Spontane Heilung
Unwillkürlich wippte ihr Fuß mit. Nora mochte die irischen Weisen, die die Gruppe spielte. Während sie zuhörte, tauchten Bilder in ihrem Kopf auf von kleinen Steinmauern und windigen Höhen, von steil abfallenden Klippen und steinigen Stränden, von pfeifendem Wind und Meeresrauschen: Erinnerung an einen Urlaub aus einer Zeit, als ihr Leben noch in Ordnung war. Dies war Musik, wie Nora sie mochte. Ja, sie war froh, hier zu sein.
Dabei hatte sie sich zunächst gesträubt, als Beate, ihre Schwester, ihr die Matinee im Studentenwohnheim vorgeschlagen hatte. "Sonntags morgens? Aber die Kinder!"
"Die können mitkommen. Wolfgang und ich nehmen unsere auch mit."
Nora schaute hinüber zu Kai und Mona, Beates Kindern, und ein Stich ging ihr kurz durch die Brust. Ihre eigenen Kinder waren heute bei deren Vater, es war sein Wochenende. Sie hatte also keine Ausrede gehabt, nicht mitzukommen.
Nora hatte also wieder einen Schritt gewagt auf dem Weg in ihr neues Leben, schmerzhaft bewusst, wieviel Zeit vergangen war seit ihrem persönlichen "schwarzen Freitag". Das war der Tag gewesen, an dem Manfred ihr eröffnet hatte, dass er unglücklich sei und nicht mehr mit ihr leben wolle. Auf einmal war ihr Leben in sich zusammengefallen, für sie aus heiterem Himmel. Ihre Zukunftspläne und ihr Status als zufriedene, verheiratete Frau hatten sich in Luft aufgelöst. Eine Wunde war aufgerissen, tief und bedrohlich. Sie war benommen gewesen, betäubt, und hatte eine Mauer um sich gezogen gegen ihre Gefühle. Aus Angst, überrannt zu werden von Schmerz und Zukunftsangst, hatte sie alles Lebendige in sich eingesperrt. Jeden Tag hatte sie mühsam abgeleistet, gewissenhaft, mit Disziplin; schließlich war sie Mutter, und die Kinder hatten ihre eigenen Probleme, mit der neuen Situation fertigzuwerden.
Nach den ersten Monaten hatte sie Stein für Stein die Mauer geöffnet, sich Gefühlen gestellt und Anzeichen gedeutet. Allmählich war ihr klargeworden, dass die Trennung eine lange Vorgeschichte gehabt hatte, mit Hinweisen, die sie nicht hatte lesen wollen, und auch Manfreds berufliche Probleme und die andere Frau, von denen sie erst später erfuhr, konnten sie nicht mehr überraschen. Und etwas anderes hatte sie entdeckt, dass sie sich früher nie eingestanden hätte: Ihr eigenes Unglücklichsein, ihre innere Leere, die von Tag zu Tag gewachsen war und doch nicht ihr Bewusstsein erreicht hatte.
Sie hatte begonnen, sich wieder ein Leben einzurichten, hatte Freundinnen besucht, war im Kino und im Theater gewesen, und heute war sie also bei dieser Matinee. Jetzt stand sie hier, nach einem gemeinsamen Frühstück mit den anderen im Halbkreis um die Bühne herum und genoss die Musik. Nora bemerkte, dass die Leute neben ihr sich einen Zettel zusteckten und weiterreichten. "Wie in der Schule damals!", dachte sie, grinste und gab das Briefchen weiter. Auf der anderen Seite des Halbkreises begann ein Mann zu gestikulieren, deutete auf die Frau, die neben Nora den Zettel hielt und zeigte dann auf Nora. Verwundert nahm Nora das Papier zurück und las: " Hallo, ich würde dich gern kennen lernen. Hast du gleich noch Zeit? Johannes"
Nora war baff. Dass er sie duzte, lag wohl an der studentischen Umgebung. Aber dass ein Mann Interesse an ihr hatte und es so deutlich zeigte, damit hatte sie nicht gerechnet.
Etwas schüchtern sah sie zu dem Mann hinüber. Er war eher unauffällig: mittelgroß, weder dick noch dünn, hatte dunkle Haare, Brille, Jeans und Sweat-Shirt. "Ganz nett", dachte Nora und bemerkte erst jetzt, dass ihre Blicke sich kreuzten. "Ich Dumme, der erwartet ja eine Antwort!" dachte sie und wurde rot. Sie war mit Beate und ihrem Mann hier, doch konnte sie auf die Schnelle keinen von beiden entdecken. Sie mußte jetzt eine Entscheidung treffen, ein Zeichen geben. Noch einmal sah sie zu dem Mann hinüber, dessen Blick noch immer auf ihr ruhte; dann nickte sie ihm zu.
