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Stille Tränen
Es regnet. Etliche Tropfen prasseln von außen gegen das Fenster, laufen hinab, als wäre es ein Wettrennen. Im Zimmer ist es warm und trocken. Sie sitzt mit angezogenen Beinen auf dem Bett, die Arme um die Knie geschlungen. Ihr Blick verliert sich im Nichts. Gedankenverloren starrte sie aus dem Fenster, irgendwo hinter den grauen Regenschleier. Nicht einmal sie selbst weiß, was sie sieht.
Ihre Gedanken sind wirr, ohne Ziel, ohne Ausweg. Alles ist so furchtbar kompliziert. Das Leben ist so unwirklich in ihren Augen. Egal was sie tut, es bringt nichts, ändert nichts. Ihr Weg war schon lange vor ihrer Geburt vorbestimmt. "Kein Recht auf Änderungen" stand vermutlich auf dem Vertrag ihrer Entstehung. Alles geplant, berechnet. Keine Möglichkeit irgendetwas an der Zukunft zu ändern. Sie wussten was sie sollte. So wurde sie erzogen. Immer brav und artig sein. Nie reden ohne gefragt zu werden. Schweigen und zuhören. Höflich sein. Nie die Geduld oder die Beherrschung verlieren. Eben so sein, wie man sie haben wollte.
Sie gaben ihr nie die Chance zuzeigen was sie wollte. Nicht einmal sie selbst wusste es. Sie lebte in ihrer Welt, in der alles seine Richtigkeit hatte. Alles nach Plan lief und es nie Komplikationen gab. Sie war zufrieden. Glaubte sie zumindest.
Sie musste sich nie Gedanken über eine Entscheidung machen. Denn es gab nie eine für sie. Es ist wie früher, bevor die Frauen irgendwelche Rechte hatten. Bevor sie auch nur daran denken konnten. Nur ist es nicht früher. Es ist heute. Es ist jetzt.
Sie schließt ihre Augen, stellt sich vor wie es wäre, normal zu sein. Einfach wie jedes andere Mädchen in ihrem Alter. So wie sie sein wollte. Denn nun ist sie sich sicher was sie will. Nicht länger hinter einer Fassade leben, ihren eigenen Weg bestimmen, das ist es was sie sich sehnlichst wünscht. Und doch weiß sie, es ist aussichtslos. Niemand würde es zulassen. Alle würden es verhindern wollen. Nicht nur wollen, sie würden es auch schaffen. Man hat zu viel Gewalt über sie. Keine rohe Gewalt, aber denn noch die Macht über ihr Handel. Wie? Das weiß nicht einmal sie selbst.
Sie atmet tief ein. Spürt den Sauerstoff in ihrer Lunge. Sie hat einen entgültigen Entschluss gefasst. Einen, den ihr niemand jetzt noch nehmen kann. Etwas, dass alles aus seiner Bahn werfen wird. Das, womit sie nicht gerechnet haben. Was sie ihn ihrem Plan vergessen haben. Zielsicher öffnet sie die Augen. Ihr Blick ist klar. Sie weiß was sie will. Sie löst sich aus ihrer eigenen Umarmung, schwingt leicht die Füße von der Bettkante. Mit Bestimmten Schritten läuft sie zum Fenster. Öffnet es mit einer raschen Handbewegung. Kühle Luft strömt ihr entgegen, die Regentropfen kitzeln ihre Wange. Geschwind stellt sie sich auf den Stuhl und schaut hinaus in die unendliche Freiheit. Über Dächer, Reklameleuchten, Fabriken. Hin zu den Bergen in weiter Ferne. Der Regen vermischt sich mit ihren stillen Tränen. Sie schaut hinunter auf den nassen Rasen, tief unter ihr. Ihr letzer Gedanke: Es ist meine Entscheidung!
Es regnet. Etliche Tropfen brasseln auf den Parkettfußboden, wo sich langsam eine Pfütze bildet.