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Störfrequenzen

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09.02.2024
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Störfrequenzen

Er wusste, dass ich sie genau dort finden würde.
Die Kassette stand auf dem Regal, eingeklemmt zwischen einer Bob-Dylan-Biographie und dem Gitarrenbuch von Peter Bursch. Die Hülle war vergilbt und das Einlegeblatt in schwungvoller, eleganter Handschrift bekritzelt. Seiner Schrift. Oben in der Mitte standen Band- und Albumtitel: Spiral Waves – Somewhere Out of the Blue. Weiter unten, nach den Songtiteln: Für Markus – Hör durch den Schleier.
Sofort hatte ich sie in die Tasche geschoben. Rasch, mit feuchten Fingern.
Die Polizisten, die Leos Wohnung durchsuchten, hatten nichts bemerkt.

Seitdem liegt sie hier auf meinem Küchentisch.
Sarah und Christina sind übers Wochenende bei ihrer Schwester, und die Wohnung ist still. Keine Kinderstimme, kein Fernseher, keine Geräusche aus der Küche. Nur die Heizungsrohre, die ab und zu knacken, als wäre da jemand, der sich leise bewegt.
Ich habe aufgeräumt und zu lesen versucht, aber das war nur Verzögerungstaktik.
Die Kassette lässt nicht locker. Sie will gehört werden und mir etwas erzählen, das ich womöglich nicht hören möchte.

Ich habe nur noch einen einzigen Rekorder im Haus. Christinas klobigen Fisher-Price-Kasten, gelb mit roten Tasten, klebrig von Apfelsaft und Löffelbiskuit.
Er steht jetzt neben der Kassette. Wenige Zentimeter, die sich wie ein Abgrund anfühlen.
Als ich die Augen schließe, zieht es mich hinein. Dorthin, wo alles begann. Mit Leo.

Wir begegneten uns zum ersten Mal kurz vor den Abschlussprüfungen. Ich erinnere mich noch, dass die Fensterscheiben unter der Hitze knackten. In den Fluren ein Geruch nach Papier, Haargel und unserem Schweiß. Und das Blut in seinem Gesicht. Dunkelrot auf seiner wachsweißen Haut.

Ich war sechzehn und ziemlich normal für mein Alter. Im Fußballverein war ich ein guter Torwart. Nicht übermäßig talentiert, aber es reichte, um bei den Mädchen Eindruck zu schinden. Ich hatte gute Noten, viele Freunde und erkannte nicht, wie gut es mir ging.
Zuerst hörte ich das Geräusch. Ähnlich unseren gekickten Bällen im Training. Aber dumpfer, menschlicher. Dann nochmal. Es klang nach Gewalt.
Sie traten auf ihn ein, grinsten und feuerten sich gegenseitig an. „Scheiß Freak“, rief einer. Diese beiden, die ihre Sonnenbrillen auch im Schulgebäude anbehielten. Sehr jung und sehr dumm. Leo lag zwischen ihnen, zusammengerollt, die Arme um den Kopf geschlungen. Er gab keinen Laut von sich, und dieses Erstarren, das stumme Märtyrertum, machte mich fassungslos. Wie eine Maus, die sich stundenlang von der Katze herumschleudern ließ. Ich konnte nicht zusehen. Schubste den größeren, brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Sein Freund fuhr herum, die Fäuste kampfbereit. Bis er mich erkannte. „Ach Markus! Verschwinde! Das geht dich nichts an.“ Er klang wie ein Kind, das nicht mehr im Matsch spielen durfte. Ich schüttelte nur den Kopf. Ich wollte selbstsicher wirken und meine Stimme hätte bestimmt gezittert.

Beide fixierten mich, wogen ihre Chancen ab. Dann begannen sie zu grinsen. „Von mir aus. Habt doch euren Spaß miteinander!“, sagte der, den ich gestoßen hatte. Als sie abzogen, zeigten sie mir den Mittelfinger und lachten.
Ich sah nach unten und verstand, warum sie ihn Freak genannt hatten. Alle kannten ihn. Die dürre Vogelscheuche des Pausenhofs, die auch im Sommer diesen komischen Ledermantel trug. Ein uralter, dunkelbrauner Trenchcoat mit Fellkragen, aus dem er nun langsam den Kopf herauszog. Er sah wirklich ungesund aus. Das schwarze, schulterlange Haar klebte verschwitzt an der Stirn. Die Unterlippe war geschwollen, und aus seinem rechten Nasenloch sickerte Blut. Seine blasse Haut schob ich damals auf den Schock, später wusste ich, dass er kaum vor die Tür ging. Alles an ihm wirkte traurig und einsam. Bis auf eines: Seine Augen. Sie waren nicht nur blau, sie leuchteten geradezu. Und irgendwie schien die Iris ständig in Bewegung zu sein. Wie Wellen im Wind. Ewig starrte ich auf dieses Farbenspiel, bis ich mich besinnen konnte. Ich reichte ihm ein Taschentuch. „Alles in Ordnung?“ Die Augen stoppten. Er starrte das Taschentuch an, als wüsste er nicht, was man damit tat. „Du blutest! Alles okay?“, sagte ich nochmal. Dann griff er sich das Tuch. Der Ärmel schlotterte an seinem dürren Arm. „Danke!“ Eine Stimme wie ein altes Radio. Dünn, krächzend, unverständlich. Als er aufstand, verzog er das Gesicht. Ich streckte ihm die Hand hin, vergeblich. „Brauchst du einen Arzt? Soll ich…?“ Aber da ging er schon. Langsam und hinkend, aber mit der schleichenden Bewegung, die man von ihm kannte. Als würde er sich durch die Ritzen der Realität zwängen, um nirgendwo anzuecken.

Drei Tage später sprach er mich an. Ich saß über einer Matheaufgabe, der Kopf voller Zahlen, als ich die Stimme hörte:
„Deep Purple?“
Ich hob den Blick.
„Was?“
Er deutete auf mein T-Shirt. Das Cover von Machine Head.
Ich nickte. „Magst du die?“
Ein kaum sichtbares Lächeln. „Ich mag sie nicht, ich lebe sie.“ Ich zog die Augenbrauen zusammen. Der erste rätselhafte Satz, dem noch viele folgen sollten.
Sein Grinsen wurde breiter und er setzte sich auf die Tischkante. Wir redeten über Musik, die aus Gitarren und brennenden Stimmen geschmiedet wurde. Über Bands, die eigentlich nur unsere Eltern kennen sollten. Beinah hätte ich gelacht. Von meinen Freunden wurde ich gerne wegen meiner „Opa-Musik“ aufgezogen. Und jetzt fand ich ausgerechnet in diesem seltsamen Typ eine verwandte Seele. Zumindest teilweise, denn für mich war es Musik, schön, ehrlich und handgemacht. Für Leo war es Religion. In der Pause gingen wir nebeneinander her. Er erzählte nichts über sich, dafür umso mehr über Musik. „Die Stille ist grausam“, sagte er. „Man muss sie füllen. Mit Melodien, Rhythmus und Takt. Sonst erstickst du daran.“ Ich lachte gekünstelt, um mein Frösteln zu überspielen.
Natürlich war es keine schlagartige Freundschaft. Wir hatten eine Zweckgemeinschaft. Ich schätzte sein enzyklopädisches Musikwissen und die gebrannten CDs, die er mir zusteckte, während er wahrscheinlich froh war, überhaupt gesehen zu werden.
Aber in der Schule blieb er der Außenseiter. Sie tuschelten, manche spuckten sogar, wenn er vorbeiging. Ich hätte eingreifen können. Aber ich tat es nicht immer. Es war leichter, zu schweigen oder in eine andere Richtung zu schauen.
Heute schäme ich mich dafür. Aber Jugendliche sind selten nett oder vernünftig.

