Spring!
Paul stand zögernd auf dem Fünfmeterturm. Das weiß getünchte Dach des Hallenbades erschien ihn so nah wie eine Kellerdecke. Er lunzte in die Tiefe und tastete sich langsam weiter. Der körnige Belag kratzte an den Fußsohlen, er merkte es kaum. „Papa, spring endlich!”, rief Linus. Fröhlich winkte sein neunjähriger Sohn nach oben. Paul drehte den Kopf unbeholfen zur Seite, kratzte sich verärgert den Handrücken und rüffelte: „Sei still!“ Linus war überrascht, dann verschwand die Freude in seinen Augen. Paul pflaumte seinen Sohn sonst nicht an. Doch er stand auf dem Turm und der Sohn ließ sich im Wasser treiben, Flossen und Taucherbrille, die ihn sein Vater schenkten, faulenzten am Beckenrand. Die beiden unternehmen viel miteinander und abends, bevor Linus schlafen geht, liegt er auf dem Sofa im Arbeitszimmer, bettfertig unter einer Decke gekuschelt und sie reden über die Ereignisse des vergangenen Tages. Oder sie lachen oder schweigen, ohne dass es ihnen langweilig wird. Paul wird sich abends bei Linus entschuldigen und ihm alles erklären.
Damals, als Erstklässler, hatte er das Hallenbad gehasst. Sobald Paul den Chlorgeruch an der Eingangstür witterte, wuchs ihm ein dumpfer Brocken im Bauch. Der Klassenlehrer scheuchte die Jungs jeweils zur zweit unter die lauwarme Dusche, dann liefen sie in der Zugluft der Katakomben die Stufen zum Meeresschwimmbad empor. Als alle an der Linie Aufstellung genommen hatten, übernahm der Schwimmlehrer den Unterricht. Jedes Kind erhielt eine rechteckige Korkplatte, die ihn Auftrieb im Wasser geben sollte. Paul musste sich jedes Mal überwinden, um sich vom Startblock zu stürzen - die Tiefe machte ihn schwindlig. Im Wasser hielt ihm der Schwimmlehrer eine lange Stange vor die Nase - mit unerreichbaren Abstand. Wie ein junger Hund hechelte er der Stange hinterher. Ein anderes Mal vergaß Paul die Badehose. Unter dem Gejohle der Mitschüler sprang er im Schlüpfer ins Wasser, die Hose rutschte ihm runter zu den Knien, dann schwamm sie fort. Der Schwimmlehrer fischte sie mit der Stange aus dem Wasser, um sie wie eine weiße Fahne durch die Luft zu transportieren. Paul nahm das Geschrei seiner Mitschüler wahr, als ob Zuschauer ein Tor im heimischen Fußballstadion feierten.
„Dieser dämlichen Turm“, brummte Paul. Musste er sich nicht schon genug im Büro quälen? Alles war fremd geworden: Das neue Projekt, andere Kollegen, unbekannte Fachwörter. Doch er hatte sich entschieden: Wenn er weiterkommen will, müsste er größere Projekte übernehmen, mehr Verantwortung tragen, an seine Grenze gehen.
„Nun spring doch“, rief Linus ungeduldig. Mittlerweile war er aus dem Wasser geklettert, stand neben den weißen Liegen und trocknete sich ab. Paul sah nicht hin. Es schien ihm, als ob das Sprungbrett schwebte. Seine Augen durchdrangen das klare Wasser bis zu den Bodenkacheln, die sich dicht an dicht wie Stühle aneinander reihten auf denen Kollegen saßen und Antworten von ihm erwarteten. Paul fühlte sich jämmerlich. Linus alberte mit einem anderen Jungen herum, offensichtlich wurde ihm das Warten zu langweilig. Weiter hinten im Hallenbad, im knietiefen Babybecken, fläzten sich Mütter im warmen Wasser, um neben ihren spielenden Kindern Neuigkeiten auszutauschen. „Ich brauch‘ keine Zuschauer“, graulte Paul. Sein Atem wurde tiefer, die Badeshorts spannten sich um die Hüfte. Die Halle war nun fast leer. In zehn Minuten mussten die Besucher das Bad verlassen, dann begannen die Rettungsschwimmer mit ihrem Training. Paul fühlte sich unbeobachtet, wendete auf dem Brett und ging wenige Schritte zurück, bis er das Geländer zum Abstieg erreichte. „Abhauen?“, fragte er sich entsetzt.
Auf den Stufen des Turms poltertes es, das Geländer vibrierte. Irgendjemand kam herauf, forsch und schnell. Oder waren es zwei? Der Turm zitterte. Unten sah Paul eine Hand auf dem Stahlrohr, die Stufe für Stufe höher rutschte. Zeitgleich sprang oben ein Mädchen auf die Plattform. Sie drängelte sich an Paul vorbei, tippelte bis nach vorn an die Kante und ihre Füße suchten Halt auf dem körnigen Belag des Brettes: Kerzengerade verschwand sie im schäumenden Wasser. Wenige Sekunden später erreichte ein Mann die letzte Stufe des Sprungturmes. „Ihr Vater“, dachte Paul. Auch der schob sich wortlos und nur mit einem knappen Nicken an ihm vorbei und sprang ebenfalls. Leichter Schweißgeruch blieb zurück. Unten machte das Wasser dem mächtigen Körper schwerfällig Platz, dann spülte eine gewaltige Welle in den Seitenkanal. Linus und sein Kumpel schauten nicht hin. Sie kicken einen Wasserball gegen die Fensterscheibe und geben acht, dass er beim Zurückprallen nicht ins Sprungbecken rollte.
Paul wollte nicht mehr zögern. Er tapste zur Spitze des Brettes. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen. Doch dann richtete er seinen Blick in die Ferne, um nicht von der Angst übermannt zu werden. Wie ein gefällter Baum kippte er vom Turm. Doch unerwartet schob sich ein Schatten unter dem Sprungbrett hervor. Paul traf auf was Hartes, auf was Weiches, erst dann fühlte er Nässe. „Etwas war unter mir!“, schießt es ihm panisch in den Kopf. In Pauls Knochen, Bändern und Muskeln blitzen Schmerzen. Am Beckenrand starren entsetzte Gesichter.