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Sprengringe
Das Gerüst quietscht und beginnt zu schaukeln. Ulf wird munter und berührt mit den Händen die Decke, um Halt zu finden. Er liegt oben im Bettenturm aus Eisen und unter ihm schlafen zwei Männer. Der Turm schwankt, weil einer der beiden hustet und seinen Körper im Schlaf wälzt.
Hätte er ein anderes nehmen sollen, überlegt Ulf und überdenkt kurz die gestrige Bettenwahl. Die war richtig, entscheidet er, die freistehenden wackeln bedenklicher und das Eckbett bietet ein wenig Geborgenheit; links und am Kopfende Wände, dazu das nahe Fenster; rechts ein freier Gang und die gestreckten Zehen berühren die hölzernen Spinde.
Ulf öffnet die Augen, und durch die dickwandigen Glasbausteine schimmert das fahle Licht des Mondes. Er überlegt, wie spät es ist? Kurz vor 5.00 Uhr? Dann würde in zehn Minuten die Wecksirene heulen. Soll er in den Waschraum schleichen? Dem dichten Knäuel aus achtzehn schnaufenden Männern zuvor kommen? Oder ist es erst 2.00 Uhr oder 3.00 Uhr?
Draußen in der Stadt bellt ein Hund. So kalt und monoton, dass Ulf die Beine anzieht und das Kissen auf die Ohren presst. Er hat kein Zeitgefühl und seine Uhr ist in Bulgarien geblieben. Am ersten Tag Knast in Sofia abgegeben, am letzten Tag nicht zurückbekommen. Diskutieren zwecklos - das Flugzeug nach Berlin wartet nicht! So einfach war das. Vieles hätten sie stehlen können! Das Geld, die Levis - Jeans, den Fotoapparat, ........nackt wäre er in die DDR zurückgeflogen, wenn am Arm das silberne Band geblitzt hätte. Seine geliebte Uhr! Fabrikat Glashütte und Dreihundertfünfzig Mark teuer. Unter dem Weihnachtsbaum hatte sie gelegen. 1972. Er vermisst ihr leises und sanftes Ticken. Ulf wird schläfrig und träumt vom Personal des Sofiaer Gefängnisses. Es marschiert an ihm vorbei und auf Augenhöhe müssen die Wachmänner zum Beweis ihrer Unschuld die entblößten Arme nach vorn strecken.
„Ulf! Ulf!!!“ Eine Hand rüttelt seine Schulter. „Mensch Ulf, aufstehen. Rabotiraboti. Heute wird es ernst. Wir müssen frühstücken, bevor der Sklavendienst beginnt.“, sagt Bernd und lacht. Er kehrt Ulf den Rücken und zu beginnt den karierten Bettbezug glatt zu streichen.
Ulf kennt Bernd seit sieben Tagen. An den ersten zwei Tagen saßen sie einander gegenüber im „Otto–Grotewohl– Express“. So nannten die Gefangenen den Zug, der Verurteilte in die DDR – Gefängnisse fuhr. Vor Ulf saß ein Mensch, der ihm sympathisch war. Sein Lächeln, die wachen Augen und die ineinander gelegten Hände Er spürte, dass dieser Mann sein Schicksal teilte. Er wünschte mit ihm zu reden, aber es herrschte Sprechverbot im Zug, der scheinbar planlos fuhr und oft auf Nebengleisen stand und durch einen schmalen Spalt sah Ulf die vorbei ratternden Personen- und Güterzüge, die Vorfahrt hatten.
Nach zwei Tagen Fahrt mussten die Gefangenen aus dem Zug steigen. Sie machten Zwischenstation in Halle; dort wo er vor zwei Tagen in den Zug gestiegen war! Ulf war fassungslos. Der Zug hielt auf einem Abstellgleis und auf der Erde lag frisch gefallener Schnee und ihre Schritte verwandelten ihn in schwarze, nasse Flecken. Der Mann, der vor ihm ging, hatte Sandalen an. Ein kastenförmiger Lastwagen fuhr sie in ein Gefängnis und Bernd und Ulf redeten in der Zelle bis zum Morgen. Bernd kam aus Berlin und wurde zu zweiundzwanzig Monate Haft verurteilt. Er war an der deutschen - tschechischen Grenze bei seiner Flucht gescheitert.
„Ulf, ich muss raus aus der Zone,“ sagte er, „diese gesiebte Luft vertrage ich nicht. Ich brauche eine Kur auf Lebenszeit an Spaniens Küsten. Nun muss ich vielleicht noch etwas warten, aber die paar Monate Haft gehen schnell vorbei. Ich habe ja dich. Und weißt du was? Du kommst mit. In Spanien legen wir uns nachts unter die Sterne. Ja, wir liegen auf dem weißen Strand und lauschen den Wellen“
Er lachte und sprach weiter. „Komisch, ich war noch nie am Meer. Aber ich weiß wie schön es ist.“
Ulf bewunderte Bernd. Nach Spanien? Mit mir? Er kennt mich doch kaum und Bernd war erst neunzehn Jahre alt.
