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Stille
Ich sitze vor dem Fernseher und schaue den Bildern zu, von denen ich verlange, dass sie aus mir einen überlebensfähigen Menschen machen. Einen Menschen, der im Kampf des Schauspiels um die Vorherrschaft innerhalb seiner Brüder die besten Voraussetzungen hat zu bestehen. Doch überstehe ich nicht mal die Werbepause ohne einem dringenden Bedürfnis nachzugehen, das mich wieder daran erinnert, wie menschlich, allzumenschlich ich eigentlich bin. Zurück am Gerät und den Blick auf die Menschheit werfend, beginne ich langsam zu begreifen, dass der fragmentarische Ausschnitt meines Lebens auf der Toilette nicht an die Realität des im Fernsehen gezeigten Schicksals eines sterbenden Soldaten im Irak-Krieg reicht. Mein Leben war zu kurz, um es im Fernsehen zu zeigen! Wie kann ich ihm Bedeutung beimessen ohne mich dabei selbst aufzuessen? Fressen und gefressen werden zeigt mir mein bester Freund. Er spricht in vielen verschiedenen Sprachen, er läuft mir nicht davon, wenn ich von ihm verlange, eine Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen. Er hält mich immer auf den neuesten Stand der Entwicklung unserer Geschichte. Und: ach, ich entdecke immer neue Facetten an ihm. Letztens referierte er sogar über Adorno, über Nietzsche und sprach mit mir über feministische Propaganda. Wozu noch auf die Uni gehen, wozu sich eine Bumsfreundin suchen, wenn er auch das besser draufhat als alles andere, was mir bisher widerfahren ist?
Heute stehe ich auf dem Altar, neben mir ein Fernseher von der Marke "Schneider". Ein Leben lang hatte ich auf diesen Moment gewartet. Ein Moment, der mir den Glauben an die katholische Kirche und ihren Zweck wieder zurück gibt. Hing ich doch noch vor Jahren ungläubig vor der Glotze meiner Eltern und sah mir Käse und Trash im Fernsehen an, etwas, das meinen atheistischen nicht-Glauben an die Welt nur noch verstärkte und meine Lethargie mit vielen Rosen verzierte. Doch jetzt hat die Kirche, das Leben, seine Interpretation wieder einen Sinn für mich. Ich kann es einordnen in das Weltbild eines postmodernen Technokraten; Kirche, Jesus, ich liebe euch und ich will mich mit euch verbinden! VOX hat mir gezeigt, zu was ihr alles imstande seid. So sprich mein liebster Schneider. Willst du diesen Herren neben dir zum Mann nehmen? Ihm die Treue schwören und stets an seiner Seite bleiben?
Stille.
Ich musste natürlich vorgesorgt haben, jetzt war ich jedoch für einen Moment voller Sorge. Schnell hatte ich ihm den notwendigen Stromanschluss verpasst. Warum auch nicht? Niemand hat heutzutage noch die Kraft und den Mut in solchen Situationen die richtigen Worte zu sagen, ohne von ärztlicher Hilfe oder seinem Rechtsanwalt begleitet zu werden. Meine Liebe braucht da eben eine Dose für ihren Stecker. Nichts Ungewöhnliches.
Ich zappe und zappe, aber nirgendwo läuft das passende Programm. Mein Schneider hat für diesen Moment offenbar nicht die passenden Worte parat. Welcher Teufel versucht mir hier ins Handwerk meiner Liebe zu pfuschen? Da wurde ich nun endlich fündig und was passiert - der letzte Moment einer ehelichen Verbindung, er wird durch Unvorhersehbarkeit unterbunden. Nicht mal das Fernsehprogramm verrät mir die richtigen Worte zur richtigen Zeit. So ging ich dann wieder nach hause, schloss ihn an seiner gewohnten Dose an und lauschte seinen Worten. Ohne Bestimmung und ohne Zwang sprach er wieder zu mir, ich zu ihm und wir waren glücklich bis an unser Lebensende.