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Sternenstaub
Gina Marie hatte heute ihren sechsten Geburtstag. Sie hatte die ganze Nacht nicht schlafen können vor Aufregung. Und schon den ganzen Morgen hatte sie ihre Mutter auf Trab gehalten. Jetzt klingelte es an der Haustüre und sie und ihre Mutter Ramona kamen gleichzeitig bei der Tür an, um sie zu öffnen. Draußen stand ihr Vater und Gina Marie sprang ihm jubelnd in die Arme. Sie fragte ihn sofort freudig, was er ihr denn zum Geburtstag mitgebracht hätte. An seinem überraschten Blick und dem betretenen Lächeln, dass darauf folgte, erkannte Ramona sofort, dass ihr Ex-Ehemann den Geburtstag seiner Tochter vergessen hatte. Typisch. Verlegen fasste er in seine Tasche um seiner kleinen Tochter, die er einfach nur spontan hatte besuchen wollen, etwas Geld zu überreichen. Dort in der Hosentasche ertastete er etwas, das er auf seiner Arbeitsstelle im Theater auf dem Fußboden gefunden und unbewusst eingesteckt hatte.
Plötzlich lächelte er. Er sah seine Tochter an und meinte geheimnisvoll zu ihr, dass er etwas ganz Kostbares für sie hätte. Er holte ein kleines Fläschchen aus der Hosentasche. Der Inhalt war ein golden glitzerndes Puder. Das sei Sternenstaub von einer Sternschnuppe erklärte er ihr. Sie müsse gut darauf aufpassen, denn er wäre magisch und würde ihr ein einziges Mal sehr, sehr helfen. Danach wäre die Magie des Sternenstaubes verbraucht. Das Geburtstagskind strahlte vor Glück über ein so kostbares Geschenk. Ihre Mutter dagegen wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Sie hatte sich die Hacken nach einem passendes Geschenk für ihre Tochter abgelaufen. Sie hatte Kuchen gebacken, eine Kinderparty vorbereitet, bunte Servietten zu Schiffchen gefaltet. Alles, um ihre Tochter glücklich zu machen. Und dann kam ihr Ex daher, verwandelte mal soeben irgendein Glitzerzeug in Sternenstaub und ihre Tochter war selig. Es musste nur irgend etwas Positives passieren, und das Geschenk ihres Vaters war in Gina Maries Augen dafür verantwortlich. Erst vergaß er den Geburtstag seiner Tochter und dann war er auch noch der große Held.
Drei Wochen später.
Minki, die Katze von Gina Marie war schon seit zwei Tagen spurlos verschwunden. Ramona versuchte, ihre Kleine zu trösten. Katzen würden öfter mal herumstreunen und die Zeit vergessen. Sie käme schon wieder. Aber abends war Minki immer noch nicht da und Gina Marie fragte ihre Mutter, was sie mit dem Sternenstaub machen müsse, damit er ihr in dieser Not helfen würde. Drei Wochen lang hatte die Sechsjährige ihr Fläschchen mit „Sternenstaub“ gehütet wie einen Schatz. Na toll, jetzt hatte Ramona den Salat. War ja klar, dass der schwarze Peter an ihr hängen blieb und sie es war, die ihrem Kind erklären musste, dass dieser angebliche Sternenstaub hier nicht helfen würde. Aber das brachte sie dann doch nicht fertig. Sie meinte nur, dass sie am nächsten Morgen erst noch mal nach Minki suchen würden, bevor sie Vati anrufen und ihn danach fragen würde. Na, dem würde sie was erzählen.
Am nächsten Morgen zog Ramona mit ihrem Kind los, um die Katze zu suchen und Zettel mit Minkis Beschreibung und einer Telefonnummer aufzuhängen. Am späten Vormittag kamen sie schließlich zu der alten Eiche, wo sich der Weg teilte. Rechts ging es zu einem alten Gehöft, auf dem nur noch ein alter Bauer mit ein paar Hühnern lebte, und links ging es zurück nach Hause. Auch hier an der Eiche wollten sie noch einen ihrer Suchzettel befestigten. Gina Marie wühlte eine Weile in ihrer Tasche, um noch ein paar Reiszwecken zu finden. Sie bemerkte nicht, wie ihr dabei das kostbare Fläschchen aus der Tasche fiel und zu Bruch ging. Nachdem sie dann den letzten Zettel befestigt hatten, machten sie sich auf den Weg nach Hause. Gina Marie wollte nun unbedingt ihren Vater anrufen. Während dessen blies der Wind den Glitzerstaub davon.
Sie waren schon fast zuhause, als das Mädchen bemerkte, dass sie den magischen Sternenstaub verloren hatte. Völlig aufgelöst sagte sie es ihrer Mutter. Ramona überlegte kurz, ob es nicht die Gelegenheit war, aus dieser Sternenstaubnummer herauszukommen, jetzt wo dieses Zeug verschwunden war. Aber ihr Töchterchen bettelte so verzweifelt, dass sie nachgab und mit Gina Marie den Rückweg antrat, um nach diesem verflixten Fläschchen zu suchen. Dabei schickte sie ein Stoßgebet nach dem anderen gen Himmel, dass die Katze nachher, wenn sie heimkamen, doch um Himmels Willen vor der Tür sitzen möge. An der alten Eiche angekommen, sahen sie dann die Bescherung.
Der Wind kam aus Süd-Ost und hatte den Sternenstaub daher den rechten Weg entlang geweht, das war deutlich zu sehen. Der ganze Weg glitzerte, so hatte sich der Staub inzwischen verteilt. Wenn Ramona gedacht hatte, die Sache wäre damit erledigt, täuschte sie sich aber gewaltig. Für ihre Tochter war das ein eindeutiges Zeichen. Sie mussten diesen Weg absuchen. Das Mädchen ließ nicht locker und sie suchten diesen Weg ab. Was hatten sie zu verlieren.
Auf halber Strecke zu dem alten Bauernhof stand ein ebenso in die Jahre gekommener Schuppen. Als sie daran vorbeikamen, hörten sie ein klägliches aber deutliches Maunzen. Minki, ganz eindeutig. Offenbar war sie versehentlich dort eingeschlossen worden. Nachdem Ramona den betagten Bauern geholt hatte und er das Tor öffnete, kam eine etwas zerzauste, aber gesunde Minki aus dem Schuppen und sprang Gina Marie direkt in die Arme. „Minki, oh Minki“, rief sie, „ohne Papis Sternenstaub hätten wir dich nie gefunden.“ Ramona lächelte gequält. Natürlich, sie hatte abends noch Suchplakate entworfen und ausgedruckt. Sie war den ganzen Vormittag mit ihrer Tochter unterwegs gewesen, um die Katze zu suchen und Plakate aufzuhängen. Aber Papi war der strahlende Ritter. Sie kam aber nicht umhin zuzugeben, dass das mit dem Pulver schon ein sehr glücklicher Zufall war. Ein außerordentlich bemerkenswerter Zufall sogar. Ja geradezu ein schier unglaublicher Zufall. Sollte dieses Pulver etwa doch ….?