Am Morgen fuhr der Zug nur kurz bis Naumburg. Der Schnee war geschmolzen. Ulf musste lächeln und dachte: das war der größte Umweg in meinem Leben. Zwei Tage Zugfahrt für fünfunddreißig Kilometer. Es war die Zeit der Umwege. Seine Flucht war im Frühsommer an der bulgarischen – türkischen Grenze missglückt. Mindestens ein Jahr würde es dauern, hatte sein Anwalt gesagt, bis er ausreisen dürfe. Bernd, Ulf und zwölf Männer stiegen aus dem Zug. In Naumburg gingen sie mitten durch die Bahnhofshalle. Es war der letzte Marsch in Zivil und aus der bunten Gruppe stach das Blau der Wachleute hervor. Es roch nach Bratwurst und geteerten Bahnschwellen. Einige Reisende sahen die Handschellen und ihr Staunen war groß. Sie rissen die Augen auf und würden es bestimmt aufgeregt weitererzählen. Ulf hatte Angst, aber er dachte, ja schaut, nur, ich bin einer von diesen verwegenen Kerlen.
Die nächsten vier Tage verbrachten die vierzehn Männer in einer Zugangszelle im zweiten Stock des Neubaus. Neun weitere Zellentüren auf dieser Etage waren von 6.00 Uhr bis 20.00 Uhr geöffnet, aber die Zugangszelle blieb den ganzen Tag verschlossen. Einige Häftlinge aus den anderen Zellen ärgerten die Neuen und schauten wie Wärter durch das Guckloch.
„Schau mal, da hinten, das ist doch `ne süße Sau! Die reservier ich mir! “, hörte Ulf einen sagen.
Bernd und Ulf spielten Mühle mit alten, getrockneten Kirschsteinen und das Spielfeld war in den Steinboden geritzt. Bernd fühlte, dass der unsichtbare Rufer Ulf meinte. Er sah seine ängstlichen Augen und lachte.
„Alter, mach dir keine Sorgen, ich mache Hackfleisch aus jedem, der dir an die Wäsche will.“ und zum Guckloch gewandt, „Melde dich die nächsten Tage mal bei mir, alter Tierfreund, so was wie dich wollte ich schon immer kennen lernen!“
Alle vierzehn waren Ersttäter und keiner kannte den Strafvollzug. Die Langeweile ließ die Gerüchteküche brodeln.
Der Rostocker war sehr pessimistisch. „Von Naumburg ist noch keiner in den Westen gekommen.“
Der Schweriner war anderer Meinung. „Direkt vom Zugang geht es los. Ratet mal, warum sie die anderen immer wegschließen, wenn wir in den Hof gehen? Uns gibt es quasi nicht! Keiner soll uns gesehen haben!“
Der Schweriner stand vier Tage im Mittelpunkt. „Mensch, Männer“, sagte er immer, „Helmut Kohl erste Tat war, etliche Millionen locker zu machen, um die Ostknäste in diesem Jahr mal so richtig leer zukaufen. Weihnachten haben eure Verwandten nasse Augen, weil sie eure Briefe aus dem Westen lesen.“
Am vierten Tag bekamen sie die Sträflingskleidung. Blauweiß gestreifte Hemden, schwarze Hosen, graue Jacken - überall gelbe Streifen.
Bernd rief zum Schweriner: „Na, sehen wir nicht toll aus? Ich schätze, es geht in Giessen noch vor dem Frühstück zur Modenschau.“
Einer war etliche Jahre älter als Ulf. Er hatte graue Haare, Frau und vier Kinder und war viele Jahre in der SED. Er kam wie Bernd aus Berlin und hatte als Archivar Nazischriften zum Gruseln heimlich an Freunde verliehen.
„Na, Prisoner of War, wie geht’s denn so?“ ,fragte er Ulf beim Hofgang.
Prisoner of War? Ulf war verdutzt. Auf seinem Mantelkragen standen die Initialen P.W.. Der Zwirn löste sich an einigen Stellen und die letzte sichtbare Erinnerung an einen Häftling, der vor vielen Jahren in Naumburg eingesperrt war, würde bald verschwunden sein.
Der Ältere sprach ruhig. „Wenn du rüber willst, dann ecke nicht an. Sieh zu, dass du gesund bleibst und denke an dein Ziel. Dein Leben liegt vor dir.“
Er wurde später Vorarbeiter und Ulf sprach nach diesem Tag selten mit ihm. Er gehört nicht zu uns, sagten die Ausreisewilligen, er will in der DDR bleiben. Der Alte hatte drei Jahre bekommen. So ein Pechvogel, dachte Ulf.
