Was ist neu

Start wearing purple

Veteran
Seniors
Beitritt
13.05.2001
Beiträge
1.163

Start wearing purple

Start wearing purple

Es ist ein weißer Tag, als uns meine Schwester verlässt. Schneeflocken wehen mir ins Gesicht. Zart und kitzelig. Ich schließe meine Augen und recke mich gen Flocken. Gezielt und fest traf mich Scharlas Schneeball. Kalinkakalin. Meine Mutter ruft mich und reißt mich aus meinen Erinnerungen, es dämmert mir, was Scharlas Gehen bedeutet. Das Bad ist völlig verdreckt. Wie kannst Du nur in diesem Schmutz dein Gesicht waschen? Träge mache ich mich an die Arbeit. Wo ist Scharla? Scharla ist weg, Mama. Ich suche nach Tränen, nach Schrecken, nach Gefühlen. Aber ihr Gesicht ist verzerrt in Ruhe. Dieses faule, freche Miststück ist sowieso vom Teufel besessen! Es ist ein Schulterzucken, als Scharla uns verlässt.

Sie nennen mich Tscharla. Dabei rollen sie das R, dass meine Vernunft verloren geht. Ich sehe dieses Gebäude von Weitem mit seinem großen Kreuz. Ein Haus Gottes. Ich trete ein und suche nach den dunklen Ecken, in denen sich das Gewusste versteckt. Alte Münzen hängen an der Wand. Ein Gästebuch. Ich schlage es auf: Erleuchtung, Wärme, Wissen. Ach, was sie alles fühlten! Dann finde ich den eigentlichen Eingang. Im Hof umrahmen die Rundbögen die Luft, die aus dem Himmel hinuntersteigt. Mama sagte für gewöhnlich, dass es Gottes Atem sei, der uns den Nacken kühlt. Stühle sind in Reihen aufgestellt, Menschen strömen hinein. Es gibt keine Bühne, aber eine musikalische Truppe. Östliche Klänge mischen sich in meine Ohren. Männer in Priesterkutten tragen Krüge hochgefüllt mit Wein hinein. Die Reihen biegen und brechen sich. Jeder sucht sich seinen Fleck und nimmt einen Becher, oder auch gleich zwei. Mich winkt der Sänger zu sich. Und jetzt nennt er mich Tscharrla. In seinen Armen. Ob mir das gefällt, weiß ich noch nicht. Genauso wie Kalinka. Sie weiß nie, was ihr gefällt.

Meine Schneeflocke, ich habe eine Überraschung für dich! Wenn Mama so lauernd lacht, bedeutet es nichts Gutes, sagte Scharla für gewöhnlich. Ich serviere den Tee und schalte den Fernseher ein. Wir lieben indische Filme. Da ist ein junger Mann, der nach einer Frau sucht. Ein Ingenieur! Hübsch und natürlich aus einer guten Familie. Alles dreht sich in mir, und ich lächle. Ja, freu dich, Kind! Ich habe nämlich ein Treffen arrangiert. Der Tee ist heiß, dennoch ziehe ich ihn in mich hinein, wie eine Schnur, die hoffentlich an einem Mast befestigt ist. Am Samstag lernst du ihn kennen. Er wird dir gefallen. Ich muss an die Schokokekse in der Küche denken. Scharla liebt sie, aber sie musste auch nie auf ihre Linie achten. Ich hole die Kekse und frage mich, ob Scharla und Kalinka wirklich ein Zwilling sind.

Er hat eine tiefe, scharfe Stimme. Ich streiche seinen Bauch entlang, über seine Brust, bis zu seinem Hals. Er ist zu versunken in sein Lied, als dass ihn das ärgern könnte. Dabei wäre jetzt der richtige Moment, mich an den Handgelenken zu packen. Aber das weiß ich eigentlich nicht. Er sieht so aus, als ob er besser wüsste, wann der richtige Moment ist. Jetzt steht seine Musik zwischen uns. Jedoch lässt er mich nicht los, deswegen verzeihe ich ihm jede rhythmische Lautmalerei. Eine Frau mit langem schwarzen Schleier hat ihre Hand in der Hose. In der Hose eines brüllenden Riesen, der mich an Gargantua erinnert: Laut, unersättlich und streichlustig. Ständig sind Mönche um ihn gescharrt, damit rechtzeitig nachgeschenkt wird. Durch den Schleier seiner Mitspielerin schimmern rotgetünchte Lippen. Sie fängt meinen Blick auf und lächelt, mit der anderen Hand presst sie den Schleier auf ihre Lippen und wirft mir einen Kuss zu. Just in diesem Moment tauft ein Mönch sie mit herrlich rotem Wein. Er hat den Halt verloren und knickt nun arschkriecherisch noch mehr ein. Schadenfroh lächle ich zurück, und der Mönch guckt mich zweimal an, eingeschüchtert und entsetzt. Gargantua lärmt und Kalinka würde ihm doch glatt die Füße ablecken, damit er Ruhe gäbe.