Ein paar Wochen später lud er mich zu sich ein.
„Ich will dir was zeigen“, sagte er.
Ich hatte mit allem gerechnet – aber nicht mit Schallplatten. 2002 war Vinyl so gut wie tot. Ich hörte Musik auf CD, manchmal als Download, und hinterfragte das nicht. Seine Wohnung war ein Dachzimmer, schmal und vollgestellt mit Platten, Notizheften, alten Musikmagazinen. Die Luft war abgestanden und roch nach muffigem Teppichboden.
„Du hörst echt nur Schallplatten?“, fragte ich.
„Nur so klingt’s richtig“, antwortete er. „Du musst so nah wie möglich am Ursprung sein!“ Diese seltsamen Sätze ignorierte ich mittlerweile. Ich nickte einfach und nahm eine schmutzige Kaffeetasse aus dem Regal. „Sind deine Eltern nicht da?“, fragte ich, ohne nachzudenken.
Er legte gerade eine Platte auf und hielt inne.
„Gibt keine“, sagte er nach einer Weile. „Autounfall. Vor vier Jahren. Die Leute vom Amt kümmern sich.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es klang weder traurig noch wütend – er sprach völlig emotionslos. Aber in diesem Moment begriff ich, warum er so still und anders war. Weil niemand mehr auf ihn wartete. Und plötzlich kam ich mir schrecklich dumm und undankbar vor. Er legte die Nadel auf. Ein Knistern, dann Musik, rau und psychedelisch. „Spiral Waves“, sagte er. „Schon mal davon gehört?“
Ich schüttelte den Kopf und er reichte mir das Cover.
Es zeigte eine kunstvoll gemalte Rose auf schwarzem Hintergrund. Darunter der Albumtitel – Lost in the Garden. Die Blüte verlief in endlosen Spiralen, verwirrend und hypnotisierend. „Schau dir mal die Rückseite an!“, sagte er. Ich sah vier Männer. Lange Haare, Vollbärte, nachdenkliche Gesichter. Ein typisches Bandfoto aus der goldenen Ära des Rock. „Siehst du es?“ Seine Stimme flüsterte, während ein wehmütiges Gitarrensolo aus den Boxen erklang. „Was denn?“ „Da ist ein fünfter Mann drauf. Hinten im Dunkeln.“ Ich kniff die Augen zusammen. In der Mitte, zwischen den Musikern, war eine verschwommene, kreisrunde Form erkennbar. Ein Schatten, den man mit viel Fantasie für einen Kopf halten konnte. „Ich seh nichts“, sagte ich. Er zuckte die Achseln. „Egal. Bleib bei den Noten.“ Wir hörten das ganze Album. Die Stimmen kamen und gingen, als würden sie aus einem anderen Raum singen.
Er bewegte sich nur einmal, um die Platte umzudrehen. Ansonsten saß er still, mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf. Und ich begann zu verstehen. Musik war für ihn kein Hobby, sie war sein Überleben. Als ich ging, fiel rotes Abendlicht durch das schmutzige Fenster. Er stand am Plattenspieler, die Hand auf der Nadel, und sah nicht auf.
Draußen roch es nach heißem Asphalt und gemähtem Gras.
Ich schwindelte, als hätte ich zu viel getrunken.

Wir wiederholten es. Jahrelang besuchte ich ihn, während er sich nur selten in meine Welt traute. Es war diese Ungleichheit, die uns anzog. Jeder suchte im anderen Bestätigung für sich selbst.
Aber irgendwann veränderte ich mich. Arbeit und Verantwortung schoben sich in mein Leben. Er blieb derselbe, wie ein Film im Pausenmodus.
Ich lernte Sarah kennen und zog von zuhause aus. Plötzlich war ich kein Kind mehr. Leo blieb allein und verwandelte seine Wohnung in ein Paralleluniversum, in dem alte Musiker von fernen Welten erzählten.

„Dann geht es um Tod?“, fragte ich ihn einmal, während die Orgeln Jim Morrisons Stimme umspielten.
Leo sah mich nicht an. Als er antwortete, blieb sein Blick starr auf die drehende Platte gerichtet.
„Auch. Aber mehr um eine Welt, die nicht greifbar ist. Etwas hinter den Schleiern unserer Realität. Morrison hat das gesehen. Er hat darin gelebt. Deswegen hielt er es hier auch nicht mehr aus. Er musste zurück. In den blauen Bus steigen und dorthin fahren, wo es keine Lügen gibt.“
Meine Haut fühlte sich plötzlich eiskalt an, trotz der drückenden Hitze unter der Mansarde.
„Es ist nur ein Songtext, Leo.“ Ich trank mein restliches Bier in einem Zug, obwohl es gar nicht mehr schmeckte.
Seine Augen leuchteten, als würden winzige Quallen darin treiben. Beinahe ähnelte seine Stimme der von Morrison, als er antwortete. „Nicht nur, Markus. Sie sind alles.“
Ich schwieg. Die Musik, die Hitze, der Geruch von toter Luft – es erdrückte mich, und ich wollte zurück zur Normalität. „Wie läuft’s in der Bäckerei?“, fragte ich.
„Vorbei. Geworfen.“ Er wippte gedankenverloren, den Zeigefinger an die Lippen gelegt, während ich fast die leere Bierflasche fallen ließ.
„Was? Leo, das ist schon die dritte Ausbildung, die du hinschmeißt!“
„Hab nicht geschmissen. Wurde geschmissen.“
„Das ist doch scheißegal!“
Zum ersten Mal spürte ich richtige Wut. Nicht nur auf ihn, sondern auch auf mich, weil ich immer noch versuchte, den großen Bruder zu spielen. Meine Flasche flog krachend auf den Holztisch.
„Ich bin im August fertig“, sagte ich. „Sie übernehmen mich. Sarah und ich verdienen unser eigenes Geld. Und du hockst immer noch hier rum. Erzählst mir was von Jim Morrison, statt endlich mal den Arsch hochzukriegen!“ Sofort taten mir meine Worte leid, aber es war zu spät. Ein kratzendes, endgültiges Geräusch – die Nadel wurde vom Vinyl gehoben. Als er sich zu mir umdrehte, leuchtete nichts mehr in seinem Gesicht. Kein Glanz, kein Zorn, nur Leere. „Du wolltest noch wohin, oder?“, sagte er.
Als ich ging, hörte ich die ersten Takte der Spiral Waves. Sein musikalisches Refugium. Ich war immer noch so wütend, dass ich „Scheißband!“ rufen wollte. Aber ich besann mich. Es waren genug Kränkungen für einen Abend. Außerdem war es nicht wahr. Selbst ich fand sie großartig.

2006 begann das Sommermärchen. Ein Monat voller Sonne, Fußball und Party. Ich sonnte mich in dieser Sorglosigkeit, während Leo noch stiller wurde. Er hasste den Lärm, die Menschenmengen und womöglich sogar die Sonne. Ich überredete ihn trotzdem, mitzukommen – wieder einmal. „Nur kurz in die Stadt, ein Sprung zum See, dann ein Bier mit den Jungs.“
Er stimmte widerwillig zu, aber auf halbem Weg bat er, im Plattenladen anzuhalten. Innerlich stöhnte ich, aber tat ihm den Gefallen. Im Geschäft roch es nach Karton, Holzregalen und altem Vinyl. Der Besitzer – ein großer, bärtiger Mann – begrüßte Leo wie einen alten Freund. Ich blieb in der Tür stehen und tippte Sarah eine SMS. Erst als die Stimmen lauter wurden, drehte ich mich um.
„Einmal! Lass sie mich nur einmal anhören!“ Leos Augen waren weit aufgerissen, die Fäuste fest geballt. Der Besitzer schob etwas Eckiges unter die Theke. „Ne! Weißt du, wie wertvoll die ist?“ Seine Stimme war tief und rau wie ein brummender Verstärker.
Leo atmete schnell, keuchte fast. „Ich weiß alles über dieses Album! Du hast gesagt, du rufst mich an! Nur mit dem Kopfhörer, ja? Ich bleib hier stehen!“

