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Spuren in der Welt
Am Vormittag kühlte es ab. Auch das Donnern der Kanonen ertönte nun seltener und irgendwann verstummte es ganz. Als Regen einsetzte, spannte Van Leeven eine Plane. Zusammen kauerten sie darunter und behielten die Straße im Blick. Ein steter Strom schweigender Männer stolperte durch den Schlamm. Vor einer Woche hätten sie sich versteckt halten müssen, doch dieser zerschossene Haufen scherte sich nun nicht mehr um sie. Nur vereinzelt warf man ihnen kurze Blicke zu, während der Tross vorbeizog.
„Sieh sie dir an“, sagte Van Leeven und schüttelte den Kopf. „Mehr tot als lebendig.“ Mit seiner schwieligen Pranke winkte er den Soldaten. Niemand erwiderte den Gruß. Durch eine Zahnlücke spuckte er aus. Auf der linken Seite fehlten ihm alle seine Zähne. Deshalb klang es immer ein wenig verwaschen, wenn er sprach. Das Lid seines Auges hing herab und der Junge vermutete, dass ihn irgendwann mal ein heftiger Schlag oder vielleicht der Tritt eines Pferdes erwischt und die Knochen von Kiefer und Augenhöhle zertrümmert haben musste. Gefragt hatte er nie. Sein Blick fiel auf das Medaillon, das Van Leeven um den Hals trug. Nur für einen winzigen Moment wagte er es zu betrachten. Dann zwang er sich, zur Straße hinüberzusehen. Sein Mund war trocken und er konnte spüren, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Van Leeven hatte seinen Blick bemerkt. Wortlos verstaute er die Kette unter seinem Hemd.
Gegen Nachmittag entkorkte er eine Flasche und nahm einen tiefen Schluck. Als er sie dem Jungen hinhielt, schüttelte der den Kopf.
„Trink!“, sagte Van Leeven, doch der Junge rührte sich nicht. Van Leeven steckte den Korken zurück in die Flasche, überprüfte den Verschluss mit dem Daumen und legte sie neben sich auf den Boden. Dann wandte er sich dem Jungen zu und verpasste ihm eine Ohrfeige.
„Du willst ein Mann sein?“, fragte er. „Echte Männer tun, was man ihnen sagt.“ Er zog seinen zerschlissenen Zylinder über die Augen und lehnte sich zurück.
„Nach Einbruch der Dunkelheit brechen wir auf. Weck mich, wenn es so weit ist.“
Sie hatten Tücher um ihre Laternen gewickelt und hielten sich abseits der Straße. Van Leeven ging durch das hüfthohe Gras voran. Seine Gestalt zeichnete sich gegen das Mondlicht ab und erschien dem Jungen wie die eines Giganten. Der Regen hatte aufgehört und am Horizont blitzte Wetterleuchten, das die aufgetürmten Wolkenberge und die Felder in blaues Licht tauchte. Eine leichte Brise strich über die Gräser und Sträucher und der Junge hörte ein ständiges Flüstern. Einmal blieb er stehen, um zu lauschen. Doch da war nichts mehr.
Die Spuren der vergangenen Tage waren mittlerweile kaum zu übersehen. Stiefel, zerrissene Kleidung, leere Dosen und anderer Unrat lagen herum. Vereinzelt sahen sie tote Pferde und einmal ein ganzes Gespann, das vom Weg abgekommen sein musste. Mehrere Tiere lagen unter den zerbrochenen Teilen des Wagens, im Schein ihrer Laternen zeichneten sich die zackigen Enden offen gebrochener Knochen ab und der Junge sah, dass es im aufgedunsenen Leib eines Pferdes vor Maden wimmelte.
Süßlicher Geruch erfüllte die Luft. Selbst durch den Stoff der Tücher, die sie vor ihre Münder und Nasen gebunden hatten, nahmen sie den Gestank wahr. Die Landschaft hatte sich verändert. Überall lag zersplittertes Holz, ragten zerschossene Stümpfe von Bäumen wie dürre Finger in Richtung des Himmels. Auf einem Hügel blieben sie stehen. Vor ihnen tat sich eine breite Ebene auf. Das größte Feld, auf dem er je war. Der Junge ahnte, dass es Tausende sein mussten, die dort unten lagen.
Auf dem Weg hinunter rutschte er in einer Pfütze aus und wäre hingefallen, wenn Van Leeven nicht seine Schulter gepackt hätte.
„Pass auf!“, fuhr er ihn leise an und deutete auf die Klinge eines Bajonetts, die aus einem blutigen Haufen Leiber vor ihnen ragte.
