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Stille Tragödie
„Heute wird das letzte Paket kommen“, dachte sich Bert, als er die Liebesbriefe und Fotos längst vergangener Tage betrachtete. Jeden Tag schaute er in die Zigarrenkiste, in der er seine Erinnerungen festhielt wie ein Seil, von dem sein Leben abhing. Das Foto von ihm und seiner Mutter gefiel ihm am Besten. Es entstand auf der Wasserrutsche in einem Schwimmbad. Eine computergesteuerte Kamera hielt ihre Blicke in einem Moment kompromissloser Freude fest, auch wenn ihre Gesichter eher überrascht aussahen. Er konnte sich nach ihrem Tod an kein anderes Ereignis erinnern, welches ihn auch nur ansatzweise dermaßen fröhlich stimmte.
„Es ist meine persönliche Therapie“, schrieb er vor einigen Tagen in sein Tagebuch.
„Denn früher hatte ich Freunde und Familie, denen ich etwas erzählen konnte, doch heute sehe ich nur noch die Einsamkeit, die sich über meinem Leben ausbreitet, wie eine finstere Gewitterwolke." Draußen regnete es.
Es klingelte an der Tür. "Der Paketbote", freute sich Bert und schob die Zigarrenschachtel beiseite. Ein gekünsteltes Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus, als er die Tür öffnete.
Vor ihm stand ein Mann, der seine Firmenkappe, welche mit dem Slogan `Service inclusive’ dekoriert war, tief in sein Gesicht gezogen hatte. Der Schirm seiner Mütze warf einen traurigen Schatten auf seine Augen.
„Ich habe hier ein Paket für Bert Johnson“, nuschelte der Mann in einem spanischen Akzent.
„Der steht direkt vor ihnen.“ Bert nahm den Stift und den Block entgegen, welcher ihm so lustlos angeboten wurde, dass es auch ein Buch über die Rechte von spanischen Immigranten in Amerika sein könnte.
„Sie haben neue Uniformen, nicht wahr? Die sehen ja richtig schick aus! Sie müssen sicherlich stolz darauf sein, oder?“
Der Bote nahm den unterschriebenen Block entgegen und schob das Paket mit seinem Fuß über die Türschwelle.
„Der Stift, Sir.“
„Wie bitte?“
„Der Stift“, sagte der Spanier etwas deutlicher und deutete mit seinem Finger auf Bert’ s Hand, welche noch immer den Kugelschreiber umklammerte.
„Ich brauche den Stift wieder, er gehört der Firma.“
Sein gekünsteltes Lächeln, welches eher an einen Psychopaten erinnerte als an einen glücklichen Menschen, verschwand unfreiwillig und hinterließ nun wieder einen Gesichtsausdruck, welcher dem eines alten Mannes glich, der mehr ertragen hatte, als er konnte.
„Oh“, entgegnete er deprimiert. „Hier, ich dachte nur, sie würden vielleicht…“
„Hören sie Mister“, unterbrach der Paketbote ihn schroff, „sie sind nicht mein einziger Kunde! Ich habe keine Zeit für ein Palaver, verstehen sie?“
Wortlos reichte Bert ihm den Stift.
„Schönen Tag noch“, rief er dem Boten hinterher, doch der Spanier war genauso schnell verschwunden, wie die Beamten in den letzten drei Tagen vor ihm, welche einer Konversation ebenfalls so konsequent aus dem Weg gingen, als handele es sich um den Tod in Person.
Mit einer genauso traurigen, wie sicheren Gewissheit schloss er langsam die Tür. Er brachte das Päckchen in die Küche, wo schon drei weitere Pakte auf dem Tisch lagen. Er setzte sich auf den kleinen Stuhl neben dem Tisch und stellte es vorsichtig zu den anderen. „Das war wohl die letzte Chance“, flüsterte er wieder während er traurig seinen Kopf schüttelte.
Jetzt hatte sich der Gedanke an Selbstmord endgültig in seinem Kopf manifestiert und verharrte nun dort, wie ein bösartiger Tumor.
„Eigentlich bin ich schon längst tot.“ Dies sollte die letzte Zeile in seinem Tagebuch werden, welches seiner Meinung nach genauso uninteressant war, wie die Tatsache, dass er sich heute das Leben nehmen würde.
Er öffnete das erste Paket und holte eine kleinere Schachtel heraus, in der sich die Munition für die silberne Pistole befand, die er zufrieden aus dem zweiten Päckchen entnahm.
„Sieht genauso aus, wie in dem Katalog“, dachte er bei sich. Jetzt lächelte er aufrichtig.
In dem dritten Päckchen befand sich der Schalldämpfer, welcher das Geräusch des Pistolenschusses dämpfen sollte. Er schraubte ihn auf den Lauf der Waffe, ohne die Ironie zu begreifen, die sich hinter der Idee des Schalldämpfers befand.
Du lebst leise und stirbst leise, lachte sein Unterbewusstsein, doch Bert hörte es nicht mehr.
In der letzten Lieferung, welche er soeben erst bekommen hatte, lag sein Tagebuch. Er hatte es vor vier Tagen an sich selber geschickt, wobei er die Postbeamtin um einen Gefallen bat.
„Können sie dieses Paket erst in genau vier Tagen liefern“, hatte er höflich gefragt. Er konnte sich noch genau an das gelangweilte Gesicht der Beamtin erinnern.
„Ja, können wir“, hatte sie knapp gesagt und ihre nichts sagenden Augen auf den nächsten Kunden gerichtet.
„Danke“, hatte Bert ihr noch freundlich zugenickt, doch die Frau war schon zu sehr damit beschäftigt, den nächsten Kunden mit ihrer krank machenden Art zu belästigen.
„Jetzt ist es wohl so weit“, schnaufte Bert. Er öffnete sein Tagebuch und schrieb.
„Chancen habe ich ihnen genug gegeben, doch sie nahmen sie nicht wahr. Selbst mich nahmen sie nicht wahr. In gewisser Weise bin ich schon längst tot.“
Er lächelte, denn es war sein Abschlusssatz.