Als ich näher kam, zog der Mann eine Platte hervor. Leo zitterte.
„Sie ist hier“, flüsterte er. Die schwarzen Haare fielen ihm wild und ungekämmt ins Gesicht und seine Augen blickten gierig.
Dann begriff ich, um was es ging: Somewhere Out of the Blue, das verschollene zweite Spiral-Waves-Album, von dem er seit Jahren sprach. 300 Pressungen, bevor die Band für immer verschwunden war. Ein Mythos, der plötzlich wahr geworden war.
Der Inhaber startete den Plattenspieler auf der Theke, während Leo den alten, verbogenen Kopfhörer aufsetzte. Ich sah, wie er die Augen schloss. Sein Kopf begann im Takt zu wippen, sanft aber akkurat wie ein Metronom. Meine Nachmittagspläne platzten wie Seifenblasen. Ich sah, wie er die Hände faltete und den Mund leicht öffnete. Als hätte ihn irgendwer – oder irgendwas – narkotisiert. Ich zerkaute meine Unterlippe. Sarah wartete.
„Wieviel?“, fragte ich den Besitzer.
„Is’ ziemlich selten.“ Er blickte nicht auf und drehte mit gelben Fingern eine Zigarette. „Echtes Sammlerstück. 250 Euro. Runter geh ich nicht.“
Leo stand jetzt reglos, wie eine betende Engelsfigur. Ich legte ihm die Hand auf den Arm. Und auf einmal fuhr er herum. Ruckartig, die Zähne gefletscht.
„Was willst du?“
Für einen Moment war nichts Menschliches mehr in seinem Gesicht. Ich sehe uns noch ganz genau. Sein wahnsinniger Blick zwischen den Ohrmuscheln, während ich zurückwich. Angst hatte ich nicht. Aber ich spürte, dass ich ihn endgültig verlor. Genau dort, in diesem Moment. Es war kaum zu ertragen.
Dann schob er den Kopfhörer kurz vom Kopf. Seine Lippen waren weiß und zitterten. „Tut mir leid! Wollte ich nicht. Aber die Stimmen, Markus! Du musst das hören. Ich brauche die Platte. Sie gehört mir!“
„Alles gut“, sagte ich leise. „Ich leih dir das Geld. Morgen.“
Er schüttelte den Kopf.
„Morgen ist sie weg“, flüsterte er. „Ich weiß es. Sie wartet nicht länger.“
Und plötzlich nahm er eine andere Platte aus einem Regal – Lynyrd Skynyrd – Street Survivors – und legte sie auf den Tisch. Seine Bewegungen waren ruhig und konzentriert, als würde er Sprengstoff entschärfen.
„Leg die noch kurz auf“, sagte er.
Der Besitzer runzelte die Stirn und nahm die Spiral Waves-Platte vom Teller.
„Leo, was soll das?“, fragte ich. Er streckte mir abwehrend die Handfläche entgegen und verschwand wieder unter der Musik.
Ich blies lange und fest durch die Lippen, während ich aus dem Fenster blickte. Menschen in Fußballtrikots zogen lachend vorbei, ihre Bierflaschen und Fahnen triumphierend schwenkend.
Und mit einem Mal hatte ich genug. Von seiner Flucht in die Musik, vom elitären Gehabe in diesem Plattenladen und ganz besonders von den Spiral Waves. Hier war kein Platz für mich. Wahrscheinlich hatte es ihn nie gegeben.
Reden hatte keinen Sinn mehr, Warten auch nicht. Ich ging wortlos auf die Straße. Zu Sarah, meinen Freunden und dem richtigen Leben.

Drei Tage später sahen wir uns zum letzten Mal.
Er hatte mich mehrmals angerufen und auf seine übliche Art Entschuldigungen vorgebracht. „Es war nichts Böses. Tanzte nur in einer anderen Welt. Komm vorbei, Markus. Ich hab doch sonst keinen.“ Der letzte Satz war der gemeinste, weil er wusste, dass ich ihn nicht ignorieren würde.
Er öffnete, bevor ich klopfen konnte. In der rechten Hand ein schwarzes Vinyl in einer Schutzhülle. Somewhere Out of the Blue.
Ich sah sie an – aber etwas stimmte nicht.
„Du hast sie bekommen?“
Er nickte. „Ich hab ein paar andere verkauft. Die alten Uriah Heep. Hab sie kaum gehört.“ Als ich die Augenbrauen zusammenzog, wich er meinem Blick aus.
„Du liebst Heep!“, sagte ich und drückte mich an ihm vorbei.
Auf dem Fußboden sah ich das Cover der Lynyrd Skynyrd-Platte und begriff es.
Er hatte sie getauscht. Die Spiral Waves-Platte in das Skynyrd-Cover geschoben, die Skynyrd in die teure Hülle gelegt. Wie auch immer er das geschafft hatte.
In meinem Magen krabbelten Läuse. Meine Zunge löste sich nur schwer vom Gaumen, als ich wieder sprechen konnte.
„Leo, sag bitte, dass es nicht wahr ist.“
Das Stroboskoplicht seines Plattenspielers leuchtete unheimlich in sein Gesicht, als er das Vinyl auflegte.
„Was ist Wahrheit?“, hauchte er.
„Wo ist das Cover?“
„Braucht man nicht. Das ist nur die sterbende Hülle eines alten Gottes.“
Ich wollte ruhig bleiben. Aber die Worte kamen wie Stiche. Ich schrie.
„Du kannst doch nicht einfach so… Verdammte Scheiße, du hast nichts! Keinen Job, keine Ausbildung, nichts! Und jetzt klaust du! Du redest wie ein Irrer! Du brauchst Hilfe!“
Die Nadel senkte sich. Ein erdiger Bluesrock setzte ein, gefolgt von mehrstimmigem Gesang. Dann drehte er sich um, die Hände wie ein Priester erhoben.
„Weißt du, wie das ist? Ohne Eltern, ohne Freunde. Ganz alleine? Hilfe brauche ich? Hilfe habe ich!“
Er zeigte auf den Plattenspieler.
„Sie helfen mir. Die, die auf uns warten. Hinter dem Schleier. Hör ihnen zu, höre, wie sie singen!“
„Wir kriegen das hin, Leo“, sagte ich leise und spürte Tränen auf meinen Wangen. „Ich kümmere mich. Es gibt Behandlungen. Tabletten.“

Er begann tatsächlich zu grinsen, während er die Musik summte. Wellenförmig, beschwörend und hochmelodisch erzählten die Spiral Waves von einer anderen Welt.

In the alley by the river
where the ferryman keeps score,
there’s a book of vanished people
and a key without a door.

Im Raum verschwand jeder Rest von Tageslicht. Ich beobachtete, wie das Dachfenster zu einer flackernden Kerze am Ende eines langen Tunnels wurde. Die Band spielte weiter. Und ich wusste, dass es die gottverdammt beste Musik war, die ich jemals gehört hatte! Als wären die schönsten Momente der Doors, Blue Öyster Cult und Led Zeppelin in einer Symphonie vereint.

Leo ließ den Kopf kreisen, seine blauen Augen funkelten. Er sang jede Zeile, jedes Wort ekstatisch mit, obwohl er die Texte gar nicht kennen konnte.

Und dann öffnete sich mein Mund, als hätte etwas an meinem Kinn gezogen. Es war kalt, aber völlig schmerzlos. Ich begann ebenfalls zu singen.

Underneath the spiral waves,
you’ll hear the choir hum.
Voices lost in borrowed graves,
singin’ what they’ve become

Worte, die ich nie zuvor gehört hatte, wurden plötzlich meine eigenen. Ich hatte sie unzählige Male gesungen. Im Proberaum, im Studio, alleine und vor Publikum.

