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Stehen geblieben

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29.06.2007
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Stehen geblieben

Ich hole die Uhr aus dem Schrank. Ein schönes Modell. Silber und Gold, marineblaues Ziffernblatt, Stundenindexe in Strichform. Vor fünf Jahren hat Mark mir zum Geburtstag eine längliche Schachtel überreicht, in der diese Uhr lag. Lange Zeit ruhte die Uhr im Schrank. Aber das matte Gold und Silber lassen darauf schließen, dass die Trägerin sie einst Tag für Tag getragen hatte.
Ihre goldenen Zeiger stehen still. Ich halte sie an mein Ohr. Das leise Ticken ist verstummt.
Ich sollte Mark besuchen. Doch mir ist nicht danach. Ich sehe es wie eine Verpflichtung. Ist das der Sinn einer Beziehung? Sollte man sich nicht eher danach sehnen, seinen Partner endlich zu treffen? Zwei Monate haben wir uns nicht mehr gesehen. Nur gelegentlich telefoniert. - Zwei Freunde. Keine Seelenverwandten, keine Partner, kein Liebespaar mehr. Auch bevor ich ins Ausland gegangen war, war mir, als existierten wir nur noch friedlich nebeneinander. Jeder lebte sein Leben.
Wenig später stehe ich vor seiner Tür. Mark bittet mich herein, umarmt mich. Auf seinen Lippen ist ein freundliches Lächeln. Seine Augen nehmen nicht den besonderen Glanz an, wie damals, in den ersten zwei, drei Jahren unserer Beziehung, wenn wir einander ansahen. Sein Kuss ist höflich. Nur unsere Wangen berühren sich sacht.
In seinen Augen erkenne ich: Sein Herz ist leer. Eigentlich überrascht es mich nicht. Denn unser Wiedersehen weckt auch keine tiefen Emotionen in mir. Mein Herz hüpft nicht mehr aufgeregt in der Brust. Mein Körper schreit nicht mehr danach, von Mark in die Arme genommen, geküsst zu werden. Ist alles vorbei? Wo sind die liebevollen Kosenamen? Wo ist die tiefe Leidenschaft der ersten Jahre?
Wir waren einst unzertrennlich, lachten viel gemeinsam, reisten durch fremde Länder.
Mark lehnt an der Wand, die Hände in den Hosentaschen. Kein Wort kommt über seine Lippen. Sein Blick ist auf den Boden gerichtet. Vielleicht wartet er, dass ich es sage.
„Hast du nicht auch den Eindruck, dass wir uns auseinander gelebt haben?“, frage ich leise. Mark erwidert nichts. Schweigend steht er da. „Spürst du es? Uns verbindet nichts mehr miteinander.“
Du warst die Hälfte, die uns zu einem Kugelmenschen machte, möchte ich verzweifelt herausschreien. Du warst mein Yin. Wieso hast du dich verändert? Wo ist dein Abenteuergeist geblieben? Wo ist deine Lebensfreude, von der ich reichlich kosten durfte? Wieso bin ich anders geworden? Warum haben wir einander aus den Augen verloren, obwohl wir einander so nahe waren?
„Ich denke …“ Es fällt mir schwer, die Worte über die Lippen zu bringen. In ihnen liegt etwas Endgültiges, das jede aufkeimende Hoffnung, die Liebe könne eines Tages erneut erwachen, erstickt. Aber ich sage es trotzdem. „Ich denke, wir sollten eine Beziehungspause einlegen.“ Stumm nickt Mark. Unsere Blicke begegnen sich nicht.
Wir beide wissen, dass eine Pause in Wirklichkeit für das Ende unserer Beziehung steht.
Dann gehe ich. Kalter Wind treibt mir einzelne Haarsträhnen ins Gesicht. Keine Tränen treten in meine Augen, obwohl ich deutlich fühle, als wäre ein Teil von mir gestorben. Die Nachwirkungen dieser Entscheidung werde ich allerdings erst Tage später spüren, sobald mich die Einsamkeit in meinen vier Wänden heimsucht.
Auf meinem Schreibtisch liegt seine Uhr. Als ich sie anlege, schmiegt sie sich sanft um mein Handgelenk. Irgendwann werden sich ihre Zeiger wieder drehen. Irgendwann werde ich wieder das vertraue Ticken hören.
Ich weiß es.

