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Sterne
Ich sehe die Sterne funkeln, weil ich den Kopf in den Nacken gelegt habe. Ich warte auf den Bus, und das wird erträglicher, wenn man versucht in die Unendlichkeit zu blicken. Ich höre den Bus die Straße entlangfahren, steige erwartungsvoll ein, als er endlich vor mir anhält, eile zu einem Fensterplatz und mein Blick sucht wieder nach den Sternen. Doch stattdessen sehe ich mein und das Spiegelbild der anderen Busseite.
Mein Blick fällt auf eine alte Dame. Ihr langes, noch braunes Haar ist sorgfältig zu einem französischen Zopf gebunden. Es wirkt jugendlich an ihr, so als ob sich die Haare geweigert hätten, die Zeit anzuerkennen, die vergangen ist.
Ihre Lippen bewegen sich und formen tonlose Worte. Meine Augen versuchen den Bewegungen zu folgen, um die Wörter und Sätze erraten zu können.
Ihr Blick ist nach oben gerichtet und ich weiß, dass sie dieselben Sterne sucht wie ich auch. Kleine, runde Tränen hängen an ihren dunklen Augenringen, doch bevor sie sich ihren Weg die Wangen hinab bahnen können, werden sie von ihr mit einem Taschentuch abgewischt. Das Taschentuch verschwindet in einer Seitentasche und ihre Hände greifen wieder nach dem Stock, den sie zuvor schon umklammert hielten.
Ich versuche ihre Gedanken zu erraten, damit ich weiß, warum sie weint. Sie trägt schwarz, und vielleicht richtet sie einige letzte Worte an jemanden, den sie verlor, eine Tochter oder einen Ehemann. Vielleicht hat sie eine schreckliche Wahrheit erfahren, hat sie eine schlimme Krankheit und wendet sich nun an den, der solche Krankheiten, wenn nicht heilen, so doch verständlich machen könnte.
Es könnte auch die Welt sein, die sie beweint, weil diese nicht mehr diesselbe ist, in der sie so viele Jahre verbracht hat und die ihr vertraut geworden war. Und jetzt ist alles fremd und sie kann nicht verstehen warum.
Aber es bleiben tonlose Worte und ich möchte mich gerne zu ihr setzen und sie fragen, was passiert ist. Möchte mit ihr in den Himmel blicken und die Sterne suchen: Möchte ihr sagen, dass es eine Schande ist, den zu verlieren, den man liebt und braucht, möchte ihn für sie fragen, warum sie geschlagen wurde mit einer Krankheit, und warum sie nicht fortgenommen werden kann. Vielleicht will ich auch nur neben ihr sitzen, ihre Hand nehmen und mit ihr zusammen jene tonlosen Worte formen, nur damit sie merkt, dass sie nicht alleine ist, dass man nicht alt sein muss, damit einem diese Welt fremd ist.
Doch anstatt ihrer Hand drücke ich den Türöffner und der Bus entläßt mich in die Nacht. Es ist kalt geworden in den letzten Tagen. Ich blicke nur kurz nach oben. Die Sterne sind noch da.