Es ist Samstag. Meine Mutter hat mir ein grünes Kleid rausgelegt. Grün ist die Farbe der Hoffnung, und wir wollen doch alle hoffen, dass du bald guter Hoffnung bist. Das Licht ist grell im Haus unserer Freunde. Mit Wärme und Freudesstrahlen heißen sie mich willkommen. Er ist ja ein so guter Junge! Du wirst ihn gleich kennen lernen. Meine orientierungslosen Blicke durchschneiden die Spannung. Es ist wie Warten auf die Braut. Mir fällt es schwer, ins Gedächtnis zu rufen, dass es um mich geht. Um ihn. Um uns. Ich bin wütend auf sie. Auf Mama. Sie präsentiert mich als junges Ding, dessen man sich annehmen müsse. Eine Farce ist das. Aber ich trage grün. Ich habe noch nie einen Mann getroffen, der die Möglichkeit in Betracht gezogen hat, mich zu heiraten. Wie denn auch, wenn sie deine Welt in ihrer Handfläche begrenzt hält. Wo ist Scharla? Meine Trübnis verbuddele ich, als er eintritt und die Leute begrüßt. Im ersten Moment ist es wie ein elektrischer Schlag, als ich seine Worte höre, höflich und ruhig. Ich schäme mich meiner Aufgewühltheit und fürchte, dass man es mir ansieht. Seine Augen lächeln, seine Stimme lullt mich ein. Es ist so lächerlich, kitschig und ... befreiend. Ich schaue zu ihm auf, vergesse aufzustehen, lächle Gott geschenkt. Es ist nur keine Kontrolle mehr in mir. Ich merke, dass meiner Mutter mein Strahlen missfällt. Er reicht mir seine Hand; wieso bewege ich mich so langsam?
Du kannst es dir zwar denken: Raschal. Freut mich, dich kennen zu lernen.
Mich auch, Raschal. Kalinka.
Ich mag deinen Namen.
Mein Vater hat ihn ausgesucht. Er liebte den Schnee. Meine Mutter benannte dafür Scharla.

Start wearing purple, wearing purple. Er fasst mich bei den Händen und tanzt mit mir. Start wearing purple for me now. Aus einer Kiste im Hintergrund fischt er ein leuchtend violettes Kleid. All your sanity and wits, they will all vanish. Und legt es mir um. So drehen wir uns mehrmals im Kreis, bis mir schwindelig wird. I promise, it´s just a matter of time... Er fängt mich auf. Ich verliere die Orientierung und kriege gerade noch mit, wie er mich durch eine Tür zieht. Schwärze verschluckt uns, und ich dränge mich vorsichtig an ihn. Er drückt mir etwas in die Hände. Es ist das Kleid. Tappend folge ich ihm durch die Dunkelheit.
Trag es für mich, Tscharrla!
Sofort?
Keine Antwort. Er bewegt sich von mir weg. Mit Streichhölzern zündet er eine Kerze an, dann die nächste. Immer mehr Licht strahlt in den Raum und trennt Gegenstände. Ein Kruzifix zeichnet sich ab. Wir stehen vor einem Altar. Während er damit beschäftigt ist, die Schwärze zu bekämpfen, tausche ich nun doch meine Reisekleidung gegen dieses violette Kleid. Er wirft keinen einzigen Blick auf mich, während ich mich umziehe.
Das ist ein schönes Kruzifix.
Hat mein Vater geschnitzt. Er liebte das Kreuz.
Schau!
Er dreht sich endlich zu mir und betrachtet mich aufmerksam. Dann nähert er sich und tastet meine Silhouette ab. Ich muss lachen und fühle mich nun zu sehr begutachtet.
Wenn ich schnitzen könnte, würde ich Frauenkörper schnitzen. Deinen auch.
Dann tus doch!
Nein, ich werde was anderes tun.
Dieses Mal trägt er mich, setzt mich schnell ab auf eine Bank. Es ist kalt, hart und eng. Er merkt, dass ich zittere und zieht mich zu sich. Dann streichelt er mich und presst meinen Körper an seinen. Bis ich mich langsam aus meiner Verkrampfung löse und ruhiger atme. Er lacht. Madame gehen wohl nicht oft beten? Ich muss mitlachen und beichte ihm. Nein, das hat mir meine Mutter vermiest. Seine Lippen berühren mein Ohrläppchen. Vorsichtig zieht er an meiner Creole. Beten geht auch anders. Bevor ich ihn fragen kann, hat er mein Gesicht zu sich gedreht und meine Lippen versiegelt. Aus seiner Hose, dem Hemd und dem Kleid legen wir uns ein winziges Nest zurecht. Das Kruzifix thront entfernt, und Jesus schlägt seine Augen schamhaft wie die prüde Kalinka nieder.

