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Sterne

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17.08.2004
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Sterne

Ich sehe die Sterne funkeln, weil ich den Kopf in den Nacken gelegt habe. Ich warte auf den Bus, und das wird erträglicher, wenn man versucht in die Unendlichkeit zu blicken. Ich höre den Bus die Straße entlangfahren, steige erwartungsvoll ein, als er endlich vor mir anhält, eile zu einem Fensterplatz und mein Blick sucht wieder nach den Sternen. Doch stattdessen sehe ich mein und das Spiegelbild der anderen Busseite.

Mein Blick fällt auf eine alte Dame. Ihr langes, noch braunes Haar ist sorgfältig zu einem französischen Zopf gebunden. Es wirkt jugendlich an ihr, so als ob sich die Haare geweigert hätten, die Zeit anzuerkennen, die vergangen ist.
Ihre Lippen bewegen sich und formen tonlose Worte. Meine Augen versuchen den Bewegungen zu folgen, um die Wörter und Sätze erraten zu können.
Ihr Blick ist nach oben gerichtet und ich weiß, dass sie dieselben Sterne sucht wie ich auch. Kleine, runde Tränen hängen an ihren dunklen Augenringen, doch bevor sie sich ihren Weg die Wangen hinab bahnen können, werden sie von ihr mit einem Taschentuch abgewischt. Das Taschentuch verschwindet in einer Seitentasche und ihre Hände greifen wieder nach dem Stock, den sie zuvor schon umklammert hielten.

Ich versuche ihre Gedanken zu erraten, damit ich weiß, warum sie weint. Sie trägt schwarz, und vielleicht richtet sie einige letzte Worte an jemanden, den sie verlor, eine Tochter oder einen Ehemann. Vielleicht hat sie eine schreckliche Wahrheit erfahren, hat sie eine schlimme Krankheit und wendet sich nun an den, der solche Krankheiten, wenn nicht heilen, so doch verständlich machen könnte.
Es könnte auch die Welt sein, die sie beweint, weil diese nicht mehr diesselbe ist, in der sie so viele Jahre verbracht hat und die ihr vertraut geworden war. Und jetzt ist alles fremd und sie kann nicht verstehen warum.

Aber es bleiben tonlose Worte und ich möchte mich gerne zu ihr setzen und sie fragen, was passiert ist. Möchte mit ihr in den Himmel blicken und die Sterne suchen: Möchte ihr sagen, dass es eine Schande ist, den zu verlieren, den man liebt und braucht, möchte ihn für sie fragen, warum sie geschlagen wurde mit einer Krankheit, und warum sie nicht fortgenommen werden kann. Vielleicht will ich auch nur neben ihr sitzen, ihre Hand nehmen und mit ihr zusammen jene tonlosen Worte formen, nur damit sie merkt, dass sie nicht alleine ist, dass man nicht alt sein muss, damit einem diese Welt fremd ist.

Doch anstatt ihrer Hand drücke ich den Türöffner und der Bus entläßt mich in die Nacht. Es ist kalt geworden in den letzten Tagen. Ich blicke nur kurz nach oben. Die Sterne sind noch da.

 

Ein "Schnellschuss" von mir, obwohl ich das eigentlich nie mache .... aber manchmal muss man Dinge aufschreiben, bevor man sie vergisst ...

mfg
Malachy

 

hallo malachy,

steige erwartungsvoll ein,
du steigst erwartungsvoll ein? was gibt es denn erwartungsvolles im bus?

also, ich bin kein freund von geschichten ohne nennenswerter handlung. das ist aber eher eine persönlich vorliebe als eine wertung. das einzige, dass ich sagen kann, ist, dass die sätze so harmonisch zueinander stehen.

ich denke, es werden noch andere deine sterne gucken..., die einen besseren draht dafür haben

bis dann

barde

 

Hi Barde,

danke für deine ehrliche Meinung - ich geb zu, dass wenig Handlung zu finden ist diesmal. Aber manchmal isses halt so :)

erwartungsvoll deshalb, weil er weiter die Sterne anschauen will, auch vom Businneren aus. Ist vielleicht zu übertrieben der Ausdruck ...

lg
Malachy

 

Hallo Malachy,

deine Geschichte hat mir gut gefallen.