Sie durften an den vier Tagen nur kurz die Zelle verlassen. Zur ärztlichen Untersuchung, in die Effektenkammer, zum täglichen Hofgang und Haare schneiden.
Ulf hatte nicht zugehört und blickte den Friseur fragend an, da zischten die Worte ein zweites Mal schnell zwischen den Zahnstummeln des Friseurs hervor, „Was isses dir wert, wenn icke dir nich dat Ohr abschneide, Kleener?“ Er wartete keine Antwort ab. „Wenn’s dat erste Jeld gibt, jehste mir drei Päckchen Karo koofen. Wa? Und nu mach icke een Naumburjer Schmuckstück aus dir.“
Als Ulf davon Bernd erzählte, lachte dieser. „Wie willst du mir mit der Maschine denn ein Ohr abschneiden?“ ,hatte er dem Friseur geantwortet. Später zeigte Bernd Ulf das Geld: Zehn Mark. Er hatte dem Friseur seinen Nagelknipser verkauft. „Im Laden soll es Räucherwurst geben, Ulf“, sagte Bernd, „und Butter und Erdbeermarmelade. Das wird ein Festschmaus!!“
Gestern Abend wurden die Zugänge auf die offenen Zellen verteilt. Ulf, Bernd und drei kamen in Verwahrraum zweihundertsiebzehn, wo dreizehn Betten belegt waren. „Verwahrraum? Klingt komisch.“, dachte Ulf, „Bitte, liebes Gefängnispersonal, verwahren sie diesen zweiundzwanzigjährigen Mann eineinhalb Jahre. Passen sie auf, dass er satt und zufrieden ist, genug trinkt und nicht verletzt wird, sie sollen ihn ja nur verwahren. So wie er abgegeben wurde, so soll er zurückkommen!“
Sprache, Regeln, Abläufe – der Alltag im unbekannten Schattenreich der DDR verblüffen ihn. Aber sein Staunen, Zögern und Wundern im Gefängnisalltag ist kurz und alles Neue krallt sich fest im Gedächtnis und bestimmt sein Handeln. Und das frühere Leben taucht beim Erzählen auf aus einer verschwommenen, unwirklichen Welt. Mit jedem Tag Gefängnis fremder und kälter. Seit seiner Verhaftung im Juni sind fünf Monate vergangen und er spürt, dass ihn das Schattenreich aufsaugt und ihm Wärme gibt. Jeden Tag etwas mehr.
Heute soll die Arbeit beginnen. Sie war die letzte, große Hürde auf dem Weg zur Normalität hinter Gittern und die Neuen haben Angst. In ihrer Fantasie waren sie unterschiedlich grausam gestorben; an giftigen Dämpfen in einer Chemischen Fabrik, unter einstürzenden Flözen im Bergwerk oder an den Schlägen eines sadistischen Wärters. Peter liegt unter Ulf, ein Krimineller, um die dreißig Jahre alt. Er hat eine beeindruckende Tätowierung auf dem Handrücken. In altdeutscher Schrift ist „Insel des Grauens“ zu lesen und mit den Grenzen der DDR umrandet. Ulf ist fasziniert von dieser Respektlosigkeit und fragt ihn nach der Schwere der Arbeit.
„Hier im Haus lässt es sich aushalten. Es gibt Früh – und Spätschicht. Alles Akkordarbeit und sie zahlen gut. Allerdings ist die Miete etwas hoch für diese enge Einraumwohnung. Dazu Kosten für Vollpension und Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Es bleibt nicht so viel übrig.“ ,antwortet er und bietet Ulf eine Karo an.
Ulf und Bernd frühstücken. Zwei Scheiben Brot, Marmelade, ein Neuntel der Butter und heißen Malzkaffee. Fünf Minuten später müssen die Gefangenen des Stockwerkes im Flur antreten und ein Unterleutnant liest die Namen vor. Wessen Name fällt, der ruft „Hier!“ und geht zur Treppe, die nach unten führt. Nur die Neuen begleitet der Schließer runter in das Erdgeschoss und übergibt sie einem zivilen Meister.
Der Meister sagt, „Ich führe Sie jetzt an die einzelnen Arbeitsbereiche und erkläre sie.“ Er geht ein Stück und spricht, „Jetzt wohnen und arbeiten Sie vorübergehend bei uns, aber denken Sie doch mal an ihre Stube zuhause. Was steht in Ihrer Stube?“ Er antwortet für die stummen Umherstehenden, „ Da wären Fernseher, Couch, Schrankwand und Sessel.“ Er lächelt und zeigt mit dem Finger auf einen Gefangenen, „Sie da, haben Sie Sessel zu hause?“
Der Angesprochene nickt schnell. „Und haben Ihre Sessel Beine oder Rollen?“
„Rollen.“, sagt der Häftling und lächelt zurück.
