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Spiegelsprache

jbk

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17.06.2003
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Spiegelsprache

Nur im Spiegel konnte der Junge sehen. Dort zeigten sich Welten, die dahinter führten. In andere Räume, andere Zeiten. Hier wurde das Grau zu Farben, die Töne melodisch, die Gedanken zum Sinn. Ein Gefühl wärmte innerlich und nährte die Vision von der Einheit des Seins.
Wenn er zu lange in den Spiegel schaute, hörte er Menschen sagen: „Warum schaust du nur immerzu in den Spiegel? Du siehst dort immerzu nur dich!“
Das klang wie eine Aufforderung, die Bilder aus dem Bewusstsein zu verbannen.
„Lebe in der realen Welt!“
„Komm auf den Boden der Tatsachen zurück!“
„Nimm dir nicht immer alles so zu Herzen!“
„Träume sind Schäume!“
„Müßiggang ist aller Laster Anfang!“
Mit jedem dieser Sätze sehnte er sich mehr nach dahin, was er „hinter dem Horizont“ nannte: Eine Welt, in der keine Grenzen trennten, in der sich alles Sein im Fluss befindet: Strände mit lagunenblauem Wasser, das wellend die nackten Füße umspült. Der orangefarbene Himmelsball küsst das Nass, eint sich, verschmilzt zum wir. Würziger Wind trägt melodisch kühles Wellenwasser in den Sinn.
Hier lebte er gerne. Hier war die Welt so, wie sie wirklich wunderschön war. Wohlig schüttelte er sich, kribbelnd durchfloss das Gefühl seinen Körper.
„Du lebst in einer Trauwelt!“
„Was willst du später einmal machen?“

Eines Tages begegnete er einem interessanten Mann.
War er ein Mann? Er war erwachsen, aber nicht wirklich.
Er hatte besondere Augen. Sie funkelten.
Er hatte eine klangvolle Stimme. Irgendwie kindlich.
Seine kleinen Finger flatterten in der Luft, wenn er sprach.
Und er lächelte viel. Nicht dieses gefrorene, starre, sondern natürlich.
Wir gingen nach draußen, in die Natur. Wanderten entlang der Pfade, die sich neben dem Fluss schlängelten. Dort spielte das Wasser im Bett, wie träumend.
„Schreibt doch mal eine Kontemplation des Frühlings!“, meinte der Mann.

Der Junge schrieb. Schrieb, was er wahrnahm, wie er es wahrnahm. Wie es wirklich für ihn war.
Er kannte keine Grenzen. Vielmehr war das, was gemeinhin als Grenze gilt, eine Schwelle für ihn. Und überall in der Welt waren diese Schwellen. Auch der Horizont war eine solche. Auch die Buchten und das Meer diese Verbindung.
Und der Spiegel.
Als er sich die Zeilen durchlas, sah er plötzlich diesen Spiegel auf dem Blatt. Die Worte waren Spiegel dessen, was er fühlte: Die Verbindung zwischen Außen und Innen, diese Schwelle der Wahrnehmung.
Sodann leuchtete eine Sonne in den Geist. Die Worte zerflossen auf dem Blatt, wurden zu Bildern, zu Sinnbildern, zu einer Sprache, die verbindet.
Wenn Bilder zu Worten, Worte zu Gefühlen, Gefühle zu Bewegung, Bewegung zu Melodien, Melodien zu Tönen, Töne zu Rhythmus, Rhytmus zu Tönen, Töne zu Melodien, Melodien zu Bewegung, Bewegung zu Gefühl, Gefühl zu Wort und Wort zu Bild wird, dann... - in einer solchen Schnelle flossen die Gedanken durch seinen Kopf, dass ihm schwindelig wurde.
Wo sind denn die Bojen im Meer dieser Welten?
Wo kann Halt gefunden werden?
Und es schauderte ihn!
War er verdammt dazu, auf diesem Meer ewig zu treiben?
Nimmer mehr das Land zu finden?
Hinter dem Horizont war auf einmal ein Ort, der fernab festen Landes lag.