Schau, ich habe dir das prächtigste Hochzeitskleid, das du jemals gesehen hast, mitgebracht! Meine Mutter strahlt, und ich zucke zusammen.
Das werde ich nicht tragen.
Meine Ruhe und bestimmte Gegenwehr verwundern uns beide zugleich.
Wieso? Es ist wunderschön. Schau, die Stickereien, der Carmen-Ausschnitt, die Farbe!
Es ist rot.
Ja, ein kräftiges rot. Du bist so weiß, es steht dir bestimmt...
Nein, ich trage nicht rot! Ich werde weiß tragen, wie jede vernünftige Braut, die sich vor Angesicht Gottes trauen lässt.
Was soll diese Verbohrtheit! Alle Inderinnen heiraten in rot. Dort ist es ganz normal, das hast du doch gesehen. Du wirst es tragen!
Ich trage weiß... hörst du?
Wo bleibt deine Dankbarkeit? All die Jahre, die ich für dich geopfert habe! Ich hatte nicht einmal eine Hochzeitsfeier, weil wir zu arm waren. Du trägst es, wenn ich es dir selbst anziehen muss! Willst du mir jetzt genauso aufmüpfig wie deine Schwester werden? Die sich wie eine Diebin mitten in der Nacht fortgestohlen hat!
Ich trage weiß... oder ich heirate gar nicht!

Das Salzwasser schluckt die Sonne in glutigen Häppchen. Heute morgen war ich alleine wach geworden. Das violette Kleid war noch da. Ich wusste nicht, wieso ich es nicht hätte tragen sollen. Hungrig schlenderte ich durch die Gegend, ein runzliger Fischer schenkte mir eine geschälte Kaktusfeige. Die Luft zieht mir in den Nacken, und es fröstelt mich. Während die Sonne ihre Schuld ertränkt. Es wird Zeit. Ich nähere mich dem Haus Gottes und trete ein. Gitarrenklänge und lautes Gelächter. Gargantua zwinkert mir zu, seine Mitspielerin finde ich nicht.
Wo ist die verschleierte Frau?
Hast du nicht gesehen, dass sie schwarz trug? Sie hat ihren eigenen Tod betrauert. Und jetzt stirbt sie in ihrem Kämmerlein.
Er lacht laut und nippelt betont damenhaft an seinem Wein. Die Umstehenden fallen auch in ein großes Lachen ein. Ich fühle mich verspottet und suche ihn. Eine Kubanerin singt, und er streunt um sie herum. Bis sie ihren Part abgesungen hat, dann begleitet er sie. Seine Stimme hat sich diesen neuen Klängen gut angepasst. Nach wie vor melancholisch, aber schmerzhaft sehnsüchtig. So erkenne ich ihn nicht wieder. Ich warte gut sichtbar und versuche einen seiner Blicke zu erhaschen. Aber er schaut niemals auf, ist vertieft in sein heutiges Duett. Sie singen miteinander, und mir scheint es nun, dass er sie gestern bloß vermisste. Wieder zieht kalte Luft in meinen Nacken und verweht meine Gedanken. Gargantua scherzt und trinkt weiter. Ich gehe auf ihn zu. Vielleicht schaue ich herausfordernd zu ihm herab, vielleicht macht er sich erneut nur lustig.
Ist dir meine Gesellschaft nicht zu riesig?
Nein, sie kann gar nicht groß genug sein.
Das amüsiert ihn. Bist ein ernsthaftes Mädchen. Setz dich. Wein? Nein, ich trinke nicht. Das haben Kalinka und ich gemein. Er schließt mich ein in seine spottende Welt, sein Lachen ist ansteckend, löst Kettenreaktionen aus, und es ist so, als ob es mir gut täte.
Du hast eine Schwester, ich habe einen Bruder. Und weißt du, womit er sich beschäftigt?
Ich nehme an, er versäuft nicht seine Abende.
Gelächter und Kopfnicken.
Oh, er ertränkt sich auch. Allerdings in Frauenschößen.
Die Menge ist zu belustigt, und ein Lachsturm breitet sich wieder aus. Zu mir gewandt fügt Gargantua hinzu: Aber er nennt das natürlich anders. Ich denke darüber nach, wie Kalinka ihr Leben bezeichnen würde. Eine Gänsehaut überkommt mich und ich bemerke, dass auch Gargantua fröstelt. Weißt du, dass das Gottes Atem war?