Ich hörte keine Musik mehr, ich lebte sie. Neben mir stand ein Bassist, seine langen Haare flatterten im Wind. Er hob Zeige- und Mittelfinger und ich wusste, dass es das Zeichen für mein Solo war.
Gitarrensaiten spannten sich rau unter meinen Fingern. Das Publikum jubelte, schrie aus tausend Kehlen. Dann sah ich meine Hand. Faulig und schwarz, wie ein überfahrenes Tier am Straßenrand. Ich schnappte nach Luft und riss den Kopf nach oben. Der Bassist neben mir begann zu lachen. „Nicht geübt?“, sagte er.
Ein Teil von mir wollte die Gitarre spielen. Wollte sich dem Rausch hingeben und die Macht auskosten. Aber jede Note wäre falsch gewesen. In mir steckte noch etwas, das zurück wollte. Ins Licht und die Sicherheit des Alltags. Langeweile und Monotonie als tröstliche Umarmung. Meine Beine fühlten sich an, als würde ich unter Wasser laufen. Ich bewegte mich trotzdem, und dann hörte ich sie. Ein kreischendes Wehklagen, als würden Nägel über Glas gekratzt.

Bis heute glaube ich, dass mich jemand aus der Tür geschoben hat. Aber Leo stand zu weit entfernt.
Und mir fehlt etwas. Sekunden, vielleicht sogar Minuten. Ich kam erst zu mir, als ich die Treppe hinunterrannte und fast stolperte. Über mir ließ ein wildes Gitarrensolo die Wände vibrieren. Leo sang laut den Refrain. Nichts klang schief oder unpassend. Nein, er hörte sich an, als gehöre er zu den Göttern des Rock.

Ich stürzte in den Innenhof und fiel flach auf mein Gesicht. Der aufgeheizte Beton brannte auf meiner Haut. Gelbe und violette Punkte tanzten vor meinen Augen und ich war durchgeschwitzt bis auf die Unterwäsche.
Dann rappelte ich mich auf und kotzte schwallartig hinter die Mülltonnen. Gebückt und keuchend stand ich dort und streichelte über die Deckel. Der heiße Stahl fühlte sich normal und beruhigend an. Irgendwo johlten Menschen, weil ein Tor gefallen war.
Schwankend ging ich Richtung Straße. Nach wenigen Metern musste ich mich wieder setzen und Sarah anrufen. Ich erzählte ihr, dass ich in Leos Wohnung einen Hitzschlag bekommen hatte und abgeholt werden müsse.

Ich glaubte selbst daran, weil ich es musste.
Als wir fuhren, blickte ich kein einziges Mal zum Dachfenster.

Danach schrieb er noch. Wochenlang erreichten mich kurze, verwirrte Nachrichten, die nach Telegrammen eines verlorenen Forschungsreisenden klangen. Ich antwortete nicht.
Auf dem Weg zur Arbeit kam ich an seinem Haus vorbei. Jedes Mal verlangsamte ich das Tempo, und nach zwei Wochen wollte ich etwas tun.
Aber wen hätte ich anrufen sollen? Polizei, Rettungsdienst, die verdammte Telefonseelsorge? Ich sprach mit Sarah, meinen Eltern und sogar mit unserem Hausarzt. Hörte, dass ich loslassen sollte. Und irgendwann glaubte ich es auch.
Aber erst als Sarah schwanger wurde und unser kleiner Engel durch den Flur krabbelte, begann ich zu vergessen.

Vier Jahre später kam die Polizei.
Sie waren jung, in Jeans und Rollkragenpulli. Zuerst hielt ich sie für Vertreter, bis sie mir ihre Dienstausweise entgegenstreckten.
„Kriminalpolizei“, sagte der stämmigere, der einen kurzrasierten Bart trug. „Sie kannten einen Leonhard Bach?“
Ich nickte, während ich bei dem Wort „kannte“ an das Schlimmste dachte.
„Er wird vermisst“, klärte er mich in unserer Küche auf, während Sarah meine Hand hielt. Christina versteckte sich hinter ihren Beinen und blickte neugierig zu den beiden Männern auf.
„Die Nachbarn haben sich Sorgen gemacht“, fuhr er fort. „Er wurde tagelang nicht gesehen. Brachte keinen Müll raus, war nicht im Waschkeller. Auch beim Arbeitsamt ist er nicht mehr erschienen.“
„Sie glauben, er hat sich…“, ich blickte zu Christina und sprach nicht zu Ende.
Er zuckte die Schultern. „Wir glauben gar nichts. Tatsache ist, dass Sie die einzige Kontaktperson sind, die wir ermitteln konnten. Aus einem Notizbuch, das wir in seiner Wohnung gefunden haben.“
Als ich zur Seite blickte, konnte ich Sarahs Kopfschütteln sehen. Langsam, aber bestimmt.
„Ist das noch die alte Wohnung?“, fragte ich. „Ein Dachgeschoss?“
Der Polizist nickte.
„Bringen Sie mich hin“, seufzte ich. „Vielleicht fällt mir etwas auf.“

Ich hatte Chaos erwartet. Wild durcheinander geworfene Schallplatten, verdorbenes Essen auf dem Tisch, Schimmel an den Wänden – aber die Wohnung war aufgeräumt, beinahe zu ordentlich. Der Kühlschrank war leer und vom Strom getrennt, die Küchenzeile sauber geputzt und der alte Teppichgeruch verschwunden. Sein Vinyl stand geordnet im Regal, bedeckt von einem Staubfilm. Sie wirkten, als hätte sie jahrelang niemand mehr berührt. Der alte Plattenspieler stand noch am selben Ort, wie ein Museumsstück. Unter der Haube erkannte ich das Spiral Waves-Album. Ich schauderte. Trotzdem hob ich den Deckel und legte meine Finger auf das Vinyl. Warm und lebendig. Ich zog die Hand zurück, als hätte mich etwas gebissen.
„Es ist schon gesäubert worden“, sagte der Polizist hinter mir, und ich zuckte zusammen. Hier war kein Tatortreiniger gewesen, das wusste ich. Nicht einmal eine Putzfrau. Sie hatten die Wohnung genauso vorgefunden. Leo hatte sie ordentlich hinterlassen, bevor er gegangen war. Irgendwohin.
Von vergilbten Postern blickten mich bekannte Gesichter an. Morrison, Barrett, Hendrix. Genies auf dem Höhepunkt ihrer Kraft, die alle auf denselben Punkt starrten: Die Kassette im Regal.
Es war kein Zufall – sie wollte mitgenommen werden.

Und jetzt bin ich bereit. Ich habe mir billiges Dosenbier gekauft. Wie früher, als wir zusammen in die schrankenlose, weite Welt des Rock ’n’ Roll abgetaucht sind. Es gehört einfach dazu. Ich drücke den Knopf und die Kassette startet.
Rauschen, wie tongewordener Nebel. Die Dose knackt, weil ich sie fast zerdrücke. Natürlich habe ich Angst. Höre ich gleich eine traurig und wirr eingesprochene Nachricht? Rückwärts aufgenommene Botschaften? Gar nichts?
Eine Gitarre setzt ein, schwebend, melancholisch. Die Spiral Waves. Es ist der mehrstimmige Bluesrock, vor dem ich damals panisch geflohen bin. Es war nur die Hitze – keine Stimmen – nur Einbildung.
Die Aufnahme klingt anders. Klarer und neuer, trotz der alten Kassette und dem billigen Rekorder. Vier Stimmen sind klar hörbar, jede mit ihrem eigenen Charakter. Und dann setzt sie ein. Eine fünfte, die ich immer erkennen würde. Leo.

