Start wearing purple
Start wearing purple
Es ist ein weißer Tag, als uns meine Schwester verlässt. Schneeflocken wehen mir ins Gesicht. Zart und kitzelig. Ich schließe meine Augen und recke mich gen Flocken. Gezielt und fest traf mich Scharlas Schneeball. Kalinkakalin. Meine Mutter ruft mich und reißt mich aus meinen Erinnerungen, es dämmert mir, was Scharlas Gehen bedeutet. Das Bad ist völlig verdreckt. Wie kannst Du nur in diesem Schmutz dein Gesicht waschen? Träge mache ich mich an die Arbeit. Wo ist Scharla? Scharla ist weg, Mama. Ich suche nach Tränen, nach Schrecken, nach Gefühlen. Aber ihr Gesicht ist verzerrt in Ruhe. Dieses faule, freche Miststück ist sowieso vom Teufel besessen! Es ist ein Schulterzucken, als Scharla uns verlässt.
Sie nennen mich Tscharla. Dabei rollen sie das R, dass meine Vernunft verloren geht. Ich sehe dieses Gebäude von Weitem mit seinem großen Kreuz. Ein Haus Gottes. Ich trete ein und suche nach den dunklen Ecken, in denen sich das Gewusste versteckt. Alte Münzen hängen an der Wand. Ein Gästebuch. Ich schlage es auf: Erleuchtung, Wärme, Wissen. Ach, was sie alles fühlten! Dann finde ich den eigentlichen Eingang. Im Hof umrahmen die Rundbögen die Luft, die aus dem Himmel hinuntersteigt. Mama sagte für gewöhnlich, dass es Gottes Atem sei, der uns den Nacken kühlt. Stühle sind in Reihen aufgestellt, Menschen strömen hinein. Es gibt keine Bühne, aber eine musikalische Truppe. Östliche Klänge mischen sich in meine Ohren. Männer in Priesterkutten tragen Krüge hochgefüllt mit Wein hinein. Die Reihen biegen und brechen sich. Jeder sucht sich seinen Fleck und nimmt einen Becher, oder auch gleich zwei. Mich winkt der Sänger zu sich. Und jetzt nennt er mich Tscharrla. In seinen Armen. Ob mir das gefällt, weiß ich noch nicht. Genauso wie Kalinka. Sie weiß nie, was ihr gefällt.
Meine Schneeflocke, ich habe eine Überraschung für dich! Wenn Mama so lauernd lacht, bedeutet es nichts Gutes, sagte Scharla für gewöhnlich. Ich serviere den Tee und schalte den Fernseher ein. Wir lieben indische Filme. Da ist ein junger Mann, der nach einer Frau sucht. Ein Ingenieur! Hübsch und natürlich aus einer guten Familie. Alles dreht sich in mir, und ich lächle. Ja, freu dich, Kind! Ich habe nämlich ein Treffen arrangiert. Der Tee ist heiß, dennoch ziehe ich ihn in mich hinein, wie eine Schnur, die hoffentlich an einem Mast befestigt ist. Am Samstag lernst du ihn kennen. Er wird dir gefallen. Ich muss an die Schokokekse in der Küche denken. Scharla liebt sie, aber sie musste auch nie auf ihre Linie achten. Ich hole die Kekse und frage mich, ob Scharla und Kalinka wirklich ein Zwilling sind.
Er hat eine tiefe, scharfe Stimme. Ich streiche seinen Bauch entlang, über seine Brust, bis zu seinem Hals. Er ist zu versunken in sein Lied, als dass ihn das ärgern könnte. Dabei wäre jetzt der richtige Moment, mich an den Handgelenken zu packen. Aber das weiß ich eigentlich nicht. Er sieht so aus, als ob er besser wüsste, wann der richtige Moment ist. Jetzt steht seine Musik zwischen uns. Jedoch lässt er mich nicht los, deswegen verzeihe ich ihm jede rhythmische Lautmalerei. Eine Frau mit langem schwarzen Schleier hat ihre Hand in der Hose. In der Hose eines brüllenden Riesen, der mich an Gargantua erinnert: Laut, unersättlich und streichlustig. Ständig sind Mönche um ihn gescharrt, damit rechtzeitig nachgeschenkt wird. Durch den Schleier seiner Mitspielerin schimmern rotgetünchte Lippen. Sie fängt meinen Blick auf und lächelt, mit der anderen Hand presst sie den Schleier auf ihre Lippen und wirft mir einen Kuss zu. Just in diesem Moment tauft ein Mönch sie mit herrlich rotem Wein. Er hat den Halt verloren und knickt nun arschkriecherisch noch mehr ein. Schadenfroh lächle ich zurück, und der Mönch guckt mich zweimal an, eingeschüchtert und entsetzt. Gargantua lärmt und Kalinka würde ihm doch glatt die Füße ablecken, damit er Ruhe gäbe.
