Bild, das sich ihr bot, und stürzte sich ein ums andere Mal auf den Spiegel, aber es nützte nichts.
»Das ist ja komisch«, wunderte sich der Teenager und bekam beim Versuch, die Schatten zu berühren, einen Schlag.
Schwarzer Nebel kroch aus dem Spiegel.
© 2007 by Georg Niedermeier.