Nicht brüchig oder ängstlich, sondern frei und glücklich. Der Gesang schwebt über den Instrumenten, ohne Furcht und Zwang. Die Band spielt mit, selbstverständlich, als wäre er schon immer ein Teil von ihnen gewesen. Ein fünfter Mann auf dem Cover.
Ich drücke die Stopptaste so fest, dass sie fast bricht. Trinke das halbe Bier aus und denke an Sarahs Worte: „Lass dich nicht wieder reinziehen!“
Das Gehäuse des Kassettenrekorders scheint mich anzustarren, zu warten. Schimmert das Band leicht blau, oder liegt das an der Beleuchtung? Bin ich besoffen oder verrückt?
Ich stelle mir vor, wie Leo in einem Studio steht, den Kopfhörer halb über einem Ohr, das Mikro nah am Mund.
Vielleicht nur ein Traum, keine Ahnung. Aber ich weiß, dass ich es hören möchte. Das Glück in seiner Stimme, weil er endlich seinen Platz gefunden hat. Hinter dem Schleier.

Mein Finger drückt Play.

 

@Rainbow Runner Hallo,
wird Dich nicht wundern, dass ich kommentiere. Dies hier gefällt mir bis jetzt am besten von allen Texten hier. Wahrscheinlich weil mein Musikgeschmack getroffen wurde. Ich nehme an, diese geheimnisvolle Band ist fiktiv.
Man darf jetzt nicht in den Fehler verfallen, und alle Musikfreaks als gestört hinstellen. Ich meine richtig. Natürlich ist das für viele ein Familienersatz,
manchmal sogar ein Hemmschuh, um selber eine zu gründen. Denn die meisten Frauen haben da nicht das Verständnis, dass ´ne seltene Platte wichtiger ist als ein Kühlschrank.
Ich verstehe, dass der Erzähler, als er Vater wurde, teilweise das Interesse an der Musik verlor. Auch der Kumpel war da nicht mehr so wichtig. Eher freundet man sich dann mit Anderen an, die in der selben Situation sind.
Die Male, wo er seinen Kumpel noch trifft, lässt er mir zu sehr den Sozialarbeiter raushängen. Ist nun mal so, dass sein Freund nicht so auf Anhieb reinpasst. Er selber vielleicht auch nicht, denn Freunde sind sich öfter ähnlich.
Der Kumpel ist zwar freakig hat aber Recht, was Musik anbelangt. Die Platte, die er geklaut hat, ist wirklich genial. Wahrscheinlich der von den Beiden, der musikalisch begabter war. Jetzt wären wir wieder beim Thema. Braucht eigentlich einer Musik? Ein bisschen Berieselung im Radio mit den Hits ist doch eigentlich genug.
Für mich ist die Musik etwas Lebensnotwendiges, wie Essen und Trinken. Die Kinder, die Du hier ständig ins Spiel bringst, hört sich ja so an, als hätte der Musiknerd die Hand an der Wiege, werden auch mal älter, und dann werden sie auch die Musik entdecken oder sogar selber machen. Das fängt so mit zwölf, dreizehn an. Kann aber auch nur eine kurze Phase darstellen.
Super geschrieben Gruß Frieda

 

Er hatte sie getauscht. Die Spiral Waves-Platte in das Skynyrd-Cover geschoben, die Skynyrd in die teure Hülle gelegt. Wie auch immer er das geschafft hatte.

DAS ist natürlich das erste Verbrechen! Skynyrd sind sakrosant, vor allem in Originalbesetzung! Schlimmer wäre nur noch eine Platte bzw die Hülle eines Allmann Brothers Album zu entehren!
Als ich die Augen schließe, zieht es mich hinein. Dorthin, wo alles begann. Mit Leo.
Ja, das ist gut, eine sehr gute Idee, aber sie wird vorbereitet, man spürt es, die Rückblende wirkt hier wie ein device. Hast du mal überlegt, mit der Szene im Plattenladen zu beginnen?
Ich war sechzehn und ziemlich normal für mein Alter.
Auch hier: was heißt normal denn schon? Das ist so ein gefährlicher Allgemeinplatz, oder? Lieber zeigen. Und welcher Teenager hält sich für normal?
Ich sah nach unten und verstand, warum sie ihn Freak genannt hatten. Alle kannten ihn. Die dürre Vogelscheuche des Pausenhofs, die auch im Sommer diesen komischen Ledermantel trug. Ein uralter, dunkelbrauner Trenchcoat mit Fellkragen, aus dem er nun langsam den Kopf herauszog.
Trenchcoat, das bin vielleicht nur ich, ich bin Baujahr 77, aber ich denke direkt an Columbine, die liefen auch im Trenchcoat rum. Mir kommt auch die ganze Retter-Szene zu Highschool-Film-mässig rüber. Warum brauchst du die? Etabliert die die Beziehung?
„Ich mag sie nicht, ich lebe sie.“
Auch recht Klischee, oder? Sagt man so Sachen? Vermutlich.
Wir redeten über Musik, die aus Gitarren und brennenden Stimmen geschmiedet wurde.
Vorsicht vor den brennenden Stimmen! Uwe Kopf, Gott hab ihn selig, hat mal einen sehr guten Leitfaden für die Schreiber des TEMPO-Magazins verfasst, wo er sich auch mit "Rock-Schreibe" befasst, mal googeln. Nichts ist schwieriger, als Musik wirklich zu beschreiben. Brennende Stimmen ... ich weiß nicht.
Und jetzt fand ich ausgerechnet in diesem seltsamen Typ eine verwandte Seele.
Das ist doch der Kern der Geschichte, oder nicht? Mir geht das zu schnell, und deswegen brauchst du auch die Retter-Szene, damit Zug in die Handlung kommt. Kann er ihn nicht einfach so ansprechen? Brauchen die sich überhaupt ansprechen? Die sehen sich, sehen die Bandshirts und treffen sich dann in dem Plattenladen; zuerst ist der Erzähler abgeneigt, weil er eben denkt, was ist das für ein Freak!, aber dann ... man erschließt sich die Seele eines Menschen über die Musik.
„Die Stille ist grausam“, sagte er. „Man muss sie füllen. Mit Melodien, Rhythmus und Takt. Sonst erstickst du daran.“
Auch hier, nee. So spricht doch niemand, oder?
„Nur so klingt’s richtig“, antwortete er.
Na ja. Digital ist natürlich dem Vinyl um Längen überlegen, aber ich höre auch zu 90% Vinyl, allerdings aus anderen Gründen: ein Album kann nur auf Vinyl wirklich als Album konzipiert werden, mit Opener und Grande Finale etc, außerdem das Cover mit Liner Notes und Artwork. Man hat sich wahrscheinlich an den offensichtlich "schlechteren" Klang gewöhnt, nimmt ihn als wärmer wahr.
„Gibt keine“, sagte er nach einer Weile. „Autounfall. Vor vier Jahren. Die Leute vom Amt kümmern sich.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Mich erinnert das alles an amerikanische Filme aus den 80ern. Da sterben die Eltern auch immer an Autounfällen, haha. Was ist denn mit dem Jugendamt? Mit Großeltern? Mit einem gesetzlichen Vormund oder Betreuer?

„Ich seh nichts“, sagte ich. Er zuckte die Achseln. „Egal. Bleib bei den Noten.“
Sagt er das, bei den Noten? Doch eher: beim Riff oder dem Groove oder dem Intro. Oder?
Musik war für ihn kein Hobby, sie war sein Überleben.
Ja, das müsste man zeigen.

Plötzlich war ich kein Kind mehr. Leo blieb allein und verwandelte seine Wohnung in ein Paralleluniversum, in dem alte Musiker von fernen Welten erzählten.
Woher hat er eigentlich das Geld? Vinyl ist heute auch gebraucht leider schweineteuer. Vielleicht hat er ja eine Erbschaft?
Morrison hat das gesehen. Er hat darin gelebt. Deswegen hielt er es hier auch nicht mehr aus. Er musste zurück. In den blauen Bus steigen und dorthin fahren, wo es keine Lügen gibt.“
Ah, nee. Mir ist das alles zu romantisierend. Jim Morrisson war ja ein ausgemachtes Arschloch, egozentrisch und selbstbezogen, und ein guter Lügner noch dazu. Da wird diese Rockandroll-Welt aufgemacht, diese Legende, der Mythos, aber es ist ja nicht so, dass dieser Typ im Text das jetzt als eine Art Stellvertreterleben nimmt; so funktioniert das ja, Morrisson und all die anderen sterben mit 28, damit wir das nicht tun müssen, und wir zahlen für ihren Exzess gutes Geld. Das wird jedem irgendwann klar, außer denen, die daran vorbeisehen wollen, und dafür müsste es Gründe geben. Die werden mir hier aber nie genannt. Warum er das tut. Es wird gezeigt, wie er geschmissen wird etc, aber die Umstände wie er zu dem wurde, der er war, das fehlt. Warum er die Isolation sucht.