Es ist Samstag. Meine Mutter hat mir ein grünes Kleid rausgelegt. Grün ist die Farbe der Hoffnung, und wir wollen doch alle hoffen, dass du bald guter Hoffnung bist. Das Licht ist grell im Haus unserer Freunde. Mit Wärme und Freudesstrahlen heißen sie mich willkommen. Er ist ja ein so guter Junge! Du wirst ihn gleich kennen lernen. Meine orientierungslosen Blicke durchschneiden die Spannung. Es ist wie Warten auf die Braut. Mir fällt es schwer, ins Gedächtnis zu rufen, dass es um mich geht. Um ihn. Um uns. Ich bin wütend auf sie. Auf Mama. Sie präsentiert mich als junges Ding, dessen man sich annehmen müsse. Eine Farce ist das. Aber ich trage grün. Ich habe noch nie einen Mann getroffen, der die Möglichkeit in Betracht gezogen hat, mich zu heiraten. Wie denn auch, wenn sie deine Welt in ihrer Handfläche begrenzt hält. Wo ist Scharla? Meine Trübnis verbuddele ich, als er eintritt und die Leute begrüßt. Im ersten Moment ist es wie ein elektrischer Schlag, als ich seine Worte höre, höflich und ruhig. Ich schäme mich meiner Aufgewühltheit und fürchte, dass man es mir ansieht. Seine Augen lächeln, seine Stimme lullt mich ein. Es ist so lächerlich, kitschig und ... befreiend. Ich schaue zu ihm auf, vergesse aufzustehen, lächle Gott geschenkt. Es ist nur keine Kontrolle mehr in mir. Ich merke, dass meiner Mutter mein Strahlen missfällt. Er reicht mir seine Hand; wieso bewege ich mich so langsam?
Du kannst es dir zwar denken: Raschal. Freut mich, dich kennen zu lernen.
Mich auch, Raschal. Kalinka.
Ich mag deinen Namen.
Mein Vater hat ihn ausgesucht. Er liebte den Schnee. Meine Mutter benannte dafür Scharla.
Start wearing purple, wearing purple. Er fasst mich bei den Händen und tanzt mit mir. Start wearing purple for me now. Aus einer Kiste im Hintergrund fischt er ein leuchtend violettes Kleid. All your sanity and wits, they will all vanish. Und legt es mir um. So drehen wir uns mehrmals im Kreis, bis mir schwindelig wird. I promise, it´s just a matter of time... Er fängt mich auf. Ich verliere die Orientierung und kriege gerade noch mit, wie er mich durch eine Tür zieht. Schwärze verschluckt uns, und ich dränge mich vorsichtig an ihn. Er drückt mir etwas in die Hände. Es ist das Kleid. Tappend folge ich ihm durch die Dunkelheit.
Trag es für mich, Tscharrla!
Sofort?
Keine Antwort. Er bewegt sich von mir weg. Mit Streichhölzern zündet er eine Kerze an, dann die nächste. Immer mehr Licht strahlt in den Raum und trennt Gegenstände. Ein Kruzifix zeichnet sich ab. Wir stehen vor einem Altar. Während er damit beschäftigt ist, die Schwärze zu bekämpfen, tausche ich nun doch meine Reisekleidung gegen dieses violette Kleid. Er wirft keinen einzigen Blick auf mich, während ich mich umziehe.
Das ist ein schönes Kruzifix.
Hat mein Vater geschnitzt. Er liebte das Kreuz.
Schau!
Er dreht sich endlich zu mir und betrachtet mich aufmerksam. Dann nähert er sich und tastet meine Silhouette ab. Ich muss lachen und fühle mich nun zu sehr begutachtet.
Wenn ich schnitzen könnte, würde ich Frauenkörper schnitzen. Deinen auch.
Dann tus doch!
Nein, ich werde was anderes tun.
Dieses Mal trägt er mich, setzt mich schnell ab auf eine Bank. Es ist kalt, hart und eng. Er merkt, dass ich zittere und zieht mich zu sich. Dann streichelt er mich und presst meinen Körper an seinen. Bis ich mich langsam aus meiner Verkrampfung löse und ruhiger atme. Er lacht. Madame gehen wohl nicht oft beten? Ich muss mitlachen und beichte ihm. Nein, das hat mir meine Mutter vermiest. Seine Lippen berühren mein Ohrläppchen. Vorsichtig zieht er an meiner Creole. Beten geht auch anders. Bevor ich ihn fragen kann, hat er mein Gesicht zu sich gedreht und meine Lippen versiegelt. Aus seiner Hose, dem Hemd und dem Kleid legen wir uns ein winziges Nest zurecht. Das Kruzifix thront entfernt, und Jesus schlägt seine Augen schamhaft wie die prüde Kalinka nieder.
Schau, ich habe dir das prächtigste Hochzeitskleid, das du jemals gesehen hast, mitgebracht! Meine Mutter strahlt, und ich zucke zusammen.
Das werde ich nicht tragen.
Meine Ruhe und bestimmte Gegenwehr verwundern uns beide zugleich.
Wieso? Es ist wunderschön. Schau, die Stickereien, der Carmen-Ausschnitt, die Farbe!
Es ist rot.
