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Spiegelbilder
Spiegelbilder
Sie stand da. Inmitten des kleinen Raumes, mit eingezogenem Kopf, hängenden Schultern und krummem Rücken. Über ihr trommelte der Regen unermüdlich gegen das Dach und bildete seinen ganz eigenen Rhythmus, fern von jeder Art von Takt und Gleichklang. Das Prasseln wurde schneller, immer lauter. Es klang gehetzt, als würden die Pfoten eines Tieres, das von einem Jäger verfolgt wurde, auf den Boden klopfen.
Genauso fühlte sie sich. Gejagt. In die Enge getrieben. Sie versank vollkommen in der Atmosphäre des Moments, eingehüllt in das kalte, fahle Licht der simplen Lampe, die, vom Unwetter erzitternd, von der Decke baumelte. Sie schaffte es nicht, den Blick von ihrem Ebenbild loszureißen, das sich ihr, in ihren Augen provozierend, im mannshohen Spiegel zeigte.
Sie fröstelte. Eisige Luft drang durch die kleinen Ritze der Wand ins Zimmer und strich über ihre Beine und ihren Bauch, hinterließ ein eigenartiges Gefühl auf der Haut. Trotzdem blieb sie stehen, wo sie war. Mit nichts als einer Unterhose bekleidet, als wäre sie aus Wachs gegossen.
Mit grimmig verzerrtem Gesicht hob sie die linke Hand und fuhr sanft über ihre Rippen, die deutlich unter der Haut hervortraten. Immer wieder ließ sie ihre Hände darübergleiten, der Druck, der von ihren Fingern ausging, verstärkte sich, bis sich rote Streifen abzeichneten.
Sie trat näher zum Spiegel, bis ihre Nasenspitze fast das kalte Glas berührte und musterte kritisch, mit zusammengepressten Lippen ihr Gesicht. Ein junges Mädchen sah ihr aus matten, traurigen Augen, die schon lange keinen Glanz mehr in sich trugen, entgegen. Der Blick war abgestumpft, meistens zum Boden gesenkt. Die Wimpern, ihre schönen, langen, schwarzen Wimpern, waren weniger geworden und nicht mehr so voll wie früher. Nur die Augenbrauen waren schön gezupft, bildeten eine einheitliche Linie. Ein Anflug von einem Lächeln zeigte sich auf den blassen Lippen, das schon im nächsten Moment wie weggewischt war.
Die schlanken, langgliedrigen Finger fuhren zu einer kleinen Erhebung auf dem Kinn, die die wachsamen und ernsten Augen längst entdeckt hatten. Linker und rechter Zeigefinger pressten von beiden Seiten das Ungetüm zusammen, bis ein heller Punkt Eiter hervortrat, gefolgt von einer Spur hellroten Blutes.
Mit dem Handrücken wurde die verräterische Spur weggewischt, ein Stoßgebet gen Himmel gerichtet, dass der schreckliche Pickel am nächsten Morgen verschwunden sein möge.
Draußen wurde es dunkler und dunkler, der Mond tauchte das Zimmer in sein silbriges, geheimnisvolles Licht, ergoss sich über ihren langen, schwarzen Haaren, die in Strähnen herabhingen. Es schien merkwürdig zu schimmern, fast silbern glänzend.
Für einen kurzen Moment war sie gefangen von sich selbst, bis sich eine Wolke vor den Mond schob und die Atmosphäre zerstörte.
Die Hände glitten den Bauch entlang hinab zu ihren Hüften, kniffen prüfend ins Fleisch. Ein kleiner, unhörbarer Seufzer entfuhr ihr, als sie glaubte, ein bisschen Fett an ihren Knochen zu entdecken. Die fast enttäuschte Miene wich einer wutverzerrten, die in diesen Tagen zur Gewohnheit geworden war. Sie drehte sich halb um, um ihr Hinterteil mit gestrengem Blick zu mustern. Es hatte keinen Sinn. Immer noch war er zu dick. Die Hüftknochen, die an der Seite hervortraten, übersah sie.
Mit ihren Beinen war sie halbwegs zufrieden. Sie waren zwar krumm aber dafür dünn. Wieder stand sie für einige Momente regungslos und nachdenklich da, bis sie ein eisiger Hauch in die Wirklichkeit zurückholte, der sie erschauern ließ.
Wie aus einem Traum erwacht, kam Bewegung in sie und ihre Finger glitten zum rechten oberen Eck des Spiegels, wo zwischen Rahmen und Glas ein Foto steckte. Behutsam, als wäre es der größte Schatz auf Erden, nahm sie es, zog es langsam zu sich heran. Es verströmte einen eigenartigen Geruch, war bereits abgegriffen, tausende Male schon nachdenklich oder sorgenvoll betrachtet worden.
Das Bild zeigte einen lachenden Jungen mit kurzen, roten Haaren und ein paar frechen Sommersprossen auf der Nase. Die Wangen waren gerötet, als würde er sich gerade des schönen Tages erfreuen und die weißen, makellosen Zähne blitzten der Kamera schelmisch entgegen. Der Junge auf dem Bild war niemand anderer als die Nummer drei der britischen Thronfolge, Prinz Harry Windsor.
Schon viele Tränen waren auf das Foto getropft und dort langsam getrocknet. Das dünne Papier der Zeitschrift, aus der es entnommen worden war, wellte sich bereits und es roch ein wenig salzig.
Mit traurigem Blick sah das Mädchen noch einmal an sich herunter, bevor sie das Bild wieder an der angestammten Position anbrachte, am oberen Eck des Spiegels. Jeden Tag lächelte er dort unermüdlich auf sie herab, wenn sie Stellung vor dem so wichtigem Glas bezogen hatte und sich musterte.
Doch sie wusste, was dieses bubenhafte, unbefangene Lächeln zu bedeuten hatte: Es ist noch nicht genug, DU bist nicht genug. Du bist nicht schön genug. Und deswegen versuchte sie verzweifelt, immer mehr abzunehmen. Irgendwann, es musste länger her gewesen sein, hatte ihr jemand gesagt, sie sei schön. Ein Lügner. Da war sie ja noch dreimal so dick gewesen.
Sie knipste die große Lampe aus und drehte die kleine am Bettpfosten auf, so dass das gelbliche Licht nur das Foto am Spiegel beleuchtete. Wie auf einer großen Bühne postiert beeinflusste es nun schon so lange ihr Leben.
„Es gibt Essen, Schatz!“, zerriss eine schrille Stimme die angenehme Stille. Unten in der Küche stand ihre Mutter, einen dampfenden Topf in jeder Hand, die fleckige Schürze lose um die Hüften gebunden.
„Ich habe keinen Hunger Mama!“, drang die Antwort zu ihr hinab, die gleiche Antwort seit einem halben Jahr.