Der Meister erklärt, „Gut möglich, dass die Möbellenkrollen von Ihren Sesseln bei uns montiert wurden. Dies ist ein Schwerpunkt unserer Produktion.“
Er zeigt nach rechts, „Das Verbindungsstück zwischen Möbellenkrolle und Sessel ist ein Metallbolzen mit eingefräster Nut. Hier werden die Bolzen für die Möbellenkrollen mit Sprengringen versehen. Das ist Akkordarbeit. Sechstausendvierhundert Bolzen müssen sie an einem Tag schaffen. Die Einarbeitungszeit beträgt drei Tage und sie müssen 50% am ersten, 70% am zweiten und 90% am dritten Tag schaffen. Dann 100%. Gibt es Freiwillige?
Ulf blickt auf den Arbeitsplatz; ein klobiger Holztisch und zwei Stühle. Auf dem Tisch liegen zwei blanke Stahlplatten, dreißig Zentimeter lang und breit und zwei Zentimeter dick. In beiden Platten sind Löcher, mindestens fünzig. Neben den Platten steht eine offene Pappschachtel voller kleiner Metallringe.
Ulf überlegt nur kurz. Er stößt seinen Ellenbogen Bernd in die Rippen. Der nickt ihn an; schließt zustimmend kurz die Augen. Ulf sagt zum Meister, den Arm hebend: Also, wir zwei machen das.“
Der Meister notiert die Namen. „Sie werden später von einem Kollegen eingewiesen.“, sagt er. Dann zieht der Tross weiter.
Sie setzen sich. „Nu, aber erst mal eine Fluppe, Ulf,“ sagt Bernd augenzwinkernd, „auf den Schock müssen wir erst mal eine rauchen.“
„Zwick mich Bernd“, sagt Ulf und zieht kräftig an der Salem, „zwick mich kräftig in den Arsch. Träume ich oder sitzen wir beide tatsächlich an diesem Tisch?“
Bernd nimmt ein paar Sprengringe zwischen die Finger. Er zeigt sie Ulf und lässt sie in die offene Hand rutschen. „Mensch, Ulf, keine Sau wird uns von diesem Tisch weg bewegen. Das ist wie ein Fünfer im Telelotto. “ Er wirft die Sprengringe kurz hoch. Sie fallen wieder in die Hand.
„Diese kleinen Scheißdinger tun uns nicht weh. Die können nicht beißen, treten oder uns den Kopf zerquetschen. Du kannst höchstens ein paar verschlucken, aber ich weiß jetzt ehrlich gesagt nicht wie. Was soll uns hier passieren? Wir können über die eigenen Beine stolpern. Oder kriegen am Hintern ein Geschwür vom Sitzen. Vom Bett bis zu diesem Tisch müssen wir keine vierzig Meter laufen. Ich sag mal Hipphipphurra!“
Bernd beugt sich vor und greift in eine Metallkiste neben dem Tisch, die mit unberingten Bolzen gefüllt ist.
Ulf blickt rundum. Die Halle ist riesig. Das komplette Erdgeschoss des Gebäudes ist eine Werkhalle. In der Mitte ein breiter, freier Gang für den Gabelstapler, die Hubwagen und die auf- und abgehenden zivilen Beschäftigten. Auf beiden Seiten stehen Maschinen und sie werden von Leuten im Sitzen bedient. Die Maschinen machen einen ziemlichen Lärm und sehen aus wie Bohrmaschinen. Noch lauter sind die Hämmer. Verstreut sitzen Gruppen von Gefangenen und schlagen mit Hämmern auf Eisenteile. Es riecht angenehm nach Maschinenöl und Eisenspänen.
Gegenüber hängt eine Uhr an der Wand. Eine große Bahnhofsuhr mit drei schwarzen Zeigern! Ein dicker, schwarzer für die Stunden, ein dünner für die Minuten und ein feiner, zarter Sekundenzeiger. Fasziniert verfolgt Ulf seinem Rundlauf. Er denkt an übermorgen, wenn seine Eltern ihn besuchen würden. Und sie dürfen ihm eine Uhr geben. Dann würde er jede Stunde zählen können. Er ist in diesem Moment glücklich und zuversichtlich, die kommenden Monate durchzuhalten. Bis zur ersten Minute in Freiheit. Er drückt seine Stirn an Bernds Jacke. „Hehe, ist schon gut, Ulf.“ sagt Bernd sanft. Er hat begonnen, die ersten Bolzen zu beringen