Ja, ist ein schöner Text. Mir ist der an einigen Stellen zu romantisierend, liegt vielleicht auch daran, dass ich selber Musik mache; nicht erfolgreich natürlich. Aber man erkennt, dass alle nur mit Wasser kochen. Musik ist doch vor allem harte Arbeit und das Herunterschrauben des eigenen Egos. Der Topos hier, das verlorene Album, ist seltsam, ich arbeite gerade an einem ähnlichen Text, wo es um die Originalbänder einer Studioaufnahme geht, die zwei mittlerweile verkrachte Ex-Bandmitglieder bei einem ominösen Typen im Wohnwagen abholen sollen, der ist natürlich extrem gut ausgeleuchtet schon, in allen Varianten. Es gibt die Suche nach der fiktiven Gibson, die Platte mit satanischen Botschaften, die Bänder die im Müll gefunden werden, die geniale Singer/Songwriterin, die ein Album produziert und dann für immer verschwindet ... das ist schon eine mächtige Ecke, die du dir da ausgesucht hast.


Konkret: Mir sind die Charaktere noch zu flach, das geht mir zu schnell. Entweder Länge machen, wirklich auf 10k aufblasen (ich wiederhole mich, aber einfach mal machen, mal Zeit investieren, es lohnt sich!) oder aber Fokus auf eine Szene, die alles beinhaltet. Das ist eine Entscheidung. Und die Klischeefalle beachten: entweder diese Spiral Waves Scheibe ist wirklich irgendwie magisch, die macht, das er verschwindet; was ich geil fände!, oder dieser Charakter entscheidet sich einfach freiwillig, zu verschwinden, dann braucht man aber Gründe, nicht nur keine Arbeit oder wird nicht erwachsen. Das hat ja eben auch seine Gründe. Ist der unsozial, traumatisiert, oder vielleicht auch psychisch krank? Weiß man alles nicht.

Ich finde, da steckt sehr viel an Potential drin, was nur noch nicht entpackt wurde. Da könntest du, wenn du möchtest, nochmal ran. Das ausweiten, auswalzen, mehr Tiefe reinbringen.


Gruss, Jimmy

 

Hallo @Frieda Kreuz

Vielen Dank für das schnelle Lesen und kommentieren meiner Geschichte!

Dies hier gefällt mir bis jetzt am besten von allen Texten hier.

Das macht mich stolz und auch fast ein bisschen verlegen. Aber vielen Dank, das zeigt ja, dass ich ein paar Sachen richtig gemacht habe.

Ich nehme an, diese geheimnisvolle Band ist fiktiv.

Ist sie. Aber mir dienten viele echte Bands als Vorbild, die genauso geheimnisumwittert waren. Black Widow, Lucifers Friend, Comus, Blackwater Park - Damals war es halt wirklich noch einfach, ein Mysterium aufzubauen. Kein Internet, kein Social Media, man war einfach nicht gläsern. Und wenn man erfolgsmäßig noch ein bisschen unterm Radar lief, wurde das Geheimnisvolle schon fast von selbst aufgebaut.

Bei der Stimmung, die von den Spiral Waves Songs ausgeht hatte ich immer zwei Songs im Kopf:

The Strawbs - Witchwood
Blue Öyster Cult - Astronomy

Spiel sie mal hintereinander ab, dann spürt man die Atmosphäre, die ich erzeugen wollte.

Die Male, wo er seinen Kumpel noch trifft, lässt er mir zu sehr den Sozialarbeiter raushängen.

Hmm, so etwas hatte ich schon befürchtet. Ist halt alles sehr knapp gehalten, weil ich daraus jetzt keinen Roman bauen konnte und wollte. Und du hast Recht, insbesondere Markus ist noch immer zu wenig charakterisiert, deswegen reißt sowas auch raus.

Die Kinder, die Du hier ständig ins Spiel bringst, hört sich ja so an, als hätte der Musiknerd die Hand an der Wiege, werden auch mal älter, und dann werden sie auch die Musik entdecken oder sogar selber machen.

Hast absolut recht. Und tatsächlich steckt in der Story viel von mir selbst. Mal sehen, was meine kleinen dann mal so kreativ machen werden.

Super geschrieben

Freut mich riesig! Danke!

Hallo @jimmysalaryman

Auch dir herzlichen Dank für deine Zeit und dein schnelles Feedback!

Skynyrd sind sakrosant, vor allem in Originalbesetzung! Schlimmer wäre nur noch eine Platte bzw die Hülle eines Allmann Brothers Album zu entehren!

Da kennt sich jemand aus ;-)

aber ich denke direkt an Columbine, die liefen auch im Trenchcoat rum

Columbine war natürlich die letzte Assoziation die ich herauf beschwören wollte. Ich dachte eher an diese pelzgefütterten Dinger aus den 70ern. Die man eben auf den alten Plattencovern sieht, wenn man die jeweilige Band aus dem warmen Studio aufs winterliche Feld zur Fotosession jagte…

Das ist doch der Kern der Geschichte, oder nicht? Mir geht das zu schnell, und deswegen brauchst du auch die Retter-Szene, damit Zug in die Handlung kommt.

Das ist ein Kern, der Geschichte. Mehr dazu gleich. Dass es zu schnell geht, hatte ich schon befürchtet. Wie immer hatte ich ein zu großes Thema, dass ich dann irgendwie eindampfen musste, um hier im Rahmen zu bleiben. Geht natürlich zu Lasten der Tiefe.

Hast du mal überlegt, mit der Szene im Plattenladen zu beginnen?

Das ist eine interessante Idee. Wäre für eine Kurzgeschichte tatsächlich passender.

Auch hier, nee. So spricht doch niemand, oder?

Es war mir wichtig, Leo von Anfang an merkwürdig zu gestalten. Irgendwie nicht greifbar. Geisterhaft oder auch ein kleines bisschen autistisch. Deswegen seine merkwürdigen Dialoge.

Na ja. Digital ist natürlich dem Vinyl um Längen überlegen

Vorsicht: Hier spreche nicht ich, sondern mein Protagonist! Ich selbst bin immer noch passionierter Vinyl Sammler. Allerdings habe ich die gleiche Stückzahl an CDs. Und wenn ich ehrlich bin, streame ich mittlerweile viel. Ich bin kein ewig gestriger und neue Technik nehme ich gerne an. Ist sowieso ein eigenes Thema, dieser Wandel der Musikvermarktung.

Ich wollte zeigen, dass Leo an diesem „alten“ hängt, sich damit in seiner eigenen Welt isoliert.

Was ist denn mit dem Jugendamt? Mit Großeltern? Mit einem gesetzlichen Vormund oder Betreuer?

Das Amt erwähnt er ja ganz kurz. Generell ist es so, dass ein gesetzlicher Betreuer gestellt wird, wenn es keine Großeltern oder sonstige Verwandschaft gibt. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit ist eine Waise dann aber völlig auf sich allein gestellt.

Dieses niederschmetternde Thema hätte auch eine eigene Geschichte verdient. Aber auch hier hast du recht, dass müsste stärker erklärt und in den Text eingebunden werden.

Sagt er das, bei den Noten?

Auch hier: Seine geheimnisvollen Antworten. Aber das habe ich wohl zu übertrieben eingesetzt.

