Straßenbahn bei Nacht
Straßenbahn bei Nacht
Am liebsten fuhr er Straßenbahn bei Nacht. Ein betäubendes Gefühl überkam ihn in der fast menschenleeren Bahn, wenn er in die vorbeiziehende Dunkelheit blickte und lange Zeit nicht von ihr lassen konnte.
„In Richtung Krankenhäuser bitte umsteigen...“, ertönte die ewig neutrale Frauenstimme in der S-Bahn. „Ich schlag ihn windelweich, wenn er mir nicht bald das Geld gibt, kannst du ihm ruhig schon mal sagen...“, plärrte ein braungebranntes Muskelhähnchen in sein Handy.
Nachts konnte man natürlich davon ausgehen, dass allerlei Gesindel unterwegs war. Besoffene, die sich in ihren endlosen Selbstgesprächen verloren oder von ihren Freunden dringlichst zum Stillsein aufgefordert wurden. Müde Arbeiter, die nur noch schnellst möglich nach Hause wollten, um sich in ihr weiches und warmes Bett zu legen. Und einige wenige jugendliche Draufgänger, die immer eine offene Kneipe zu suchen scheinen, egal zu welcher Uhrzeit und an welchem Tag.
Aber gerade deswegen war das Straßenbahnfahren zu dieser Zeit etwas ganz besonderes.
Wenn er seinen Kopf gegen die kalte Glasscheibe sinken lies, wirkten die Stimmen und hektischen Geräusche um ihn herum wie eine einlullende Melodie. Die kleinen Lichtpunkte der Laternen, schnell durch sein Blickfeld huschend, taten ihr übriges.
Er schlief ein. Kein richtig tiefer Schlaf. Er schlummerte ein wenig. Dämmerte so dahin.
Und manchmal mischte sich in diese Träume die Realität. Stimmen von Vorbeigehenden bildeten in seinen Gedanken Gespräche nach oder die ruckhaften Bewegungen der Straßenbahn ließen ihn an eine wilde Fahrt mit einem schnellen Auto denken.
Auch wenn diese Träume oft Unterbrechungen durch die anhaltende Bahn und die neu einsteigenden Fahrgäste erfuhren, waren sie für ihn erholsam.
Seine bevorzugten Linien fuhren lange Zeit ohne Halt. Meist in kleinere Vororte, so dass er die Stadt von der Ferne aus beobachten konnte. Die kleinen Lichter der Wohnungen und Geschäfte bildeten ein Meer aus vibrierenden Punkten.
So in etwa stellte er sich auch die Sicht in einem kleinen Hafen im Süden vor. Vielleicht ein kleines Fischerdorf, in einer Bucht gelegen. Nachts konnte man von der Hafenmauer über das Meer hinweg die umliegenden Dörfer erblicken und sich vorstellen wie die Touristen im schwül-warmen Klima in den Fischrestaurants saßen und...
„Hey!“
Langsam seine Augen öffnend erblickte er sein Gegenüber.
„Hier ist Endstation, du Saufkopf! Raus! Schlafen kannst du woanders!“