Einige Anmerkungen:

Die Sterne funkeln auf mich hinab, weil ich den Kopf in den Nacken gelegt habe.
- die Sterne funkeln auch so auf den Protagonisten hinab, nur er kann sie nicht sehen. Vielleicht ganz simpel und ein wenig deutlicher: "Die Sterne funkeln auf mich hinab. Ich habe den Kopf in den Nacken gelegt."

Es wirkt jugendlich an ihr, so als ob sich die Haare geweigert hätten, die Zeit anzuerkennen, die vergangen ist.
- gut! Gefällt mir.

hat sie eine schlimme Krankheit und wendet sich nun an Den, der
- auch obwohl du wahrscheinlich Gott meinst, bleibt der Artikel den hier klein geschrieben - "den"

Es könnte auch die Welt sein, die sie beweint, weil diese nicht mehr diesselbe ist, in der sie so viele Jahre verbracht hat und die ihr vertraut geworden war. Und jetzt ist alles fremd und sie kann nicht verstehen warum.
- interessanter Gedanke. Es wirkt ein wenig unrealistisch, dass die alte Frau über die Welt im Allgemeinen weint, aber nicht unmöglich. Der geistige Aspekt des Älterwerdens, der mit dem körperlichen einhergeht, wird hier solide und knapp dargestellt.

den man liebt und braucht, möchte Ihn für sie fragen, warum sie geschlagen
- "ihn"

jene tonlosen Wort formen
- "Worte"

Doch anstatt ihrer Hand drücke ich den Türöffner und der Bus entläßt mich in die Nacht. Es ist kalt geworden in den letzten Tagen. Ich blicke nur kurz nach oben. Die Sterne sind noch da.
- das Ende hat mir wirklich zugesagt. Wer kennt das nicht? Man sieht jemanden, denkt über diesen nach, empfindet Mitleid - und all das verfliegt so schnell wieder, wie es kam.

Lieben Gruß,
tobbi

 

Hi Tobbi,

danke für die Zeit, die du dir genommen hast, meine Geschichte zu lesen und eine Kritik zu schreiben.
Die Darstellung der Zeit ist wirklich sehr knapp dargestellt, aber die Geschichte im Ganzen entsprang einem kurzen Gedanken von mir, deswegen ist alles so gerafft dargestellt.

Die Rechtschreibfehler habe ich ausgebessert.
lg
Malachy

 

Hallo Melachy,
das ist eine sehr schöne (mini) Geschichte. Die Dreiecksverbindung Alter Mensch, Sterne und Busfahren gefällt mir gut, sehr romantisch, auch der Hauch von Sentimentalität den du wohl gerade in dem Moment erlebt hattest find ich nachempfindbar wenn du von der alten Dame redest. Ich finde zuweilen Sentimentalität nicht schlecht.

gruss don

 

Danke für das Lob. Es freut mich, dass dir Geschichte gefallen hat

lg
Malachy

 

Hi Malachy

Da er schön geschrieben ist, hat mich dein Text ziemlich eingelullt. Wer hat nicht schon diese Gedanken gehabt, welche Geschichte wohl hinter dem einen oder anderen Gesicht verborgen liegen mag. Doch leider genügt mir dieses Gedankenspiel nicht für eine Geschichte.
Dein Nachsatz relativiert ja dann auch den Anspruch dieses Textes, etwas anderes als eine Niederschrift deiner Gedanken auf der Heimfahrt zu sein.

Doch anstatt ihrer Hand drücke ich den Türöffner und der Bus entläßt mich in die Nacht.
mMn der stärkste Satz dieses Schlaglichts auf eine alltägliche Begebenheit.

Trotz Kürze und "nur" Schnellschuss gerne gelesen.
LG./

 

Hi dotslash,

Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, den Text zu lesen.

du hast Recht: mehr Anspruch als ein Gedankenfetzen sollte der Text wirklich nicht haben. Normalerweise haben meine Texte auch mehr Inhalt, dieses Mal "musste" ich einfach den Text so posten, wie er im Kopf war :)

lg
Malachy

 

Also, ich finde diese "Momentaufnahme", wie ich sie selber gern nenne und auch auf Papier banne, wunderschön geschrieben. Dein Text hat mich sehr berührt, weil ich gerade in einer ähnlichen Situation bin. Kompliment :thumbsup:

 

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