Vielleicht hat er ja eine Erbschaft?

Guter Punkt. Dass muss natürlich auch irgendwie angedeutet werden.

Warum er die Isolation sucht.

Ja, dass ist eben hier mein Kernproblem. Vieles nur angedeutet, angerissen, damit der Umfang nicht explodiert.

Mir ist der an einigen Stellen zu romantisierend, liegt vielleicht auch daran, dass ich selber Musik mache; nicht erfolgreich natürlich. Aber man erkennt, dass alle nur mit Wasser kochen. Musik ist doch vor allem harte Arbeit und das Herunterschrauben des eigenen Egos.

Schön dass du selbst Musik machst. Habe ich auch 20 Jahre lang in ganz unterschiedlichen Bands gemacht. Von versifften Kellerkonzerten mit 2 Zuschauern bis hin zu einem Auftritt auf einem kleineren Festival, bei dem um 9:00 Uhr morgens immerhin schon 50 verkaterte Nasen zugesehen haben, war da alles dabei.

Und deshalb muss ich dir Recht geben, aber auch was hinzufügen: Natürlich stimmt das mit der harten Arbeit. Und dass man sich selbst zugunsten der gesamten Band zurück nimmt, ist wünschenswert.

Ich habe aber leider die Erfahrung gemacht, dass selbst im ganz kleinen Proberaum die Egos schon absurd groß werden können. Erfolgsmäßig erreicht man gar nichts, und trotzdem fühlen sich manche schon wie Superstars.

Insbesondere Sänger und Lead Gitarristen mussten wir oft auf den Boden zurück holen. Das wollten sie aber auch nicht immer.

entweder diese Spiral Waves Scheibe ist wirklich irgendwie magisch, die macht, das er verschwindet; was ich geil fände!, oder dieser Charakter entscheidet sich einfach freiwillig, zu verschwinden, dann braucht man aber Gründe, nicht nur keine Arbeit oder wird nicht erwachsen. Das hat ja eben auch seine Gründe. Ist der unsozial, traumatisiert, oder vielleicht auch psychisch krank? Weiß man alles nicht.

Jetzt sprichst du das zweite Kernthema an.

Ich hatte drei Intentionen bei der Geschichte:

1. Das Porträt einer ungleichen Freundschaft
2. Die Grenze zwischen Leidenschaft und ungesunder Obsession aufzeigen
3. Eine Geistergeschichte im Stil von Joyce Carol Oates verfassen

Hohe Hürden für einen Anfänger wie mich. Und natürlich habe ich sie nicht genommen. Deine Hinweise nehme ich dankend an, und werde nochmal nachdenken, wie man anders gestalten kann.

Das vage, dieses „Weiß man alles nicht“ möchte ich aber unbedingt beibehalten. Es ist dieser unheimliche Schwebezustand den Oates so meisterhaft beherrscht. So etwas möchte ich gerne selbst schreiben.
Die Platte kann magisch sein, es kann eine Zwischenwelt geben. Gleichzeitig ist auch die rationale Erklärung möglich. Das ist der wichtigste Punkt für mich.

Danke für deine Zeit!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Rainbow Runner,

ich lese deinen Text als Märchen, was weniger an den fantastischen Elementen liegt, sondern mehr am Erzähler. Er ist als Figur sehr naiv, konturlos und passiv gezeichnet ...

Ich lachte gekünstelt, um mein Frösteln zu überspielen.

Aber in diesem Moment begriff ich, warum er so still und anders war. Weil niemand mehr auf ihn wartete. Und plötzlich kam ich mir schrecklich dumm und undankbar vor.

Ich zerkaute meine Unterlippe.

Die Dose knackt, weil ich sie fast zerdrücke. Natürlich habe ich Angst.

Sofort taten mir meine Worte leid

Ich schüttelte nur den Kopf. Ich wollte selbstsicher wirken und meine Stimme hätte bestimmt gezittert.

Von meinen Freunden wurde ich gerne wegen meiner „Opa-Musik“ aufgezogen.

Sie tuschelten, manche spuckten sogar, wenn er vorbeiging. Ich hätte eingreifen können. Aber ich tat es nicht immer. Es war leichter, zu schweigen oder in eine andere Richtung zu schauen.
Heute schäme ich mich dafür.

Ich schwieg. Die Musik, die Hitze, der Geruch von toter Luft – es erdrückte mich, und ich wollte zurück zur Normalität.

Trotzdem hob ich den Deckel und legte meine Finger auf das Vinyl. Warm und lebendig. Ich zog die Hand zurück, als hätte mich etwas gebissen.

... und läuft da durch die Story wie ein Prinz mit Topfschnitt, der die Welt entdeckt:

Ich hatte mit allem gerechnet – aber nicht mit Schallplatten.

Ansonsten saß er still, mit geschlossenen Augen und zurückgelegtem Kopf. Und ich begann zu verstehen.

Zum ersten Mal spürte ich richtige Wut.

„Dann geht es um Tod?“, fragte ich ihn einmal, während die Orgeln Jim Morrisons Stimme umspielten.

Alles überwältigt, überrascht, überfordert ihn, ein Emotionssuperlativ nach dem anderen wirbelt ihn herum:

Ich schwindelte, als hätte ich zu viel getrunken.

In meinem Magen krabbelten Läuse. Meine Zunge löste sich nur schwer vom Gaumen, als ich wieder sprechen konnte.

Ich wollte ruhig bleiben. Aber die Worte kamen wie Stiche. Ich schrie.

Meine Haut fühlte sich plötzlich eiskalt an, trotz der drückenden Hitze unter der Mansarde.

Er ist außerdem eine seltsam konforme, biedermeierliche Stimme der bürgerlichen Konventionen, obwohl er doch Rock-Fan und somit Sympathisant der Gegenkultur ist:

„Was? Leo, das ist schon die dritte Ausbildung, die du hinschmeißt!“

„Ich bin im August fertig“, sagte ich. „Sie übernehmen mich. Sarah und ich verdienen unser eigenes Geld. Und du hockst immer noch hier rum. Erzählst mir was von Jim Morrison, statt endlich mal den Arsch hochzukriegen!“

„Leo, sag bitte, dass es nicht wahr ist.“

„Du kannst doch nicht einfach so… Verdammte Scheiße, du hast nichts! Keinen Job, keine Ausbildung, nichts! Und jetzt klaust du! Du redest wie ein Irrer! Du brauchst Hilfe!“

Auch kennt er seinen eigenwilligen Freund seit Jahren und meint dennoch, dass diesem oberflächlich-schematische Lösungen helfen:

„Wir kriegen das hin, Leo“, sagte ich leise und spürte Tränen auf meinen Wangen. „Ich kümmere mich. Es gibt Behandlungen. Tabletten.“

War das alles intendiert? Ich meine, willst du hier nicht eigentlich von einem der coolen Teenager erzählen, vom "All American Boy", dessen Wertegerüst und Selbstbild plötzlich durch einen Außenseiter mit ganz anderen Werten ins Wanken gebracht wird?

So zumindest legst du den Erzähler an: Er ist ein guter Torwart (kann sich also unter 15 bis 20 athletischen Jungs behaupten), landet bei den Mädels (ist also attraktiv), hat sogar ein Standing bei den Rowdies (kann sich also wehren). So etwas kommt ja nicht von ungefähr. Da muss er schon auch einen entsprechend robusten Charakter und eine entsprechend selbstbewusste Sicht auf die Dinge haben, die sich im Text anhand seiner Erzählweise, Handlungen und Reflexionen zeigt.

Die Charakterentwicklung wäre dann, dass dieser sportliche, aber etwas glatte Typ erkennt, dass nicht nur Stärke, Beliebtheit und Erfolg von Wert sind, sondern dass es auch noch andere, leisere Töne gibt, die einen berühren.

