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Spiegelbilder

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10.09.2005
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Sie stand da. Inmitten des kleinen Raumes, mit eingezogenem Kopf, hängenden Schultern und krummem Rücken. Über ihr trommelte der Regen unermüdlich gegen das Dach und bildete seinen ganz eigenen Rhythmus, fern von jeder Art von Takt und Gleichklang. Das Prasseln wurde schneller, immer lauter. Es klang gehetzt, als würden die Pfoten eines Tieres, das von einem Jäger verfolgt wurde, auf den Boden klopfen.
Genauso fühlte sie sich. Gejagt. In die Enge getrieben. Sie versank vollkommen in der Atmosphäre des Moments, eingehüllt in das kalte, fahle Licht der simplen Lampe, die, vom Unwetter erzitternd, von der Decke baumelte. Sie schaffte es nicht, den Blick von ihrem Ebenbild loszureißen, das sich ihr, in ihren Augen provozierend, im mannshohen Spiegel zeigte.
Sie fröstelte. Eisige Luft drang durch die kleinen Ritze der Wand ins Zimmer und strich über ihre Beine und ihren Bauch, hinterließ ein eigenartiges Gefühl auf der Haut. Trotzdem blieb sie stehen, wo sie war. Mit nichts als einer Unterhose bekleidet, als wäre sie aus Wachs gegossen.
Mit grimmig verzerrtem Gesicht hob sie die linke Hand und fuhr sanft über ihre Rippen, die deutlich unter der Haut hervortraten. Immer wieder ließ sie ihre Hände darübergleiten, der Druck, der von ihren Fingern ausging, verstärkte sich, bis sich rote Streifen abzeichneten.
Sie trat näher zum Spiegel, bis ihre Nasenspitze fast das kalte Glas berührte und musterte kritisch, mit zusammengepressten Lippen ihr Gesicht. Ein junges Mädchen sah ihr aus matten, traurigen Augen, die schon lange keinen Glanz mehr in sich trugen, entgegen. Der Blick war abgestumpft, meistens zum Boden gesenkt. Die Wimpern, ihre schönen, langen, schwarzen Wimpern, waren weniger geworden und nicht mehr so voll wie früher. Nur die Augenbrauen waren schön gezupft, bildeten eine einheitliche Linie. Ein Anflug von einem Lächeln zeigte sich auf den blassen Lippen, das schon im nächsten Moment wie weggewischt war.
Die schlanken, langgliedrigen Finger fuhren zu einer kleinen Erhebung auf dem Kinn, die die wachsamen und ernsten Augen längst entdeckt hatten. Linker und rechter Zeigefinger pressten von beiden Seiten das Ungetüm zusammen, bis ein heller Punkt Eiter hervortrat, gefolgt von einer Spur hellroten Blutes.
Mit dem Handrücken wurde die verräterische Spur weggewischt, ein Stoßgebet gen Himmel gerichtet, dass der schreckliche Pickel am nächsten Morgen verschwunden sein möge.
Draußen wurde es dunkler und dunkler, der Mond tauchte das Zimmer in sein silbriges, geheimnisvolles Licht, ergoss sich über ihren langen, schwarzen Haaren, die in Strähnen herabhingen. Es schien merkwürdig zu schimmern, fast silbern glänzend.
Für einen kurzen Moment war sie gefangen von sich selbst, bis sich eine Wolke vor den Mond schob und die Atmosphäre zerstörte.
Die Hände glitten den Bauch entlang hinab zu ihren Hüften, kniffen prüfend ins Fleisch. Ein kleiner, unhörbarer Seufzer entfuhr ihr, als sie glaubte, ein bisschen Fett an ihren Knochen zu entdecken. Die fast enttäuschte Miene wich einer wutverzerrten, die in diesen Tagen zur Gewohnheit geworden war. Sie drehte sich halb um, um ihr Hinterteil mit gestrengem Blick zu mustern. Es hatte keinen Sinn. Immer noch war er zu dick. Die Hüftknochen, die an der Seite hervortraten, übersah sie.
Mit ihren Beinen war sie halbwegs zufrieden. Sie waren zwar krumm aber dafür dünn. Wieder stand sie für einige Momente regungslos und nachdenklich da, bis sie ein eisiger Hauch in die Wirklichkeit zurückholte, der sie erschauern ließ.
Wie aus einem Traum erwacht, kam Bewegung in sie und ihre Finger glitten zum rechten oberen Eck des Spiegels, wo zwischen Rahmen und Glas ein Foto steckte. Behutsam, als wäre es der größte Schatz auf Erden, nahm sie es, zog es langsam zu sich heran. Es verströmte einen eigenartigen Geruch, war bereits abgegriffen, tausende Male schon nachdenklich oder sorgenvoll betrachtet worden.
Das Bild zeigte einen lachenden Jungen mit kurzen, roten Haaren und ein paar frechen Sommersprossen auf der Nase. Die Wangen waren gerötet, als würde er sich gerade des schönen Tages erfreuen und die weißen, makellosen Zähne blitzten der Kamera schelmisch entgegen. Der Junge auf dem Bild war niemand anderer als die Nummer drei der britischen Thronfolge, Prinz Harry Windsor.
Schon viele Tränen waren auf das Foto getropft und dort langsam getrocknet. Das dünne Papier der Zeitschrift, aus der es entnommen worden war, wellte sich bereits und es roch ein wenig salzig.
Mit traurigem Blick sah das Mädchen noch einmal an sich herunter, bevor sie das Bild wieder an der angestammten Position anbrachte, am oberen Eck des Spiegels. Jeden Tag lächelte er dort unermüdlich auf sie herab, wenn sie Stellung vor dem so wichtigem Glas bezogen hatte und sich musterte.
Doch sie wusste, was dieses bubenhafte, unbefangene Lächeln zu bedeuten hatte: Es ist noch nicht genug, DU bist nicht genug. Du bist nicht schön genug. Und deswegen versuchte sie verzweifelt, immer mehr abzunehmen. Irgendwann, es musste länger her gewesen sein, hatte ihr jemand gesagt, sie sei schön. Ein Lügner. Da war sie ja noch dreimal so dick gewesen.
Sie knipste die große Lampe aus und drehte die kleine am Bettpfosten auf, so dass das gelbliche Licht nur das Foto am Spiegel beleuchtete. Wie auf einer großen Bühne postiert beeinflusste es nun schon so lange ihr Leben.
„Es gibt Essen, Schatz!“, zerriss eine schrille Stimme die angenehme Stille. Unten in der Küche stand ihre Mutter, einen dampfenden Topf in jeder Hand, die fleckige Schürze lose um die Hüften gebunden.
„Ich habe keinen Hunger Mama!“, drang die Antwort zu ihr hinab, die gleiche Antwort seit einem halben Jahr.