Sie wird immer mehr zu einem plärrenden, hysterischen Zweijährigen, der sich auf den Boden wirft, wenn er nicht bekommt, was er will. Ich gebe meiner Mutter keine Widerworte mehr. Die geplatzte Hochzeit hat ihr zugesetzt. Andererseits bin ich bei ihr geblieben, und ich frage mich... Sie hält mich auf Trab. In den Nächten breiten sich alle verdrängten Gedanken in mir aus, halten meinen Körper unter Strom, so dass ich mich nicht entspannen kann. Raschal hat geheiratet. Scharla ist vom Erdboden verschluckt. Gerüchten zufolge ist sie in ein Kloster gegangen. Haha, in ein Kloster. Das ist Wahnsinn, absoluter, purer Wahnsinn. Ich warte auf die Schneeflockenzeit. Dann werde ich einen Schneemann bauen und Kalinka singen. So wie es mein Vater mit mir gemacht hat. Und dann bewerfe und zerstöre ich ihn mit Schneebällen. Dabei werde ich gelöst auflachen wie Scharla.

 

Hallo Zaza,

oh je, ich befürchte, dass ich deine Geschichte nicht wirklich verstehe.

Nun, ich versuche es einmal:

Zwei Schwestern, die unterschiedliche Wege gegangen sind. Obwohl ihr Leben sehr verschieden verläuft, sind sie in Gedanken noch immer bei der Anderen. Ihr Leben verläuft zwar sehr unterschiedlich, doch trotzdem erleben sie irgendwie das gleiche, wenn auch in anderen Extremen. Am Deutlichsten habe ich das bei dem weißen und dem türkisen Kleid empfunden.
Ob es hier wohl um die unerklärliche Verbundenheit zwischen Zwilligen geht, auf die du anspielst?

Ich hoffe jetzt mal, dass ich nicht total daneben liege.

Gut hat mir gefallen, dass du auch ein wenig Gesellschaftskritik mit in deine Geschichte bringst. Das gibt der Geschichte sehr viel Tiefe.

Was soll ich zu deinem Stil sagen? Ich bin begeistert. Gerade deine Metaphern sind unglaublich gut getroffen.

Eine Kleinigkeit:

Dabei wäre jetzt der richtige Moment, mich an den Handgelenken zu packen. Aber das weiß ich eigentlich nicht. Er sieht so aus, als ob er besser wüsste, wann der richtige Moment ist.

Rein von der Sprachmelodie fände ich es besser, wenn du den fett markierten Teil streichst.

LG
Bella

 

eine geschichte

und die leser haben die sehnsucht nach eindeutigkeit

wissen ist illusion

was mich aber geschäftigt
es ist nur ein kleiner gedanke von vielen
aber es ist gerade ein konjukturthema
und ich denke daran

dass violett eine im christentum symbolträchtige farbe ist weiss ich

was ist mit deinem grün. ok, das mit der hoffnung und schwangerschaftsfunktion ist gelungen. aber grün ist ja auch die farbe des islam. spielt dir das eine rolle?

und dann dieses nur in weiss heiraten wollen
was ist das

ist das ein festhalten an pathetischen konventionen
oder ist das ein weiss im physikalischen sinne
welches alle farben enthält
oder ein weiss in der tradition der roma welches eine farbe der trauer ist

ach ja
ich glaube nicht dass gargantua frösteln würde
nur wegen gottes atem

ich habe fragend formuliert aber ich erwarte keine antworten

es ist alles alles.