 

Hallo Shana,

herzlich Willkommen in Kg.de

Deine Geschichte gefällt mir, sehr melancholisch die Stimmung, das hast du sehr gut rüber gebracht. Was mir besonders gefällt, der Titel und die Verbindung zur Uhr am Anfang und noch einmal am Schluss, das ist dir sehr gelungen, fantastisch.:thumbsup:

Einige Irrläufer sind mir aufgefallen:

>Beziehung, wenn wir einander sahen.< ansahen, es geht hierbei, um in die Augen schauen

>Sein Kuss ist höflich. Fast schon förmlich.< Kann ein Kuss formell sein?

>Du warst die Hälfte, die uns zu einem Kugelmenschen machte,< Was ist ein Kugelmensch, ich kenne nur einen Kugelfisch. Da würde ich eine andere Formulierung nehmen. Vielleicht, du warst der, der mein Herz erfüllte oder der mein Herz zum Springen brachte oder so.

>obwohl wir einander so nahe sind? <müsste es hier nicht heißen: so nahe waren?

Das war es, alles andere ist rund, wie ein Kugelfisch. Sehr gern gelesen, bin gespannt was da noch kommt.

Liebe Grüße aus der Weltflucht

 

Vielen Dank, Weltflucht, für den Willkommensgruß und die positive, sowie die konstruktive Kritik. Besonders konstruktive Kritik ist ja - wie allgemein bekannt - Gold wert. :)

Ja, mit den Kritikpunkten bin ich einverstanden. Und, wegen der Kugelmenschen ... Also laut Platon gab es den Mythos der Kugelmenschen, die durch die Götter in zwei Hälften geteilt wurden, da sie eben diesen wegen ihrer körperlichen Stärken zu gefährlich wurden. Da diese Hälften unvollständig waren, suchten sie stets nach ihrem Gegenstück, um ihre Mängel auszugleichen und das Glücksgefühl zu erfahren (usw.).

Mfg, Shana-Re

 

Hallo Shana-Re,

auch von mir ein herzliches Willkommen hier auf kg.de :).

Deine Geschichte war sehr flüssig zu lesen und brachte mir die Prot nahe. Ein paar Dinge möchte ich anmerken:

Ich sollte Mark besuchen. Doch mir ist nicht danach. Zwei Monate haben wir uns nicht mehr gesehen. Nur gelegentlich telefoniert.
Was meint die Prot mit dem "ich sollte"?
Ist er krank? Müssen sie zusammen etwas erledigen, das keinen Aufschub bekommt?

In seinen Augen erkenne ich: Sein Herz ist leer.
Naja, jedenfalls für die Prot. Aber das dann zu generalisieren?


Eigentlich überrascht es mich nicht. Denn unser Wiedersehen weckt auch keine tiefen Emotionen in mir.
Emotionen ... sagt man das? Wäre Gefühle nicht besser?
Wo sind die liebevollen Kosenamen? Wo ist die tiefe Leidenschaft der ersten Jahre? Wir waren einst unzertrennlich, reisten durch fremde Länder, lernten neue Kulturen kennen.
Wenn man durch fremde Länder reist, lernt man automatisch neue Kulturen kennen. Somit ist dieser Nebensatz redundant, also nicht notwendig.

Wieso hast du dich verändert? Wieso bin ich anders geworden? Warum haben wir einander aus den Augen verloren, obwohl wir einander so nahe sind?
Am Rande:
Ist ja schon eine unverschämte Frage: Wieso hast du dich verändert? Das muss ja jedem Menschen zustehen.
Die Nachwirkungen dieser Entscheidung werde ich allerdings erst Tage später spüren, sobald mich die Einsamkeit in meinen vier Wänden heimsucht.
Diesen Satz empfinde ich unpassend, da du quasi den Ich-Erzähler als allwissenden präsentierst.