Der Mann bemerkte dies.
Er sprach von Hölderlin: „In den Armen der Götter wurde ich groß.“
Von „geschäftigen Menschen“ und „einsamen Wanderern“.
Von in der Ferne liegenden Städten.
Er sagte dem Jungen: „Suche dir einen Baum. Deinen Baum. Deinen Lieblingsbaum.“
Und der Junge suchte und fand ihn. Und er fragte sich: „Was ist ein Baum?“
Diese Frage gab ihm Ruhe. Er fand viele Antworten, die unterschiedlich schienen, sich aber im Grunde vereinten: in diesem Baum.
Der Baum ist verwurzelt und zum Himmel hoch gerichtet. Wasser fließt durch seinen Körper; es ist überall zugleich.
Ein Lächeln legte sich auf das Gesicht des Jungen.
Er fragte andere Menschen, was sie in einem Baum sehen?
Viele Gesichter blieben fragend. Als wenn jemand behaupten würde, die Sonne sei nicht nur Sonne. So meinten sie, ein Baum ist Baum.
Da wurde der Junge traurig.
Er ging in den Wald und sah dort all die Bäume, die alle schön und einzigartig waren. Ein jeder Baum hatte einen eigenen Charakter. Und in ihrer Gesamtheit erinnerten sie den Jungen an seinen Baum, der für ihn der formenreichste aller Bäume war. In ihm, so sann er, waren alle Bäume dieser Welt vereint.
Und er schrieb ein Gedicht.
Und er las dieses Gedicht vor.
Und er schaute in die Gesichter derer, die zuhörten und jener, die regungslos blieben.
Und als er das letzte Wort gesprochen hatte, war dies zugleich ein Anfang.
Und der Junge entdeckte, dass Gedichte ein Spiegel sind.
Nicht nur die Worte spiegeln den Jungen, sondern die Reaktionen auf die Worte spiegeln die anderen.
Und er sah die Gesichter, die lächelten.
Und er atmete tief durch.
Und der Mann, der ihm geholfen hatte, schmunzelte.

Der Junge schrieb fortan viele Gedichte. Und mit jedem Wort, mit jeder Zeile, mit jeder Strophe und jedem Gedicht sammelte er die Bilder, die Melodien und Gefühle seines Spiegels.
Der Spiegel wurde nun auch für andere sichtbar: All die Welten und Zeiten zeigten sich nun auf den Blättern.
Der Junge war froh. Er liebte es zu schreiben.
Und mit der Zeit konnte er nicht mehr nur im Spiegel die Welt sehen, sondern die Welt als Spiegel.
Da war der Mann froh: und er lächelte und sagte: „Nun kennst du das Geheimnis der Sprache.“

 
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Hallo jbk,

Eine vortreffliche Geschichte. Bin gespannt auf die Reaktionen anderer, und will erst einmal nicht viel dazu sagen. Das Herz und die Seele eines Dichters gleicht einem Spiegel. Von außen wirkt er glatt, freudlos, still und klar, seine Umwelt nur reflektierend. Innen aber tobt die Mannigfaltigkeit des Seins. Ein Dichter muss also mit dem ihn zur Seite stehenden, einfachen Werkzeugen - die Sprache mit ihren Wörtern und Zeichen ist ein solches - versuchen, den Spiegel, das bloße Reflektierende, zu überwinden, und seiner wahren Seele und Natur Ausdruck verleihen, um mitreißende Gedichte zu schreiben. Die Musik hört man, die Malerei sieht man, die Dichtkunst (=Spiegelsprache) jedoch nimmt man mit der ganzen Seele wahr. Aus diesem Grund muss sie auch einem reinen, tiefen Geist entspringen, um Empfindungen beim Zuhörer auszulösen.

Er sprach von Hölderlin: „In den Armen der Götter wurde ich groß.“
Dazu fällt mir glatt dieses ein: "Es mag wohl wahr seyn, daß eine besondere Gestirnung dazu gehört, wenn ein Dichter zur Welt kommen soll; denn es ist gewiß eine recht wunderbare Sache mit dieser Kunst" Novalis, Heinrich von Ofterdingen ;)

Was hat dich dazu angetrieben, diese Geschichte zu schreiben?

Kleinigkeit:

„Du lebst in einer Traumwelt!“

Liebe Grüße,
moonaY

 

Hi jbk zum Dritten ;),

diese Geschichte gefallt mir, ihre Worte verbinden sich zu einem Bild, in dem man verschiedene Figuren erkennen kann. Sie ist zu entdecken, ein bisschen traumhaft und von Wünschen geprägt. Eher ein Aquarell als eine Geschichte.