Als sie nach dem Konzert mit ihm in einer Kneipe saß, war sie ziemlich nervös. Es war so lange her, dass sie sich mit einem netten, attraktiven Mann allein unterhalten hatte. Sie wusste gar nicht mehr, wie man das machte. Worüber sollten sie reden? War er auf einen One-Night-Stand aus? Und sie? Und was war mit Aids? Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. War sie so ausgehungert, dass sie sofort Sex im Kopf hatte? Und was dachte sie sich überhaupt? Er hatte Interesse bekundet, aber vielleicht würde das leise Knistern zwischen ihnen sofort verschwinden, wenn sie ein paar Worte gewechselt hätten. Er schien genauso verlegen zu sein.
Sie atmete tief durch, zeigte auf das Buch, das aus seiner Jackentasche hervorlugte und meinte: "Interessantes Buch?" Er lächelte schüchtern und meinte: "Teilweise. Es sind Biografien von Ärzten. Ich lese gerade über einen Nobelpreisträger, Wagner von Jauregg."
"Bei Wagner fällt mir höchstens Pizza ein oder Götterdämmerung." Nora stutzte. " Sag mal, bist du etwa Mediziner? Mit denen habe ich nämlich schon während des Studiums schlechte Erfahrungen gemacht. Der eine hatte gerade seinen Präpkurs und hat mir in der Mensa immer erzählt, in welcher Reihenfolge er welche Gewebe seziert hat. Und der andere hielt dauernd Vorträge über Restriktionsendonukleaseverdau und Methyl-CpG-Bindeproteine und solche Sachen und fiel aus allen Wolken, als ich Bodycheck für eine Generaluntersuchung gehalten habe. Wie konnte ich denn ahnen, dass er plötzlich das Thema gewechselt hatte und über Eishockey sprach?"
"Jaja, es gibt schon seltsame Mediziner!" Johannes lächelte sie versöhnlich an. "Einige sind aber auch ganz nett. Und dafür, dass du dich so ereiferst, hast du die Ausdrücke aber recht flüssig drauf..."
"Naja, irgendwas bleibt immer hängen. - Und er hatte so schöne Augen, da strengt man sich schon mal an." Nora biss sich auf die Lippe. Wenn sie Johannes los sein wollte, brauchte sie nur weiter von anderen Männern zu erzählen. "Mein Gott, ich vermassel es", dachte sie. "Und du, was bist du für einer?" fragte sie ihr Gegenüber. "Mediziner, meine ich."
"Ich bin in ´ner Praxis für Allgemeinmedizin."
"Aha. Das sind doch die mit viel Profit und wenig Zeit!" entfuhr es ihr, und gleich darauf bereute sie den Ausspruch.
"Wir sind inzwischen zu dritt in der Praxis. Das bedeutet wenig Kohle, aber einen harterkämpften freien Tag." Johannes´ Lächeln wurde etwas traurig. "Allerdings kam diese Lösung für meine Ehe zu spät. Ich bin geschieden."
Nora sah in seine Augen, groß und grün und wunderschön! Der Schmerz, den sie da entdeckte, war ihr eigener. Sie hatte eine Ahnung, warum er gerade ihr den Brief gegeben hatte. Er musste es gespürt haben, ihren Schmerz, ihre behutsame Rückkehr ins Leben. Vielleicht auch ihre Kraft, die sich langsam regenerierte und ihre Lebenslust, zurückgekehrt, noch vorsichtig lauernd.
Das Eis war gebrochen. Sie sprachen von ihren Partnerschaften, den Trennungen, den Kindern. Tief in ihr schritt die Heilung voran, genährt von den Worten, der Offenheit, dem Verständnis. Immer wieder blickte Nora Johannes ins Gesicht, so hübsch, so aufregend, so vertraut! Dass er vor Stunden noch ein Fremder gewesen war!
Bald war es Zeit, ihre Kinder heimzuholen, Zeit für den Abschied.
"Sehen wir uns wieder?" fragte Johannes zögernd. "Mein freier Tag ist übermorgen."
"Wirklich gern!" Nora lachte.
Im Hintergrund lief irische Musik, Klänge wie Wind und Meeresrauschen, und unwillkürlich wippte ihr Fuß mit.