 

Hallo Zaza,

hui, da hast du ja wirklich eine anspruchsvolle Geschichte hingelegt. Man muss wirklich aufpassen um den Details folgen zu können und ist hinterher trotzdem nicht ganz sicher alle Zusammenhänge verstanden zu haben.
Ich bin einfach mal so frei und wage mich an eine Detail-Kritik (dazu möchte ich aber kurz erwähnen, dass ich nicht weiß, was das Thema des Monats ist/war - schließlich sollten die Geschichten für sich selbst stehen können ;) ).

Eine erste Schwierigkeit neim Lesen ergibt sich zum Teil durch den Erzählstil. Er ist wirklich gut, mit einigen fantastischen Perlen dazwischen, aber beizeiten hatte ich den Eindruck, dass er ein wenig aufgesetzt wirkt, bzw. unnötig verkompliziert.
Ich fange also mal mit dem rein formellen an:

Es ist ein weißer Tag, als uns meine Schwester verlässt.
Der Satz ist korrekt, aber ich persönlich empfand ihn als Einstieg ziemlich kompliziert. Er hat mich gar nicht erst in den Lesefluß hineingezogen, sondern mich erst einmal festgehalten, weil ich mich fragte, was daran nicht stimmt. Nun, eine Unstimmigkeit habe ich zwar nicht gefunden, aber ich würde trotzdem eine leichte Umschreibung empfehlen, die den Leser erst langsam an den Stil heranführt und nicht direkt mit der Keule bedroht.
Ich schließe meine Augen und recke mich gen Flocken.
"Gen" ist ein überaus hochgestochener Ausdruck und bezeichnet mE auch eher eine Örtlichkeit, bzw. Richtung. "Wir zogen gen Norden", "Gen Jerusalem schritten wir", etc... Wrum nicht einfach "und recke mich ihnen entgegen"? Damit hättest du auch die Wiederholung der Flocken gestrichen.
Aber ihr Gesicht ist verzerrt in Ruhe.
Hier stört mich das "verzerrt". Es sagt mir, dass die Mutter es ganz und gar nicht leicht nimmt, dass ihre Tochter sie verlässt und es eigentlich in ihr brodelt. Aber mMn kann man sein Gesicht nicht zur Ruhe "verzerren". Wenn man ein freundliches oder unbeteiligtes Gesicht "aufsetzt" legt man eine gewisse Starre in seine Züge, um durch die Mimik etwas zu verraten. Was hälst du also von "Aber ihr Gesicht ist eine starre Maske"?
Männer in Priesterkutten tragen Krüge, hochgefüllt mit Wein, hinein.
Der Tee ist heiß, dennoch ziehe ich ihn in mich hinein, wie eine Schnur, die hoffentlich an einem Mast befestigt ist.
Diese Metapher wirkt erst im Nachhinein. Sie sehnt/bzw. hofft auf einen Rettungsanker, der irgendwo steckt, sei es in Form eines Menschen, eines Wortes oder eines Ereignisses, da sie weiß worauf dieses Gespräch über das Treffen hinauslaufen wird.
Der Tee ist also das Gespräch über das besvorstehende Treffen mit einem Bräutigam, das erzählt wird, während sie trinkt. Schluck um Schluck, Wort um Wort... und sie hofft, dass am Ende etwas kommt, dass sie nicht schlucken muss/kann. Eigentlich gut gewählt, aber beim ersten Lesen fasst man sich wirklich an den Kopf, weil der Vergleich so entsetzlich übertrieben scheint.
Scharla liebt sie, aber sie musste auch nie auf ihre Linie achten.
Der Satz stört, weil er zwei Zeiten beinhaltet, obwohl Scharla schon seit einiger Zeit fort ist. Er regt zwar weiter zum Nachdenken an und beinhaltet sogar recht viele weitere Informationen (sie lebt noch, sie hatte Dinge, die ihr wirklich gefielen, etc...) aber er hemmt den Lesefluß.
ob Scharla und Kalinka wirklich ein Zwilling sind.
Wieder so ein Satz, der inhaltlich absolut korrekt ist, aber schwer verdaulich wirkt. Sprachgebrauch ist, dass man "ob sie Zwillinge sind" sagt; dieses "ein Zwilling" sagt aber, dass sie ein verwandtes Geschwisterpaar sind. Hier lege ich es absolut in dein Ermessen, ob du dem Leser helfen möchtest, indem du vereinfachst.
Laut, unersättlich und streichlustig.
Hier hats mich wieder einmal geschmissen, weil ich zuerst grübeln musste, was du meinst. Ich dachte wirklich erst du meintest, sie würde gerne Streiche spielen. Klar erklärt es sich aus dem Zusammenhang, aber ich habe es nunmal als erstes so gelesen. :D Wie wäre es denn mit "berührungsgeil"?
Mit Wärme und Freudesstrahlen heißen sie mich willkommen.
Klingt in meinen Ohren wie eine Wortneuschöpfung. Hier ist wieder mal das Problem, dass ich nicht genau weiß, ob du es beabsichtigt gewählt hast ("Freudesstrahlen" gibt keinerlei nähere Beziehung zu den Prots, beschreibt äusserst distanziert und würde somit aus Sicht der Protagonistin beschreiben, dass sie Abstand hält und sich nicht mit ihnen freut, etc...) oder dir das Wort dazwischen gerutscht ist. Bei Letzterem würde ich ein Umschreiben empfehlen, z.B. "Mit Wärme und strahlenden Augen...".
Du kannst es dir zwar denken: Raschal. Freut mich, dich kennen zu lernen.
Nur eine Kleinigkeit, trotzdem aufgefallen. Ein "zwar" schreit in meinen Ohren auch nach einem "aber", "dennoch" oder ähnlichem.