„Schneid dich nicht an so einem Ding. Ich hab Männer gesehen, denen der Arm bis hinauf zur Schulter abgefault ist.“
Um sie herum war der Tod. Vereinzelt hörte man Schreie, Flüche, ab und an einen Schuss. Der Junge sah verdrehte Körper. Dutzende, Hunderte. Einige wirkten im Licht der Laterne, als würden sie schlafen. Andere waren kaum mehr als ein Haufen Fleisch, Blut und Knochen. Manche lagen hier seit drei Tagen. Drei Tage, in denen Hitze, Regen und die Ratten ihr Übriges getan hatten.
„Uhren, Ringe, Münzen“, flüsterte Van Leeven. Er pochte mit dem Finger an seinen Unterkiefer. „Kontrollier auch die Münder. Und geh bloß nicht zu weit weg. Wir sind nicht die Einzigen, die hier rumschleichen.“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Feldes, auf dem ein halbes Dutzend kleiner Lichter herumirrte.
„Von denen würd kein einziger zögern, dir für ne Taschenuhr deine kleine Kehle aufzuschlitzen.“
Der Junge stellte seine Laterne auf den Boden und ging in die Knie.
„Fang unten an und arbeite dich dann nach oben“, hatte Van Leeven ihm oft erklärt. Der Mann vor ihm hatte die Augen geschlossen. Im Schein des Lichts sah es beinahe so aus, als ob er entschieden hätte, sich für einen Moment auszuruhen. Der Junge kontrollierte die Stiefel. Darin fand er nichts. Dann tastete er die Hosenbeine von unten nach oben ab, durchsuchte behutsam die linke, dann die rechte Tasche des Anoraks und knöpfte schließlich die Bluse des Toten auf. Im Innenfutter konnte er etwas erfühlen. Er griff danach und förderte vorsichtig einige Bögen eng beschriebenen Papiers hervor. Das Weiß hatte sich rötlichbraun verfärbt. Der Junge sah, dass eine Kugel den Toten unterhalb der Brust erwischt hatte. Er steckte den mit getrocknetem Blut beschmierten Brief zurück.
Neben sich hörte er, wie Van Leeven sich an Körpern zu schaffen machte. Er hörte das Knirschen, wenn er Zähne aus Mündern brach. Mit einem Mal überfiel ihn der Gestank mit einer solchen Wucht, dass ihm war, als wäre er gegen eine Wand aus Fäulnis und Verwesung gelaufen. Er begann zu würgen, nestelte hastig an dem Tuch vor seinem Gesicht herum und spuckte Galle und Speichel vor sich auf den Boden. Tränen stiegen ihm in die Augen und liefen seine Wangen herab. Seine Nase protestierte und er musste erneut würgen. Als er fertig war, wischte er sich den Mund mit dem Ärmel ab und tastete sich im fahlen Licht der Laterne weiter vorwärts. An den Handgelenken fand er keine Uhr und als er die Finger vergeblich nach Ringen absuchte, bemerkte er, dass sich die Haut bereits an mehreren Stellen bläulich verfärbt hatte. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie seltsam kalt sich die Haut verstorbener Menschen anfühlte und schnell ließ er die Hand los. Einen Augenblick hielt er inne, bevor er zitternd die Lippen der Leiche spreizte und den Mund öffnete, um nachzusehen, ob sich Goldzähne darin befanden. Als er die kalten Lippen wieder losließ, sah es aus, als würde der Tote grinsen. Dann begann er mit ihm zu sprechen. Und der Junge hörte zu.
„Ist was anderes als bei nem Schwein oder nem Hasen“, sagte Van Leeven und blickte ins Feuer. Es war spät, doch der Junge zwang sich wachzubleiben. Im Dunkeln wollte er nicht eine Minute mehr schlafen. Wenn er die Augen schloss, konnte er sie hören.
„Wie alt bist du? Vierzehn? Fünfzehn? Nun, ich war nicht viel älter beim ersten Mal. Und ich habs auch damals nicht gern gemacht, das kannst du mir glauben. Diese Kerle. Haben alle nen verdammt zu großes Maul, wenn du mich fragst.“
Van Leeven machte eine Pause und nahm einen tiefen, beinahe trotzigen Schluck. Leise und so, als spräche er nur zu sich, fuhr er fort.
„Als mir damals das warme Blut von diesem Hundesohn über die Klinge und die Hand lief, wars so, als ob die Zeit für uns stehen geblieben wäre. Für nen Moment gabs nur noch ihn und mich auf der Welt. Wir blickten uns an und ich sah ihn sterben. Man sagt, wenn dir jemand dabei in die Augen sieht, bleibt das Bild von dir für immer darin stehen. Wenn auch sonst nicht viel von einem zurückbleibt, so kann ein Mann seine Spuren in der Welt hinterlassen. Schuld vergeht niemals.“ Van Leeven sah in die Flammen.