 

Avia schrieb über ihre Geschichte:

hallo, die folgende geschichte ist die erste hier in diesem forum und es handelt von einem thema, das vorallem bei jugendlichen sehr aktuell ist... ich freue mich über positive und negative kritik und naja, lest sie euch einfach durch!
bitte solche Kommentare immer als Extra-posting setzen.

Herzlich willkommen. :)

 

oh, entschuldigung, das wusste ich nicht...
danke für den netten willkommensgruß, mir gefällt das forum sehr gut bis jetzt! naja, dann hoffe ich, dass noch einige die geschichte lesen werden!
lg avia

 

Hallo Avia,

nun zu Deiner Geschichte:

Es ist tatsächlich ein Thema, das vor allem Jugendliche, vor allem Mädchen betrifft. In Deinem Profil habe ich gesehen, dass Du selbst auch noch sehr jung bist. Dafür ist die Geschichte mE gut geworden!
Du greifst ein sehr wichtiges Thema auf, und beschreibst genau. Du greifst viel auf: Magersucht, unglückliche (weil totla unrealisitsche!) Liebe (aber vielleicht genau deswegen dieser Junge: eben weil er unerreichbar ist. Sie kann sich seine Reaktionen wunderbar so ausmalen, wie es ihr in ihr Selbstbild passt; bei "erreichbaren" Jungs (Klassenkamerade z.B.) hätte sie ja eine echte Reaktion und könnte sich nicht in ihren Gedanken verstecken ...), insgesamt Schönheitsideal. Und die Eltern, die irgendwie doch auf ihre Tochter reagieren sollten ...
Was ich gut finde: Du versuchst nicht, alle diese Themen zu erklären, sondern Du zeigst uns einen Ausschnitt aus diesem einen Moment. Mir hat das gereicht.
Stilisitsch verbesserungswürdig, aber halbwegs flüssig. Manche Deiner Sätze sind sehr lang, mit ewigen Einschüben, und werden dadurch unübersichtlich.
Ein paar Kleinigkeiten:

