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Spiegelsprache
Nur im Spiegel konnte der Junge sehen. Dort zeigten sich Welten, die dahinter führten. In andere Räume, andere Zeiten. Hier wurde das Grau zu Farben, die Töne melodisch, die Gedanken zum Sinn. Ein Gefühl wärmte innerlich und nährte die Vision von der Einheit des Seins.
Wenn er zu lange in den Spiegel schaute, hörte er Menschen sagen: „Warum schaust du nur immerzu in den Spiegel? Du siehst dort immerzu nur dich!“
Das klang wie eine Aufforderung, die Bilder aus dem Bewusstsein zu verbannen.
„Lebe in der realen Welt!“
„Komm auf den Boden der Tatsachen zurück!“
„Nimm dir nicht immer alles so zu Herzen!“
„Träume sind Schäume!“
„Müßiggang ist aller Laster Anfang!“
Mit jedem dieser Sätze sehnte er sich mehr nach dahin, was er „hinter dem Horizont“ nannte: Eine Welt, in der keine Grenzen trennten, in der sich alles Sein im Fluss befindet: Strände mit lagunenblauem Wasser, das wellend die nackten Füße umspült. Der orangefarbene Himmelsball küsst das Nass, eint sich, verschmilzt zum wir. Würziger Wind trägt melodisch kühles Wellenwasser in den Sinn.
Hier lebte er gerne. Hier war die Welt so, wie sie wirklich wunderschön war. Wohlig schüttelte er sich, kribbelnd durchfloss das Gefühl seinen Körper.
„Du lebst in einer Trauwelt!“
„Was willst du später einmal machen?“
Eines Tages begegnete er einem interessanten Mann.
War er ein Mann? Er war erwachsen, aber nicht wirklich.
Er hatte besondere Augen. Sie funkelten.
Er hatte eine klangvolle Stimme. Irgendwie kindlich.
Seine kleinen Finger flatterten in der Luft, wenn er sprach.
Und er lächelte viel. Nicht dieses gefrorene, starre, sondern natürlich.
Wir gingen nach draußen, in die Natur. Wanderten entlang der Pfade, die sich neben dem Fluss schlängelten. Dort spielte das Wasser im Bett, wie träumend.
„Schreibt doch mal eine Kontemplation des Frühlings!“, meinte der Mann.
Der Junge schrieb. Schrieb, was er wahrnahm, wie er es wahrnahm. Wie es wirklich für ihn war.
Er kannte keine Grenzen. Vielmehr war das, was gemeinhin als Grenze gilt, eine Schwelle für ihn. Und überall in der Welt waren diese Schwellen. Auch der Horizont war eine solche. Auch die Buchten und das Meer diese Verbindung.
Und der Spiegel.
Als er sich die Zeilen durchlas, sah er plötzlich diesen Spiegel auf dem Blatt. Die Worte waren Spiegel dessen, was er fühlte: Die Verbindung zwischen Außen und Innen, diese Schwelle der Wahrnehmung.
Sodann leuchtete eine Sonne in den Geist. Die Worte zerflossen auf dem Blatt, wurden zu Bildern, zu Sinnbildern, zu einer Sprache, die verbindet.
Wenn Bilder zu Worten, Worte zu Gefühlen, Gefühle zu Bewegung, Bewegung zu Melodien, Melodien zu Tönen, Töne zu Rhythmus, Rhytmus zu Tönen, Töne zu Melodien, Melodien zu Bewegung, Bewegung zu Gefühl, Gefühl zu Wort und Wort zu Bild wird, dann... - in einer solchen Schnelle flossen die Gedanken durch seinen Kopf, dass ihm schwindelig wurde.
Wo sind denn die Bojen im Meer dieser Welten?
Wo kann Halt gefunden werden?
Und es schauderte ihn!
War er verdammt dazu, auf diesem Meer ewig zu treiben?
Nimmer mehr das Land zu finden?
Hinter dem Horizont war auf einmal ein Ort, der fernab festen Landes lag.
Der Mann bemerkte dies.
Er sprach von Hölderlin: „In den Armen der Götter wurde ich groß.“
Von „geschäftigen Menschen“ und „einsamen Wanderern“.
Von in der Ferne liegenden Städten.
Er sagte dem Jungen: „Suche dir einen Baum. Deinen Baum. Deinen Lieblingsbaum.“
Und der Junge suchte und fand ihn. Und er fragte sich: „Was ist ein Baum?“
Diese Frage gab ihm Ruhe. Er fand viele Antworten, die unterschiedlich schienen, sich aber im Grunde vereinten: in diesem Baum.
Der Baum ist verwurzelt und zum Himmel hoch gerichtet. Wasser fließt durch seinen Körper; es ist überall zugleich.
Ein Lächeln legte sich auf das Gesicht des Jungen.
Er fragte andere Menschen, was sie in einem Baum sehen?
Viele Gesichter blieben fragend. Als wenn jemand behaupten würde, die Sonne sei nicht nur Sonne. So meinten sie, ein Baum ist Baum.
Da wurde der Junge traurig.
Er ging in den Wald und sah dort all die Bäume, die alle schön und einzigartig waren. Ein jeder Baum hatte einen eigenen Charakter. Und in ihrer Gesamtheit erinnerten sie den Jungen an seinen Baum, der für ihn der formenreichste aller Bäume war. In ihm, so sann er, waren alle Bäume dieser Welt vereint.
Und er schrieb ein Gedicht.
Und er las dieses Gedicht vor.
Und er schaute in die Gesichter derer, die zuhörten und jener, die regungslos blieben.
Und als er das letzte Wort gesprochen hatte, war dies zugleich ein Anfang.
Und der Junge entdeckte, dass Gedichte ein Spiegel sind.
Nicht nur die Worte spiegeln den Jungen, sondern die Reaktionen auf die Worte spiegeln die anderen.
Und er sah die Gesichter, die lächelten.
Und er atmete tief durch.
Und der Mann, der ihm geholfen hatte, schmunzelte.
Der Junge schrieb fortan viele Gedichte. Und mit jedem Wort, mit jeder Zeile, mit jeder Strophe und jedem Gedicht sammelte er die Bilder, die Melodien und Gefühle seines Spiegels.
Der Spiegel wurde nun auch für andere sichtbar: All die Welten und Zeiten zeigten sich nun auf den Blättern.
Der Junge war froh. Er liebte es zu schreiben.
Und mit der Zeit konnte er nicht mehr nur im Spiegel die Welt sehen, sondern die Welt als Spiegel.
Da war der Mann froh: und er lächelte und sagte: „Nun kennst du das Geheimnis der Sprache.“