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Stille Party
Der Abend setzte sich langsam. Während er seinen Blick unablässig über seine Bücher schweifen ließ und an seine Prüfung nächste Woche dachte, klopfte es an seine Türe. Er schaute überrascht auf, erhob sich und dachte angestrengt nach, wer zu dieser Stunde etwas von ihm wolle. Der Reihe nach ließ er die Bilder der Menschen durch seinen Kopf rasseln, welche ihn besuchen könnten. Die wenigen, aber guten Freunde blitzten auf, Bekannte schwammen vorbei, Menschen, die er nicht mochte, Dozenten von der Uni, zuckten kurz und verschwanden. Er dachte kurz an eine Party, die ein Stockwerk höher stattfand, und fragte sich, ob jemand von da was wollte. Vielleicht mochte ihn jemand einladen, oder fragen, ob er noch einen Kasten Bier erübrigen konnte. Doch heute musste er lernen.
Die Tür glitt auf, und herein stürmte sie. Sie sah schön wie immer aus, wenn man davon absah, dass ihre Kleidung ziemlich verdreckt und feucht war. Zweifelsohne kam sie von der oberen Etage.
"Ich muss mal dein Bad benutzen. Bis gleich!" rief sie. Sie lächelte wild, und sein erster Eindruck war, dass sie ziemlich betrunken sein musste. Es dauerte keine drei Minuten als sie nur noch mit Jeans und BH bekleidet in das kleine Wohnzimmer trat und fragte: "Ich brauche irgend'n Shirt, sonst muss ich so wieder nach oben gehen." Wieder dieses Lächeln, weshalb er sie so sehr mochte.
Er kramte in einer Schublade, durchsuchte einen Schrank, und fand schließlich ein T-Shirt, das ihr passen und auch - schließlich war sie nun mal eine Frau - stehen könnte.
"Wie geht es dir?" fragte er, während er ihr das Shirt brachte. Sie hatte sich derweil auf der Couch niedergelassen und schien bester Laune zu sein.
"Suuuuuuuper," schallte es aus ihrem Mund, "wir baun ja 'ne Cocktail-Pyramide zammen, also aufeinander, und schon zweimal, und wir haben total den Spaß, und-"
"Bitte was baut ihr zusammen?" unterbrach er sie.
"Eine Cochtail-Pyra... Cock-Cocktail-Pyramide. Ganz viele Flaschen, nein, ganz viele Gläser aufeinander, und oben gießt einer was ein, und dann läuft das alles runter, und dann trinken das alle."
"Ahja. Das freut mich. Und wer war für diese Sauerei hier verantwortlich?"
"Keine Ahnung. Auch egal. Irgendwie ist da voll was... ich hab vorhin ne Handynummer bekommen."
"Von wem?" Seine Stimmung sank mit einem mal zu Boden. Nicht etwa wegen der Handynummer, sondern weil er feststellte, dass sie überhaupt nicht sie selbst war. Allerdings hatte er sie auch noch nie so stark angeheitert erlebt.
"Boah... ist mir schlecht. Keine Ahnung von wem," sagte sie. Sie drehte sich auf der Couch herum und grinste unaufhörlich.
"Wie wär’s, wenn du noch mal ins Bad gehst?"
"Ist nicht nötig. Achja, ich sollte das Shirt mal so langsam anziehen. Wo ist das nur?.. Ah... nein. Ist das hier von dir?"
Er seufzte einmal. "Ja, das ist mein Pulli. Und das Shirt für dich liegt auf dem kleinen Stuhl da. Und-"
"Wir haun gleich alle in die Disco ab."
"Ihr habt noch jemanden der fährt? Ich kann es kaum glauben."
"Äh... nix fahren. Wir gehen."
"In die Disco? Das sind zehn Kilometer! Du holst dir ja sonst was für ne Erkältung bis ihr da seid."
"Ach was, is doch warm da, also da draußen."
Er ging hinüber zu der Schublade von vorhin und kramte noch einen Pulli heraus, von dort rief er: "Du weißt schon, dass es im Süden gestern Nacht geschneit hat, oder?"
"Was machst'n du hier eigentlich?"
Doch er antwortete nicht gleich. Statt dessen wandte er den Blick in Richtung Küche, durch dessen Fenster einiges an Lärm drang. Sie durchblätterte gerade eine kleine Zeitung, während er sah, wie ihre Freunde die Straße hinunterzogen. Mit langsamen Schritten kam er zu ihr.
"Wissen deine Freunde, wo du bist?"
"Klar. Glaub ich."
"Also nein. Und dein Freund?"
"Der is total zu, vemsst mich auch nich."
"Na super. Deine Freunde sind bereits losgegangen."
"WAS?" Sie sprang auf, rannte zur Türe, und war fast auf den Gang hinaus, als er sie wieder einfing.