Inmitten des kleinen Raumes, mit eingezogenem Kopf, hängenden Schultern und krummen Rücken.
krummeM Rücken
Jäger gejagt
die Wiederholung könnte raus: Jäger gehetzt
Ein Mädchen, kaum älter als vierzehn oder fünfzehn, sah ihr aus matten, traurigen Augen, die schon lange keinen Glanz mehr in sich trugen entgegen.
Hier ist problematisch: wenn sie in den Spiegel schaut, in dem Moment, weiß sie wie alt sie ist.
traurigen Augen, die schon lange keinen Glanz mehr in sich trugen entgegen.
trugen, entgegen
. Der Blick war abgestumpft, meistens zum Boden gesenkt.
Auch hier: in dem Moment, wo sie sich betrachtet, ist er dem Spiegel zugewandt. Du schreibst hier aus einer anderen Perspektive, nicht aus ihrer Sicht, sondern aus der eines fernen Betrachters! Ich würde das ändern und es einheitlich machen.
Linker und Rechter Zeigefinger
rechter
als sie glaubte, das bisschen Fett an ihren Knochen zu entdecken.
DAS bisschen Fett? Wenn bestimmter Artikel, dann heißt das für mich: da ist tatsächlich was. Und warum GLAUBT sie dann nur? Wenn da was ist, dann wird sie es entdecken. Wenn da aber nichts ist, dann glaubt sie, EIN bisschen Fett zu erkennen ...
Wie aus einem Traum erwacht kam Bewegung in sie und ihre Finger glitten
erwacht, kam .... , und ihre Finger

schöne Grüße
Anne

 

danke für deine Antwort! Die meisten Fehler waren Flüchtigkeitsfehler, ich habe sie gleich ausgebessert, sehr nett von dir, dass du sie extra zitiert hast!

 

Wow, echt super gut beschrieben. An dieses Thema hab ich mich nie rangewagt, aber du hast es auf den Punkt richtig getroffen. Woher hast du diese Erfahrung? Ich hab mich nie getraut so eine geschichte zu schreiben, weil ich nicht wußte ob ichs jemals richtig beschreiben könnte. Echt super!

 

danke für dein lob :) ich persönlich war/bin zum glück nicht von esstörungen betroffen, aber da ich verwandte habe, die das alles schon einmal durchlebt haben und auch in der schule dieses thema durchgenommen wurde, habe ich halt diese geschichte geschrieben! es freut mich, dass sie dir gefällt! ich habe einfach versucht, mich in diese person hineinzuversetzen, die da so unglücklich mit ihrem köprer ist und anscheinend ist es mir gut gelungen!
lg

 

Hi Avia,

mindestens noch genau so wichtig wie der Spiegel, ist die Waage im Leben einer Magersüchtigen. Die Stimmung vor dem Spiegel hast du gut wiedergegeben.
In sofern hat mir der Text auch gut gefallen.

Lieben Gruß, sim

 

Hi Avia!

Kurz und knapp:
Gute Geschichte, gut beschrieben und auch sehr realistisch!

Gefällt mir!

MfG

 

Hi Avia,

die Geschichte gefällt mir wirklich gut...
Mach weiter so!

Schöne Grüße

Lie

 

Holla Avia!
Die Geschichte ist wirklich beeindruckend.
Du beschreibst mit sehr viel Gefühl und sehr genau. Das macht eine schöne Atmosphare, innerhalb des Textes. Du hast auch viele Bilder in den Text gebracht. So konnte ich mir alles bildlich vorstellen, den matt erleuchteten Raum, leer, bis auf den großen Spiegel ...
Hab ich sehr gerne gelesen.
Liebe Grüße Ise

 

Holla Avia,

mensch, hat mir gut gefallen. Wir alle wollen manchen Menschen gefallen... aber das eingie so weit gehen, das macht traurig.
Von Stimmung und Wortwahl eine schöne, kleine Geschichte.

Den Satz würd ich herausnehmen, weil dadurch das Geschehen das kleine Zimmerchen verlässt, in der die Protagonistin nur noch richtig zu leben scheint:

Unten in der Küche stand ihre Mutter, einen dampfenden Topf in jeder Hand, die fleckige Schürze lose um die Hüften gebunden.

Eike

 

hi
also ich finde die geschichte gut!
gg wir mussten davon eine Charakterisierung schreiben.

gruß marie

 

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