Irgendwann werden sich ihre Zeiger wieder drehen. Irgendwann werde ich wieder das vertraue Ticken hören.
Ich weiß es.
Den ganzen Text über kam mir die Prot sehr erfahren und reif vor. Nun verstehe ich aber diesen Gedankengang nicht: Ist das einfach nur naive Hoffnung, die sie zu diesen Gedanken treibt?

Sehr positiv ist auch deine fehlerlose Schreibe, soweit ich das beurteilen kann, das erlebt man hier nicht gar so oft :).

Das Zusammenspiel zwischen Titel und Geschichte gefällt mir auch.

Liebe Grüße
bernadette

Edit:

Ja, mit den Kritikpunkten bin ich einverstanden.
Du darfst die Geschichte endlos oft ändern :)

 

Hej Shana-Re,

die stehengebliebene Uhr als Rahmen gefällt mir fast besser als das Dazwischen. Andererseits ist die Geschichte so schön eingefügt . . .
Den letzten Absatz finde ich sehr gut, weil er eine verzweifelte und/oder eine optimistische Lesart zulässt.

Ein paar Eindrücke/Vorschläge:

das matte Gold und Silber lassen darauf schließen, dass die Trägerin sie einst Tag für Tag getragen hatte.
Du schreibst sonst in der Ich-Form. Warum nicht auch hier? Es klingt, als würde es sich bei der "Trägerin" um jemand anderes handeln.

Ich sollte Mark besuchen. Doch mir ist nicht danach.
Das "Ich sollte" hat in mir suggeriert, dass die beiden schon getrennt sind. Es klingt nach unangenehmer Verpflichtung, z.B. sie hat sich getrennt, er leidet darunter und sie kümmert sich nun widerwillig ab und zu um ihn.

Wir (...) reisten durch fremde Länder, lernten neue Kulturen kennen.
Das klingt mir zu platt, ist aber sicher Geschmackssache. Ich finde, der erste Satzteil würde reichen. Schließlich kann ich auch mit sonstwem in fremde Länder reisen und neue Kulturen kennenlernen, oder einen Koch-oder Tanzkurs besuchen. Für mich erklärt sich dadurch nicht die Unzertrennlichkeit.

die Strähnen meines Haares
Das klingt so lyrisch :) als wolltest Du mit dieser Formulierung auf ein bestimmtes Versmaß kommen. Ich finde "Haarsträhnen" besser.

Herzlich Willkommen auf k.g.de!

Viele Grüße
Ane

 

Hallo bernadette und Ane!

Vielen Dank für Euren Beitrag und Verbesserungsvorschläge. Ich habe nun Einiges auch wie vorgeschlagen umgesetzt.

Zu bernadettes Bemerkung: ""Wieso hast du dich verändert?" Ist ja schon eine unverschämte Frage: Wieso hast du dich verändert? Das muss ja jedem Menschen zustehen." Erst heute hat mir jemand einen Witz erzählt, in dem es darum ging, dass eine Frau ihren Partner nach ihren Vorstellungen verändern wollte und ihn schließlich verlassen hat, weil er sich verändert hat. :)

Zu Anes Bemerkung: "das matte Gold und Silber lassen darauf schließen, dass die Trägerin sie einst Tag für Tag getragen hatte." Du schreibst sonst in der Ich-Form. Warum nicht auch hier? Es klingt, als würde es sich bei der "Trägerin" um jemand anderes handeln."
Die Protagonistin distanziert sich quasi von sich selbst. Sie erinnert sich an etwas, was ihrer Meinung zu einem Lebensabschnitt gehört, mit dem sie sich nicht mehr richtig identifizieren kann / möchte.

 

Irgendwann werden sich ihre Zeiger wieder drehen. Irgendwann werde ich wieder das vertraue Ticken hören.
Was bedeutet das? Wünscht sich dein Prot, irgendwann wieder mit Mark zusammen zukommen?
Ich hatte die "Pause" eher als Schlussstrich verstanden.
Schöner Text. Sehr alltägliche Situation, gut beschrieben!

 

Hi aprilhexe,

ich habe den Schluss so verstanden, irgendwann wird sie sich wieder neu verlieben, also, würde ich mal sagen, hat sie die Hoffnung in diesen Satz gelegt.:)

lg. Weltflucht

 

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