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Stumme Begleitung
Unmerklich fühlt sie sich zum Fenster hingezogen. Sonst genügt ihr ein Blick zur Gewissheit, dass er wie üblich starr und kalt, wie eine Figur am Rand der Mauer sitzt. Doch heute, verweilt ihr Blick länger. Sie nimmt ihn in allen Einzelheiten in sich auf.
Er fühlt sich beobachtet. Ein kalter Schauer läuft ihm über den Rücken. Doch als kurz darauf eine Katze erscheint, die ihn beschnuppert und schließlich anfaucht, ist dieses Gefühl verschwunden.
?Jeden verdammten Tag sitze ich hier auf dieser grauen, kalten Mauer. Wofür lebe ich überhaupt noch? Keiner liebt mich und ich liebe auch niemanden. Warum bin ich nicht ganz normal, wie alle anderen auch? Warum braucht mich niemand? Diese Mauer ist mir vertrauter wie alles andere auf der Welt! Ha, sie ist meine Klagemauer!?, denkt er voller Ironie, ihr hat er all seine Wünsche, Ängste und Zweifel anvertraut. ?Heute gebe ich ihr Leben, mein Leben!? Mit diesen Gedanken versinkt er in Träumerei über eine bessere Welt.
Wie in Trance beobachtet die Frau ihn, sie kann ihren Blick nicht von ihm reißen. Doch plötzlich kommt ihr ein Gedanke, in ihr heult es wie eine Sirene. ?Heute will er springen!? Sie fühlt sich ihm verbunden, hat ihn viele einsame Stunden hindurch begleitet. Die Frau verläßt das Fenster und als würde sie von einem Magneten angezogen, geht sie zur Wohnungstür und hinaus auf die Straße. Am Anfang zögernd, doch immer schneller werdend erreicht sie die Mauer, an der er bereit zum Absprung steht.
Sie ruft ihm zu: ?Spring nicht! Ich brauche dich! Du bist mein Fels in der Brandung!?