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Stehen geblieben
Ich hole die Uhr aus dem Schrank. Ein schönes Modell. Silber und Gold, marineblaues Ziffernblatt, Stundenindexe in Strichform. Vor fünf Jahren hat Mark mir zum Geburtstag eine längliche Schachtel überreicht, in der diese Uhr lag. Lange Zeit ruhte die Uhr im Schrank. Aber das matte Gold und Silber lassen darauf schließen, dass die Trägerin sie einst Tag für Tag getragen hatte.
Ihre goldenen Zeiger stehen still. Ich halte sie an mein Ohr. Das leise Ticken ist verstummt.
Ich sollte Mark besuchen. Doch mir ist nicht danach. Ich sehe es wie eine Verpflichtung. Ist das der Sinn einer Beziehung? Sollte man sich nicht eher danach sehnen, seinen Partner endlich zu treffen? Zwei Monate haben wir uns nicht mehr gesehen. Nur gelegentlich telefoniert. - Zwei Freunde. Keine Seelenverwandten, keine Partner, kein Liebespaar mehr. Auch bevor ich ins Ausland gegangen war, war mir, als existierten wir nur noch friedlich nebeneinander. Jeder lebte sein Leben.
Wenig später stehe ich vor seiner Tür. Mark bittet mich herein, umarmt mich. Auf seinen Lippen ist ein freundliches Lächeln. Seine Augen nehmen nicht den besonderen Glanz an, wie damals, in den ersten zwei, drei Jahren unserer Beziehung, wenn wir einander ansahen. Sein Kuss ist höflich. Nur unsere Wangen berühren sich sacht.
In seinen Augen erkenne ich: Sein Herz ist leer. Eigentlich überrascht es mich nicht. Denn unser Wiedersehen weckt auch keine tiefen Emotionen in mir. Mein Herz hüpft nicht mehr aufgeregt in der Brust. Mein Körper schreit nicht mehr danach, von Mark in die Arme genommen, geküsst zu werden. Ist alles vorbei? Wo sind die liebevollen Kosenamen? Wo ist die tiefe Leidenschaft der ersten Jahre?
Wir waren einst unzertrennlich, lachten viel gemeinsam, reisten durch fremde Länder.
Mark lehnt an der Wand, die Hände in den Hosentaschen. Kein Wort kommt über seine Lippen. Sein Blick ist auf den Boden gerichtet. Vielleicht wartet er, dass ich es sage.
„Hast du nicht auch den Eindruck, dass wir uns auseinander gelebt haben?“, frage ich leise. Mark erwidert nichts. Schweigend steht er da. „Spürst du es? Uns verbindet nichts mehr miteinander.“
Du warst die Hälfte, die uns zu einem Kugelmenschen machte, möchte ich verzweifelt herausschreien. Du warst mein Yin. Wieso hast du dich verändert? Wo ist dein Abenteuergeist geblieben? Wo ist deine Lebensfreude, von der ich reichlich kosten durfte? Wieso bin ich anders geworden? Warum haben wir einander aus den Augen verloren, obwohl wir einander so nahe waren?
„Ich denke …“ Es fällt mir schwer, die Worte über die Lippen zu bringen. In ihnen liegt etwas Endgültiges, das jede aufkeimende Hoffnung, die Liebe könne eines Tages erneut erwachen, erstickt. Aber ich sage es trotzdem. „Ich denke, wir sollten eine Beziehungspause einlegen.“ Stumm nickt Mark. Unsere Blicke begegnen sich nicht.
Wir beide wissen, dass eine Pause in Wirklichkeit für das Ende unserer Beziehung steht.
Dann gehe ich. Kalter Wind treibt mir einzelne Haarsträhnen ins Gesicht. Keine Tränen treten in meine Augen, obwohl ich deutlich fühle, als wäre ein Teil von mir gestorben. Die Nachwirkungen dieser Entscheidung werde ich allerdings erst Tage später spüren, sobald mich die Einsamkeit in meinen vier Wänden heimsucht.
Auf meinem Schreibtisch liegt seine Uhr. Als ich sie anlege, schmiegt sie sich sanft um mein Handgelenk. Irgendwann werden sich ihre Zeiger wieder drehen. Irgendwann werde ich wieder das vertraue Ticken hören.
Ich weiß es.