Einige Details:

Wir gingen nach draußen, in die Natur. Wanderten entlang der Pfade, die sich neben dem Fluss schlängelten. Dort spielte das Wasser im Bett, wie träumend.
Ich habe leider nicht ganz verstanden, ob du hier mit Bedacht in ein "Wir" verfällst.
Bewegung zu Meldien,
ein o
in einer solchen Schnelle flossen die Gedanken durch seinen Kopf, dass im schwindelig wurde.
und ein h ;)

Lieben Gruß, sim

 

@moonaY:
Es ist faszinierend, wie deine Antwort mir eine neue Perspektive auf die Geschichte gegeben hat. Sie klingt auch wie ein Gedicht, sehr bildlich und klar im gedanklichen Zugriff. Hat mich sehr gefreut, sie zu lesen.
Das Zitat regt zum Nachdenken (und auch etwas zum Schmunzeln) an.
Du fragst, wie die Geschichte entstanden ist: Unterm Vollmond am nächtlichen Schreibtisch hatte ich das Gefühl, einem Mann, der mir sehr geholfen hat, einen "literarischen Dank" zu schreiben - mittlerweile ist die Geschichte in der Anthologie "Tastengeflüster" veröffentlicht worden und ein Exemplar ist heute per Post auf den Weg gesandt worden... :)

@Sim:
Konditionell auf voller Höhe ;)
Ein Aquarell: schöööne Metapher!
Habe mir in einem Gedicht mal gewünscht, dass die Worte auf dem Papier zerfließen und zu einem Bild beitragen, das in mir wohnt - und jetzt das: ist ja wie Weihnachten :D

Ohoho, hab ich doch glatt die Version gepostet, wo der FREUDsche Wortdreher noch drin ist - aber egal: so wird die Intention und der Beweggrund des Schreibens deutlich *hihi*

LG
Jan

 

Die meisten meiner Überlegungen und Deutungen entstammen den Büchern aus der Epoche der Romantik, die ich regelrecht verschlinge. :)

Ein introvertierter Jüngling, der Anlagen zum Dichter hat, und versucht, auf seinen Reisen das Hintergründige der Welt zu erfahren, ist auch die Hauptperson in der Erzählung Heinrich von Ofterdingen, die von Novalis (Friedrich von Hardenberg) geschrieben und 1802 posthum veröffentlicht wurde, und die als größtes literarisches Erbe der dt. Romantik zählt. Ich kann dieses Buch nur jedem empfehlen, der eine blumige und bildvolle Sprache zu schätzen weiß.

Deine Geschichte ist ebenfalls eine Empfehlung wert.

Übrigens schreibe ich auch gerne bei Vollmond (s.h. Nickname). ;)

Liebe Grüße,
moonaY

 

Hihi moonaY,

mit Heinrich bin ich schon oft durch die Höhle und hin zur blauen Blume gewandert, weil er ja irgendwie den Dichtern aus der Seele spricht, mit seiner Sehnsucht, mit seinen Träumen und seiner romantischen Ader. Glaube sogar, dass ich mein erstes Gedicht geschrieben habe, als wir ihn in der Mittelstufe am Gymi durchgenommen haben. Also sind viele schöne Erinnerungen mit ihm verknüpft, auch so mancher "süße Schmerz" einer zerflossenen Liebe...
Finde sowieso, dass die Romantik mit ihrer - wie du sagst - bildvollen Sprache und dem sehnsuchtsvollen Gefühl dahinter all die Dichter anspricht, die bildliche Wahrnehmung und auch Metaphern lieben; so gehts mir jedenfalls.
Der Vergleich, den du mit deiner Profilierung evozierst, schmeichelt mir natürlich genauso wie deine Empfehlung, was ein bissl zu meinen erröteten Wangen beiträgt (oder sinds die winterlichen Winde?).
Egal, bedanke mich herzlich für die Blumen und wünsche dir ein schönes Fest und nen guten Rutsch! :)

Liebe Grüße
Jan

 

Hallo jbk,

deine Geschichte hat mir sehr gefallen.
Ich selbst kann keine "Bilder" schreiben, aber ich lese sie sehr gerne - und deine Geschichte war ein solches Bild. Eine Geschichte, die viel mehr über das Schreiben aussagt, als ich es in einem 20-seitigen Aufsatz je ausdrücken könnte.
Ich wollte dir für diese Geschichte auch eine Empfehlung - meine erste übrigens - aussprechen, aber da ist mir ja MonnaY schon zuvor gekommen! Schade. :)

Ich habe mir die Geschichte ausgedruckt und in meinem Ordner für besonders schöne Geschichten abgeheftet.

Frohe Weihnachten und LG

Bella

 

Hallo Bella,

Bitte schreibe du die Empfehlung. Ich bin im Moment leider sehr beschäftigt, und über die Feiertage selten am PC.
Was für Geschichten hast du sonst noch in deinem Ordner, Bella? Ich hoffe demnächst kannst du auch eine von mir mit abheften. :D

Liebe Grüße,
moonaY

 

Hi Bella,

da fühle ich mich geschmeichelt*rotwerd*
Vielen Dank für deine lieben Worte und die Ehre, in einem Ordner für Lieblingsgeschichten zu sein :)
Und für die Empfehlung.
Und, ach *knuddel*

Liebe Grüße
Jan

 

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