Dein jetziger Erzähler ist hingegen eher ein dreizehnjähriges, mehr als romantisch angehauchtes Emo-Mädchen mit Hang zur Theatralik. So kommt er rüber: Sie (also er) lässt jedes Gefühl an sich heran, traut sich selbst nichts zu, lässt sich willig emotional herumschleudern und guckt auf den atypischen Freund wie jemand, der einen mitleidigen und mitleidenden Helferkomplex hat.

Ich finde also, du solltest die Erzählerfigur anders anlegen: Entweder darf sie nicht mehr dieser Sporster-Typ sein, sondern vielleicht eher so ein Typ unscheinbares (männliches) Mauerblümchen (zwar wie der "Freak" ein Außenseiter, aber ohne seine Exzentrik, die eine gute Angriffsfläche bietet, also eher jemand, der einfach übersehen wird). So eine Figur würde viel mehr zu deiner Erzählung passen, weil es dann psychologisch stimmig wäre, dass hier jemand diesen auf seine Weise überlegenen Nerd anhimmelt und in dessen Bann gezogen wird.

Oder du müsstest – was dann tatsächlich stark in Richung 80er-Highschool-Drama gehen würde – den Erzähler einen anderen Weg gehen lassen: Von eigener Ablehnung und Spott über erste Zweifel am eigenen Verhalten bis zur Freundschaft und dem Bruch mit den vorhergegangenen Werten. Doch trotz aller Annäherung müsste der Erzähler dann weiterhin für die konventionelle Welt, für Robustheit und Tatkraft stehen und diese Seite auch konsequenter und proaktiver gegenüber dem Emeriten zeigen. Heisst: Er dürfte nicht von allem, was Leonhard sagt und tut, überwältigt werden, sondern müsste hier schon auch den Antipoden geben, sodass ein Spannungsverhältnis zwischen den beiden entsteht, anstatt dass der Erzähler wie jetzt um Leo kreist wie ein träger Satellit.

Zur übrigen fantastischen Anlage des Textes kann ich natürlich nur eine Meinung abgeben. Ich persönlich kann mich immer schlecht auf so einen pompösen Tonfall einlassen, wie ihn die Story anschlägt:

Er gab keinen Laut von sich, und dieses Erstarren, das stumme Märtyrertum, machte mich fassungslos.

Bis auf eines: Seine Augen. Sie waren nicht nur blau, sie leuchteten geradezu. Und irgendwie schien die Iris ständig in Bewegung zu sein. Wie Wellen im Wind. Ewig starrte ich auf dieses Farbenspiel, bis ich mich besinnen konnte.

Sein Kopf begann im Takt zu wippen, sanft aber akkurat wie ein Metronom. Meine Nachmittagspläne platzten wie Seifenblasen. Ich sah, wie er die Hände faltete und den Mund leicht öffnete. Als hätte ihn irgendwer – oder irgendwas – narkotisiert.

Für einen Moment war nichts Menschliches mehr in seinem Gesicht. Ich sehe uns noch ganz genau. Sein wahnsinniger Blick zwischen den Ohrmuscheln, während ich zurückwich.

Ich beobachtete, wie das Dachfenster zu einer flackernden Kerze am Ende eines langen Tunnels wurde.

Meine Beine fühlten sich an, als würde ich unter Wasser laufen. Ich bewegte mich trotzdem, und dann hörte ich sie. Ein kreischendes Wehklagen, als würden Nägel über Glas gekratzt.

Nein, er hörte sich an, als gehöre er zu den Göttern des Rock.

Wie früher, als wir zusammen in die schrankenlose, weite Welt des Rock ’n’ Roll abgetaucht sind.

Ich drücke die Stopptaste so fest, dass sie fast bricht.

Das sind alles beispielhafte Stellen für einen Sound, mit dem ich persönlich nicht gut zurechtkomme. Da ist so viel Pathos und Dramatik im Spiel, ich kann da emotional nicht recht mitschwingen. Für mich drückt sich Drama eher in Nuancen aus, unter der Oberfläche, im Nichtgesagten und nur strukturell Vorhandenem, in der letztendlichen Interpretation. Aber da ist jeder anders.

Insofern mache ich hier auch mal Schluss mit meinem Kommentar. Ich denke, dass man daraus schon einen Text machen könnte, der auch mich abholt. Aber da dafür schon einige grundlegende Weichen anders gestellt werden müssten (nüchternerer Sound, anderer Erzähler, etwas anderer Handlungsverlauf), glaube ich nicht, dass du das willst. Dann wäre es, wie es hier gerne so heißt, eventuell "nicht mehr dein Text", nicht mehr der Text, den du vor Augen hast :-)

Insgesamt, das muss ich auch noch sagen, jammere ich hier natürlich schon auf hohem Niveau! Trotz allem habe ich den Text locker runtergelesen und hatte einen klaren Film vor Augen. Ich denke, er wird viele Fans finden!

Freundliche Grüsse

Henry

 

Hallo Rainbow Runner,

Ich tu mir mit deinem Text ehrlich gesagt schwer – und das liegt nicht daran, dass ich mit Musik nichts am Hut hätte. Im Gegenteil: Wenn eine Geschichte funktioniert, ist es egal, ob es um Fußball, Oper oder Vogelkunde geht. „High Fidelity“ ist für mich da immer ein gutes Beispiel: Der Film funktioniert auch für Leute, die die Hälfte der Bands nicht kennen, weil die Musik Vehikel ist – nicht eigentlicher Inhalt.


Bei deinem Text habe ich das Gefühl, dass Musik nicht Vehikel, sondern Prüfstein ist: Entweder man teilt diese spezifische Musikromantik (Kultband, verschollenes Album, Stimmen hinter dem Schleier, Rock als Religion) – oder man bleibt draußen. Für mich war da leider keine emotionale Andockstelle, die über die Faszination für genau diese Art von Musikwelt hinausgeht.


Dazu kommt, dass die Geschichte für mich stark in einen Typus kippt, der mir persönlich einfach Bauchweh macht: dieses „Kunst/Genie/Anderssein rettet oder zerstört die zarte Seele“-Narrativ, das man aus Filmen wie Club der toten Dichter kennt. Sehr viel Leiden, sehr viel Pathos, sehr viel „er lebt in einer anderen Welt“ – aber für meinen Geschmack zu wenig echte Reibung und Ambivalenz.


Dramaturgisch wirkt der Text auf mich eher wie ein Romananfang als wie eine Kurzgeschichte: sehr viel Rückblick, sehr viel Vorgeschichte, viele Szenen, in denen noch mehr über Leo, die Band, das Album, das Laden-Universum erzählt wird – aber ich hatte selten das Gefühl, dass die Geschichte nach vorne gezogen wird oder wirklich unter Spannung steht. Die Kassette am Anfang und Ende rahmt das zwar, trotzdem bleibt für mich über weite Strecken das Gefühl von „wir schauen zurück“, statt „wir erleben etwas Unabwendbares, das auf einen Punkt zuläuft“.

Und das Show und Tell funktioniert für mich auch nicht wirklich:

  • "Du musst so nah wie möglich am Ursprung sein!"
  • "Was ist Wahrheit?"
  • "Weißt du, wie das ist? Ohne Eltern, ohne Freunde. Ganz alleine?"

Das klingt für mich wie Teen-Movie-Philosophie, nicht wie Menschen, die miteinander sprechen.


Und das "Tell" versucht oft zu hart, atmosphärisch zu sein:

  • "Musik war für ihn kein Hobby, sie war sein Überleben" (zeig mir das, sag es mir nicht)
  • "Der Geruch nach toter Luft"
  • "Als hätte mich irgendwer – oder irgendwas – narkotisiert"

Es geht nicht darum, dass "Show" grundsätzlich besser ist als "Tell" – Stephen King ist ein meisterhafter Teller. Aber er erzählt mit emotionaler Präzision, nicht mit schwülstiger Symbolik.


Gruß,
Corwin

 

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