"Du hast nicht mal dein Shirt angezogen, also bitte. Wenn du hinterher willst, mir Recht, aber erst ziehst du was an, klar?"
"Mir ist so schlecht..."
Er sah in ihre umherschweifenden Augen und entschied sie sachte ins Bad zu führen. Sie wehrte sich nicht, jedenfalls nicht körperlich. Doch ihre Stimme gewann neue Kraft, als sie meinte, sie müsse unbedingt los. Als sie im Bad waren ergriff jedoch ihr Körper wieder die Initiative und stürzte zur Toilette.
Wieder drei Minuten später torkelte sie ins Wohnzimmer zurück, wo er bereits ein Glas Leitungswasser für sie bereithielt. Sie trank es mit Protest. So sagte er:
"Ich glaube, es wäre mir lieber, wenn du heut Nacht hier bleibst und dich ausruhst."
"Aaaaaach, hör auf. Natürlich geh ich mit."
"Du hast immer noch nichts anderes als deinen BH an."
"Na und? Ich kann auch im BH gehen, mir egal."
"Du gehst nicht in deinem BH raus. Ja spinnst du denn? Es ist gleich Mitternacht. Ich will dich ja nicht mal groß aufhalten, wer weiß, was ihr heute Nacht noch so spaßiges anstellt. Aber erstens ziehst du dich warm an, und zweitens gehst du nicht zu Fuß. Die haben sicherlich schon die Hälfte der Strecke hinter sich."
Schweigen.
Bis sie sagte: "Ich ruf mir ein Taxi."
"Auch gut. Ich zahl es dir sogar."
"Nein, schon okay. Gib mal dein Telefon."
Sie bestellte sich ein Taxi. Wie die Zentrale jedoch mitteilte, würde es mindestens eine halbe Stunde dauern, bis ein Fahrer zur Verfügung stände, schließlich sei es Freitag Nacht.
"Schön," begann er, "dann hab ich ja noch ein bisschen von dir."
"Ein bisschen. Aber ich will nicht fahren, ich will lieber zu Fuß gehen. Im Aaaauto," ein Schluckauf unterbrach sie, "wird mir noch mehr schlecht."
"Nein, du gehst nicht zu Fuß in der Kälte."
"Von mir aus.
Sie lagen wortlose fünf Minuten auf der Couch. Er betrachtete seine beste Freundin, wie sie träumend da lag. Sah, wie ihre Augen zufielen und sich wieder öffneten.
Plötzlich setzte sie sich auf, zog das Shirt an, und sagte: "Ich geh kurz eine Runde spazieren bis das Taxi da ist." Und schon bewegte sie sich in Richtung Türe, schlüpfte hindurch und war weg.
Er seufzte einmal tief, ging zur Tür, knallte sie hinter ihr zu, und setzte sich wieder. Aggressionen bildeten sich. In seinem Kopf wirbelten viele Bilder umher. Bilder von jungen Frauen, die des Nachts allein auf der Straße gingen. Bilder von jungen Frauen, die plötzlich überhaupt nicht mehr allein waren in der Dunkelheit und sich wünschten in Sicherheit zu sein. Groteskerweise schlich sich ein Gedanke an den alten Klassiker E.T. herein, der des Nachts an einer Lungenentzündung erkrankte.
Er ging wieder zur Türe, öffnete um ihr hinterher zu gehen, und sah sie im Flur wieder auf sich zukommen.
Ohne einen Ton zu sagen schritt sie an ihm zu seiner Couch vorbei. In der Luft hing eine beinahe prickelnde Spannung.
Wie auf Kommando hielten beide kurz inne und fragten sich, was sie denn eigentlich wollten.
Er dachte: Ich hoffe, die Party macht sie gleich wieder munter, oder hebt ihre Laune ein wenig. Ich will ihr nicht den Abend verderben.
Sie dachte: Ich will nicht mehr hin. Hab gar keine Lust mehr. Sicher, wir hätten Spaß dort gehabt, aber lustlos bin ich so unausstehlich.
Das Taxi hupte einmal, hupte noch einmal und verschwand wieder.
Sie sagte ruhig, aber bestimmt: "Ich geh schlafen."
Wie sonst auch ließ sie sich in sein Bett fallen, während er eine zweite Decke aus dem Schrank holte und es sich (wie sonst auch) neben ihr gemütlich machte. Völlig ungezwungen, schließlich wollte er nichts von ihr.
Er dachte noch lange vor sich hin. Zweimal öffnete er die Augen, und sah wie sie in seinem Shirt fast wie tot, aber laut schnarchend auf seinem Bett schlief.
"Wieso habe ich ein schlechtes Gewissen?" fragte er halblaut ins Dunkel.