Was diesen Text vor allem so schwierig macht ist, dass keine Anführungszeichen gesetzt sind und die Perspektivwechsel zwar durch Abschnitte gekennzeichnet sind, dennoch miteinander verwischen. Ich versuche also mal mein Glück:

Die Geschichte handelt von fünf Protagonisten, von denen drei einen Namen haben:
Die Mutter,
ihre Töchter Kalinka (die erste Ich-Erzählerin in den ungeraden Abschnitten, mit denen die Geschichte beginnt und endet),
Scharla (bzw. Tscharrla in der Aussprache),
Raschal, der als der Bräutigam Kalinkas vorgestellt wird,
und dessen Bruder, der auf Scharla trifft.

Scharla konnte die konservative Sichtweise ihrer Mutter nicht mehr ertragen, wollte für sich selbst entscheiden und ging von ihr fort.
Farben stehen dabei sehr im Vordergrund (grünes Kleid der Hoffnung auf Schwangerschaft, rotes Hochzeitskleid, roter Wein und vor allem das purpurne Kleid - in allen Richtungen ein Symbol für das Lösen von der eigenen Familie und ein Erwachsenwerden. Und vor allem weiß - Das Hochzeitskleid, der Schnee - in Namen und Realitäte, die Geschichte beginnt und endet damit. Vielleicht ein Symbol für die Unschuld, die Kalinka am Weggang Scharlas hat? Scharla ging fort und die Mutter konzentriert sich umso mehr auf Kalinka, die aber sucht ihre Absolution, und sehnt sich nach dem Freiraum ihrer Schwester.

Eines jedoch habe ich nicht ganz durchblicken können:
Raschal ist also derjenige, der die Frauen schwängert, ausnutzt, etc... Wird ja auch zum Ende hin deutlich: Hochzeit geplatzt, Kalinka trotzdem Mutter. Allerdings hätte ich den Ausnutzer eher als den Bruder gesehen, der Scharla in der Kirche verführt.
Übrigens verwirrt mich die Erzählung Scharlas komplett...
Sie geht ins Kloster? Oder ist sie bei einer Sekte? Auf letzteres könnte man aufgrund der sexuellen Spielchen schließen (zuerst dachte ich sogar an Satanismus :D ), aber es sind doch alles Inder, die da beschrieben werden: Raschals Bruder, Scharla, Gagantua...
Hinweis auf eine Integration nach eigenem Ermessen der Protagonisten?