Ja, ein kräftiges rot. Du bist so weiß, es steht dir bestimmt...
Nein, ich trage nicht rot! Ich werde weiß tragen, wie jede vernünftige Braut, die sich vor Angesicht Gottes trauen lässt.
Was soll diese Verbohrtheit! Alle Inderinnen heiraten in rot. Dort ist es ganz normal, das hast du doch gesehen. Du wirst es tragen!
Ich trage weiß... hörst du?
Wo bleibt deine Dankbarkeit? All die Jahre, die ich für dich geopfert habe! Ich hatte nicht einmal eine Hochzeitsfeier, weil wir zu arm waren. Du trägst es, wenn ich es dir selbst anziehen muss! Willst du mir jetzt genauso aufmüpfig wie deine Schwester werden? Die sich wie eine Diebin mitten in der Nacht fortgestohlen hat!
Ich trage weiß... oder ich heirate gar nicht!
Das Salzwasser schluckt die Sonne in glutigen Häppchen. Heute morgen war ich alleine wach geworden. Das violette Kleid war noch da. Ich wusste nicht, wieso ich es nicht hätte tragen sollen. Hungrig schlenderte ich durch die Gegend, ein runzliger Fischer schenkte mir eine geschälte Kaktusfeige. Die Luft zieht mir in den Nacken, und es fröstelt mich. Während die Sonne ihre Schuld ertränkt. Es wird Zeit. Ich nähere mich dem Haus Gottes und trete ein. Gitarrenklänge und lautes Gelächter. Gargantua zwinkert mir zu, seine Mitspielerin finde ich nicht.
Wo ist die verschleierte Frau?
Hast du nicht gesehen, dass sie schwarz trug? Sie hat ihren eigenen Tod betrauert. Und jetzt stirbt sie in ihrem Kämmerlein.
Er lacht laut und nippelt betont damenhaft an seinem Wein. Die Umstehenden fallen auch in ein großes Lachen ein. Ich fühle mich verspottet und suche ihn. Eine Kubanerin singt, und er streunt um sie herum. Bis sie ihren Part abgesungen hat, dann begleitet er sie. Seine Stimme hat sich diesen neuen Klängen gut angepasst. Nach wie vor melancholisch, aber schmerzhaft sehnsüchtig. So erkenne ich ihn nicht wieder. Ich warte gut sichtbar und versuche einen seiner Blicke zu erhaschen. Aber er schaut niemals auf, ist vertieft in sein heutiges Duett. Sie singen miteinander, und mir scheint es nun, dass er sie gestern bloß vermisste. Wieder zieht kalte Luft in meinen Nacken und verweht meine Gedanken. Gargantua scherzt und trinkt weiter. Ich gehe auf ihn zu. Vielleicht schaue ich herausfordernd zu ihm herab, vielleicht macht er sich erneut nur lustig.
Ist dir meine Gesellschaft nicht zu riesig?
Nein, sie kann gar nicht groß genug sein.
Das amüsiert ihn. Bist ein ernsthaftes Mädchen. Setz dich. Wein? Nein, ich trinke nicht. Das haben Kalinka und ich gemein. Er schließt mich ein in seine spottende Welt, sein Lachen ist ansteckend, löst Kettenreaktionen aus, und es ist so, als ob es mir gut täte.
Du hast eine Schwester, ich habe einen Bruder. Und weißt du, womit er sich beschäftigt?
Ich nehme an, er versäuft nicht seine Abende.
Gelächter und Kopfnicken.
Oh, er ertränkt sich auch. Allerdings in Frauenschößen.
Die Menge ist zu belustigt, und ein Lachsturm breitet sich wieder aus. Zu mir gewandt fügt Gargantua hinzu: Aber er nennt das natürlich anders. Ich denke darüber nach, wie Kalinka ihr Leben bezeichnen würde. Eine Gänsehaut überkommt mich und ich bemerke, dass auch Gargantua fröstelt. Weißt du, dass das Gottes Atem war?
Sie wird immer mehr zu einem plärrenden, hysterischen Zweijährigen, der sich auf den Boden wirft, wenn er nicht bekommt, was er will. Ich gebe meiner Mutter keine Widerworte mehr. Die geplatzte Hochzeit hat ihr zugesetzt. Andererseits bin ich bei ihr geblieben, und ich frage mich... Sie hält mich auf Trab. In den Nächten breiten sich alle verdrängten Gedanken in mir aus, halten meinen Körper unter Strom, so dass ich mich nicht entspannen kann. Raschal hat geheiratet. Scharla ist vom Erdboden verschluckt. Gerüchten zufolge ist sie in ein Kloster gegangen. Haha, in ein Kloster. Das ist Wahnsinn, absoluter, purer Wahnsinn. Ich warte auf die Schneeflockenzeit. Dann werde ich einen Schneemann bauen und Kalinka singen. So wie es mein Vater mit mir gemacht hat. Und dann bewerfe und zerstöre ich ihn mit Schneebällen. Dabei werde ich gelöst auflachen wie Scharla.