„Dieser Idiot hätte uns sein Zeug einfach geben sollen. Aber stattdessen macht er Faxen. Er wollte es so. War ja auch schon halb tot, so wie der aussah. Hätte es keine Stunde mehr gemacht, sag ich dir. Im Grunde wars besser so.“
Van Leeven spielte an dem Medaillon herum.
„Hat mich an dich erinnert. Dieselbe Angst in den Augen, dasselbe zögerliche Wesen ...“
„Du musst es zurückgeben“, unterbrach ihn der Junge. Van Leeven stutzte.
„Was hast du gesagt?“, fragte er ungläubig und beugte sich nach vorne.
„Es gehört dir nicht.“, wiederholte der Junge, diesmal etwas lauter. „Du musst das Medaillon ablegen. Sie haben es zu mir gesagt. Sie haben gesagt, dass sie mich nicht in Ruhe lassen, bis wir es zurückgegeben haben. Bis wir alles zurückgegeben haben. Sie sagen, dass wir sonst verloren sind, dass sie unsere Seelen holen werden. Sie sagen, dass wir Schuld auf uns geladen haben. Sie sagen … sagen, dass sie mich zwingen werden ...“
Van Leeven begann laut und lange zu lachen.
„Meine Güte, Junge. Ich hab ja nicht geahnt, dass ichs hier mit nem kleinen Jesuiten zu tun hab! Unsere Seelen? Sag, hast du dich in letzter Zeit mal umgesehen?“
Van Leeven schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck aus seiner Flasche.
„Du musst lernen, dir zu nehmen, was du haben willst. Sonst tuts wer anders. Wenn du das noch immer nicht begriffen hast ...“
„Bitte!“, sagte der Junge leise.
Van Leeven schwieg. Nur das Knacken einiger Holzscheite und das Zirpen der Grillen im Gras war zu hören.
„Du wirst vergehen in dieser Welt“, sagte er nach einiger Zeit. Er sagte es ohne Hohn und ohne Freude. „Bis zum Morgen kannst du bleiben, danach scherst du dich weg. Ich kann dich nicht mehr gebrauchen.“
„Bitte“, flüsterte der Junge noch einmal und Tränen liefen ihm über das Gesicht. Irgendwann stand er auf und stolperte wortlos in die Dunkelheit davon.
Zwei Tage später kam Van Leeven mit einem Fisch in der einen und seinem Jagdmesser in der anderen Hand aus dem Fluss gewatet. Da sah er den Jungen am Ufer. Schmutzig und zitternd stand er zwischen ein paar Sträuchern. Van Leeven blickte ihm ins Gesicht. Er erkannte die Furcht in den Augen. Ohne den Blick von seinem Revolver abzuwenden, mit dem der Junge auf ihn zielte, spuckte er ins Wasser. Mit der Hand, in der er den Fisch hielt, deutete Van Leeven in die Richtung einer einfachen Reuse, die er aus Steinen errichtet hatte. Er sagte etwas, doch der Junge verstand ihn nicht. Dann machte er eine schnelle Bewegung. Da drückte der Junge ab. Der erste Schuss verfehlte Van Leeven und ließ das Wasser hinter ihm aufspritzen. Aber der zweite erwischte ihn im Bauch oberhalb des Nabels. Der dritte traf ihn direkt ins Herz. Van Leeven schnappte grunzend nach Luft, machte zwei stolpernde Schritte und brach am Ufer zusammen. Noch lange stand der Junge da. Die Waffe so fest zwischen seinen Fingern, dass es wehtat. Er wartete darauf, dass Van Leeven wieder aufstehen, zu ihm herüberkommen und ihm seine großen Hände um den Hals legen würde. Doch Van Leeven rührte sich nicht. Er blieb einfach liegen. Irgendwann ließ der Junge die Waffe sinken.
Im Lager packte er etwas Proviant zusammen, legte es in seine Decke und schnürte alles zusammen. Den Revolver steckte er in seinen Hosenbund und er fand auch eine Packung mit Patronen, die er einsteckte. Den Beutel mit dem Schmuck und dem eingeschmolzenen Gold ließ er, wo er war. Von Zeit zu Zeit sah er sich um, jedes Mal überzeugt, das Gesicht Van Leevens zu erblicken.
Bevor er aufbrach, ging er noch einmal zum Fluss zurück. Van Leeven lag in einer Pfütze Blut. Fliegen krabbelten auf seinem nackten Rücken herum. Mit dem Revolver in der Hand beugte sich der Junge zu ihm herunter und nahm ihm das Medaillon ab. Schwer wog es in seiner Hand, bevor er es in den Fluss warf. Vorsichtig drehte er den Kopf Van Leevens zu sich herum. Er zögerte nur kurz, bevor er ihm in die Augen sah.