- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Sternennacht
Sternennacht
Gedankenverloren spiele ich mit meinem Weinglas. Mal fängt die samtig dunkle Flüssigkeit das Licht der müden Kerze, mal das Sternenlicht. Das eine Mal überwiegen die glaskalten Silberreflexe, das andere Mal die weichen goldenen. Ich trinke noch einen Schluck und stelle das Glas wieder auf das äußere Fensterbrett, neben das Windlicht und die Flasche. Ich verschränke die Arme vor dem Körper um mich zu wärmen. Selbst in der Wolljacke ist mir noch kalt. Nur der dünne Vorhang trennt mich von dem geheizten Zimmer. Aber die weiche Wärme lockt mich nicht.
„Es tut mir ja so leid, aber du hast dir zu viel Druck gemacht. Ich hoffe du nimmst es nicht zu schwer!“ Wie gerne hätte ich ihnen alle diese Wörter – jedes einzelne – zurück ins Gesicht geschleudert und beobachtet wie ihnen das mitleidige Lächeln langsam vom Gesicht tropft. „Ich brauche euer Mitleid nicht. Was bedeutet es schon?“, hätte ich gerne gesagt, aber ich brauche es. Stattdessen wiederhole ich immer wieder: „Aber das ist doch nicht der Weltuntergang, es gibt auch andere Berufe! Und das Leben besteht ja aus mehr als dem Job!“
Dann nicken sie weise und sind froh, dass sie mich nicht trösten müssen.
Soviel wollte ich erforschen, erfinden und jetzt sitze ich hier und beobachte Lichtreflexe in Rotwein.
Es gibt Leute die wissen selbst wenn sie mit der Schule fertig sind, noch nicht, was sie machen wollen, und es gibt Leute, die wissen es schon im Kindergarten. Mir war es nach meiner ersten Physikstunde klar. Elektrotechnik, Strom, Spannung, Dioden und Halbleiter, Satelliten und Kraftwerke. Warum hatte ich mich dafür entschieden? Ich weiß es nicht mehr. Aber eigentlich weiß man ja nie, warum man sich verliebt.
Ich starre in den winterlichen Garten unter mir. Hin und wieder huschen zwischen den Bäumen weiße und rote Lichtpunkte hindurch wie scheue Tiere. Aber sonst ist der Garten dunkel und still. Es ist auch kein anderes Fenster erleuchtet, ich bin allein. Ein wenig komme ich mir vor als würde ich Totenwache bei meinen Träumen halten.
Ein Windhauch fegt ein paar feine Schneeflocken vom Dach. Im Licht der Kerze scheinen sie Feuer zu fangen und die winzigen Funken tanzen weiter dem Boden entgegen, bis die Schatten sie löschen. Ich selbst komme mir so vor als hätte ich den fremden Lichtschein verlassen und merke, dass ich selbst nicht leuchte.
Ich lehne den Kopf gegen den Fensterrahmen und sehe in den Sternenhimmel. Im Gegensatz zu den großen Städten sieht man die Sterne hier noch. Wie ein Ozean, in dessen Weite man sich leicht verliert, liegen sie über mir. Ich habe das Gefühl in den Tiefen der unendlichen Ferne zu versinken, mich zu verirren, nur um zurück zu meiner eigenen Sinnlosigkeit zu kehren, kleiner als der kleinste der Sterne.
Wann habe ich eigentlich das letzte Mal in den Sternenhimmel gesehen? Wenn ich nur auf die Sterne sehe glaube ich fast noch den Geruch von damals in der Nase zu haben: der Geruch nach trockenem Gras und spätem Sommer, den Geruch von einer nahen Straße. Hatte ich damals auch das Gefühl klein zu sein? Ich glaube nicht. Das war ein Sommer vor fünf Jahren. Unser Physiklehrer hatte uns gesagt, dass man nachts Satelliten sehen kann. Nicht die geostationären natürlich, die sind zu weit weg. Man sieht nur die, die sich bewegen. Sie sehen aus wie Sterne, die fliegen, wie leuchtende Lichtpunkte. Anders als Sternschnuppen, die haben einen Schweif und bewegen sich schneller, außerdem sind sie heller. Damals habe ich noch gehofft einmal selbst einen Satelliten zu entwickeln. Überhaupt war die Welt noch in Ordnung. Alle hatten akzeptiert, dass ich mit Abstand die Beste in allem Naturwissenschaftlichen war, und es wäre uns allen komisch vorgekommen, wenn ich einmal nicht die beste Note gehabt hätte. Ich hatte auch noch nicht angefangen auf meinen Haarspitzen zu kauen und mein Lächeln war noch echt. Ich war mir sicher, dass es immer so weiter gehen würde, dass ich alle meine Träume erreichen würde, wenn ich nur hart dafür arbeiten würde. Hart gearbeitet habe ich. So hart, dass ich mich jetzt langweile, weil ich nichts mehr habe, wofür ich lernen kann. Die Tage erstrecken sich wie weiße Seiten vor mir und ich weiß nicht, wie ich sie füllen soll.
Ich schenke mir noch ein Glas Wein ein. Wie lebt man ohne ein Ziel, ohne einen Traum? Sehr entspannt, fürchte ich.
Ich kann mich noch gut an die letzten Wochen vor der Prüfung erinnern. Ich war ständig angespannt, hatte selbst Arzttermine abgesagt und war nicht mehr ans Telefon gegangen, aus Angst jemand könnte mich ablenken. Diesmal – dachte ich mir – werde ich alles tun, um zu bestehen. Vielleicht war ich in dieser Zeit am glücklichsten. Und dann die Prüfung selbst: Ich saß vor meinem Blatt und las mir die erste Aufgabe durch, malte mit Bleistift ein Fragezeichen an den Rand und sprang zur nächsten, nur um wieder ein Fragezeichen hinzukritzeln und wieder zur Nächsten weiter zu gehen, und immer so weiter. Um mich herum herrschte Stille, nur unterbrochen von dem Geräusch von Kugelschreiber auf Papier und dem Anschlagen der Taschenrechnertasten. Ich begann an meinem Stift zu kauen, meine Hände wurden schweißig, mir wurde schlecht, mir wurde kalt, mir wurde heiß. Zwei Reihen vor mir brach ein Mädchen in Tränen aus.
Nicht bestanden, zum zweiten Mal. Nicht geeignet. Dreizehn Jahre Schule vergebens, nutzlos wie eine Brücke ins Nichts. Zum hundertsten Mal hechelt mein Gehirn durch die Prüfungsaufgaben und hält sich sein eigenes Versagen vor. Jetzt im Nachhinein sind sie einfach und all meine Fragezeichen scheinen unnötig. Mein Magen krampft sich zusammen. Ich stürze den Rest Wein hinunter, um die Gedanken zu betäuben. Eine Weile starre ich noch in den Sternenhimmel. Verstohlen huscht ein Satellit mit dem Wurzelzweifachen der ersten kosmischen Geschwindigkeit über die Oberfläche des grenzenlos tiefen Ozeans.
Als ich den Blick wieder senke, hat jemand in einem der Häuser gegenüber auch ein Windlicht auf sein Fensterbrett gestellt. Ich winke ihm zu und er winkt zurück. Ich lösche meine Kerze und stelle das Glas und die leere Weinflasche auf das innere Fensterbrett. Endlich bin ich müde genug. Gähnend schließe ich das Fenster und schlüpfe unter meine Decke. Bevor ich einschlafe, nehme ich mir vor morgen ein neues Ziel zu suchen. Machen Physiker nicht fast das gleiche wie Elektrotechnikingenieure?