Die Geschichte lässt mich also mit ein paar Fragezeichen zurück, aber ich hoffe, dass dir meine Ausführungen und das Rätselraten trotzdem ein wenig weiterhelfen.
Der Stil hat mir trotz der Verwirrungen gut gefallen, auch wenn ich mir das eine oder andere Anführungszeichen mehr gewünscht hätte. ;)

Das Kruzifix thront entfernt, und Jesus schlägt seine Augen schamhaft wie die prüde Kalinka nieder.
Geiler Satz, geniales Bild! :thumbsup:

LG,
:zensiert:

 
Zuletzt bearbeitet:

Puh, am Schluss doch noch alles verstanden. Scharla ist zu ner Sekte abgehauen und Kalinka ist geblieben. Obwohl sie Zwillinge sind, haben sie sich total unterschiedlich entwickelt. Die eine Schwester in der Welt der konservativen Erziehung der Mutter (bis Kalinka ironischerweise am Ende noch konservativer als die Mutter selbst ist) und die andere in der Welt der blasphemischen Orgien einer Sekte. Jetzt hab ich mich wohl die ganze Zeit über endlos blamiert. Naja, aber du bist schu-u-uld! Weil du alles so un-durch-sich-tig gema-acht ha-ast! Ätsch.

Diese Zusammenfassung haut mich immer noch um. Genial.
Deine Interpretation Sekte: Sicher ist das ne Art Club oder so. Oder auch nur ein Ort, an dem sich Leute treffen. Es ist aber nichts exclusives. Scharla konnte einfach rein, und die Frau in Schwarz konnte einfach zuhause bleiben. In diesem Text sind mehre Gottinterpretationen vereint oder existieren nebeneinander. Eigentlich will ich nur sagen: Sekte klingt mir zu radikal.

Zwei Schwestern, die unterschiedliche Wege gegangen sind. Obwohl ihr Leben sehr verschieden verläuft, sind sie in Gedanken noch immer bei der Anderen. Ihr Leben verläuft zwar sehr unterschiedlich, doch trotzdem erleben sie irgendwie das gleiche, wenn auch in anderen Extremen.

Gut beobachtet! Nun ja, das Bild der Zwillinge hat hier eine Funktion, deswegen geht es mir nicht um das Phänomen ihrer Verbundenheit, nein, ich habe dieses Phänomen/Klischee hier einfach missbraucht.

ach ja
ich glaube nicht dass gargantua frösteln würde
nur wegen gottes atem

Er fröstelt, weil ihm kalt wird. Dass dieses Windchen Gottes Atem ist, ist eine Interpretation von Scharla. Naja, gar nicht einmal. Eine Int. der Mama, mit der hier gespielt wird.

Aber ihr Gesicht ist verzerrt in Ruhe.

Und hier das gleiche: Das ist Kalinkas Sicht. Und sie empfindet die absolute Ruhe und Gleichgültigkeit ihrer Mutter als Verzerrung.

Laut, unersättlich und streichlustig.

Es ist hier so gemeint: Gerne Streiche spielen.

Noch zu einem Missverständnis: Kalinka hat kein Kind. Das zweijährige Kind ist die Mama. Sie wird immer hysterischer, sobald Kalinka ihr nicht gehorcht.

Somit blieb Mama´s Hoffnung auf Enkelkinder unerfüllt. Das ist doch wichtig, deswegen stelle ich das klar. Vielleicht mache ich das auch noch im Text deutlicher. Haben das alle missverstanden?

Jetzt habe ich vergessen: Danke an alle fürs Lesen und Kommentieren!

 

Hallo Zaza,

unsichtbare Bänder, die deine Protagonisten zusammenhalten, auch wenn die Lebenswege sich trennen. Weder Mutter noch Kalinka lassen Charla los, so gut sie sich auch vor ihnen verstecken mag. Und auch sie lässt die beiden nicht los, nicht einmal in der Lust.
Lebensentwürfe scheitern oder werden gar nicht erst aufgestellt.
Die eine, nur raus aus der Enge, bleibt ihr gedanklich verhaftet, die andere, aus Trotz in der Enge verharrend, gönnt sich gedankliche Freiheit.
Ein faszinierendes Spiel über die sozialen Verstrickungen einer Familie, ihrer Traditionen und ihrer Sozialisation.
Indien hat mich irritiert, den Namen nach hätte ich eher an russisch orthodox gedacht. Vielleicht ist aber Indien auch nur die Heimat der Bollywood entliehenen romantischen Sehnsucht?

Soweit meine Gedanken.

Dir einen lieben Gruß, sim

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom