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Super Value Country
Gestern Nacht ist hier ein Gewitter durchgezogen. Das weiße Licht ist über den Himmel geflackert und durch die Wolken gezuckt und ich habe hellwach im Bett gelegen. Das Grollen und Krachen hat wie Krieg geklungen und erst morgens um vier hat das Wetter den ersehnten Waffenstillstand beschlossen.
Jetzt muss ich schon wieder gähnen und halte etwas verspätet die Hand vor den Mund. Ich sitze auf einem langen Sofa, dessen Muster das Polster in vertikalen Bahnen umschlingt. Visuelles Thema: Urwald mit Papageien und Blättern; es ist sehr grün mit ein bisschen gelb. Es hat die Form einer Banane.
«Die Klimaanlage geht nicht richtig, es ist viel zu kalt», mosert ein Mädchen. Sie klingt ein bisschen verschnupft und komplettiert ein Pärchen, das am Empfangstresen steht. Vier Füße in vier Latschen. Die rechte Hand des Mädchens steckt in der linken Gesäßtasche ihres attraktiven Partners. Die Rezeptionistin ist ziemlich dick und nickt verständnisvoll; mehr aber auch nicht, ihr muss entsetzlich langweilig sein.
«Den meisten Gästen ist es eher zu warm», sagt sie. Draußen ist es heiß und alles sollte in Flammen stehen, so brutal scheint hier die Sonne. Doch in der Lobby und in den Zimmern ist es lausig kalt; leises Surren, es zieht. Die Intention ist gut und das technologische Konzept stimmt, doch leider hapert es an der praktischen Ausführung. Es fehlt einfach die gesunde Balance: Statt das eine Extrem elegant auszugleichen, schaffen die brummenden Geräte ein zweites Extrem. Draußen schwitzen, innen frösteln.
«Mir ist das echt zu kalt, besonders nachts, ich friere richtig.»
Neben dem Sofa stehen rechts und links zwei Sessel im selben Muster. Noch mehr Papageien, noch mehr Grün. Hinter mir stehen dürre Blumen, deren Blätter aneinander schaben. Ich sitze hier mitten im Dschungel. Sonst ist die Lobby ein deprimierender Ort, sehr ordentlich und steril. In der Ecke bietet ein Plastikgestell Prospekte an. Ein Brite interessiert sich ausgiebig und voller Hingabe für die Sehenswürdigkeiten der Gegend, er nickt beim lesen und verschwindet schließlich mit zwei Händen voller Papier im Fahrstuhl. Ping! Männer, die sich Staudämme angucken.
«Frauen haben ja auch weniger Muskeln», sagt der attraktive Freund; er mag es wohl etwas kühler, will seiner Freundin bei der schwierigen Auseinandersetzung aber nicht in den Rücken fallen.
«Ich schicke euch mal einen Techniker hoch», verspricht die Dicke und klackert Buchstaben in den Computer. Sie kann fehlende Muskeln spielend kompensieren.
«Das finde ich inakzeptabel», umreißt das Mädchen ihre Situation. Die Worte treffen im Vorbeigehen gegen die glatten Wände, prallen ab und verhallen. Ihr Freund gähnt schon wieder und steckt mich an – jetzt gähnen wir gemeinsam. Wir alle sind heute sehr müde und warten auf die gemütliche Dunkelheit. Der Fahrstuhl erreicht die Lobby, ein leises Ping! und die Türen öffnen sich. Das Paar steigt ein und ist weg. In der anderen Ecke steht ein ATM, ein Geldautomat, und lädt zum Geldverschwenden ein. Und plötzlich stehen zwei Beine vor mir, sie gehören zu Michelle, sie ist der Grund meines Wartens.
«Hey», sagt sie.
«Hey», sage ich.
Nebenan gibt es einen kleinen Laden, dort arbeitet sie. Heute Vormittag habe ich mir eine Flasche Pepsi geholt, an der Decke bewachte eine kleine Kamera das Geschehen. Ich wunderte mich, ob sie echt war. An der holzvertäfelten Wand hingen eine Uhr und ein Thermometer. Halb elf / dreiundachtzig Grad Fahrenheit. Das Surren der Klimaanlage ließ erahnen, dass der Filter lange nicht mehr ausgetauscht worden war, das Gerät klang wie das Husten eines älteren Herrn. Ich stand noch eine Weile vor einem Gemälde, das Tannen zeigte, hohe Tannen an einem See. Inspiriert entschied ich mich für eine Tüte Lay’s – mein Mittagessen. Michelle tippte die Preise in die Kasse, ein paar Dollar irgendwas. Sie gefiel mir sofort und ich hatte seit Tagen keine längere Unterhaltung mehr geführt.
Ich fragte sie, wann sie Feierabend hat und ob sie dann mit mir was trinken gehen würde.
Das ginge nicht, behauptete sie und lehnte meine Einladung erst mal ab. Ich bezahlte mit Kreditkarte, das war hier überall möglich, ich führte gar kein Bargeld mehr mit. Dreimal musste ich noch vorbeikommen und Schokoriegel kaufen, bis Michelle beim vierten Besuch endlich einwilligte; sie hatte wohl Mitleid mit mir.
«Dann lass uns mal gehen.»
Augenblicklich transpiriert mir ein Oberlippenbart aus der Haut, den ich in den Ärmel wische. An der Straßenecke ist nichts los. Die Sonne ist am Untergehen und färbt den hellgrauen Beton gelblich ein. Eine rote Linie am Bordstein mahnt vor dem Falschparken und das Schaufenster verspricht Air Conditioning und neben kalter Coke auch heißen Kaffee. Hier draußen wünsche ich mir was Kühles, drinnen trinke ich lieber Kaffee, immer mit einer großzügigen Portion Milch. Michelle trinkt ihren schwarz und sehr schnell. Dazu essen wir Donuts mit Schokoglasur.
Ich fühle mich plötzlich wie ein leeres Zimmer mit weißen Wänden, fensterlos und einer nackten Glühbirne an der der Decke. Ein gemeinsamer Überfall von geistiger Leere und Müdigkeit, die mich blockieren. Irgendwo in meinem Rachen hängen die Worte fest und kratzen mir im Hals. Nur banaler Small Talk rutscht problemlos über meine Zunge. Leute, die übers Wetter reden.
Ich kann Michelle jetzt unmöglich erzählen, wie warm es draußen ist – das weiß sie doch selber! Die unangenehme Stille dauert an, weitet sich aus und ich erwische mich dabei, wie ich tagträumend zum Fenster schaue. Jeden Moment würden Zombies durch die Scheiben schlagen, würde die Apokalypse ausbrechen. Hinterm Tresen liegt die Shotgun, ein gekonnter Griff der Frau hinterm Counter. Kraftvoll durchladen und immer auf die Köpfe zielen. Zwischendurch mal nachfragen, ob sie unseren Kaffee nachfüllen könne. Ja, bitte. Alltag hier draußen.
«Jetzt erzähl doch mal: Was hat dich hierher verschlagen?», unterbricht Michelle endlich die Ruhe und spielt mit. Ich bin froh, dass wir miteinander sprechen und ich fühle, wie sich die Brocken in meinem Hals lösen und höre meine eigene Stimme:
«Ich erkunde das Land und fahre umher. Vor vier Wochen bin ich in L.A. gestartet und seitdem bin ich unterwegs.»
«O, das würde ich auch gerne mal machen. Einfach unterwegs sein, das Land sehen.»
«Ja, genau! Was hält dich auf?»
«Das wäre schon ein teurer Spaß. Das Benzin und die Hotels.»
«Aber es ist die Sache wert.»
«Bestimmt, aber ich war noch nie wirklich weit weg von hier. Und ich würde keinesfalls alleine aufbrechen, so wie du.»
Ich nicke beim Trinken, das soll Verständnis ausdrücken.
«Ist das nicht schrecklich einsam?», fragt sie.
«Überhaupt nicht, ich habe mich ans Alleinsein gewöhnt», behaupte ich, weiß aber ganz genau, dass ich mir nicht so sicher bin. «Und ich treffe ja interessante Leute.»
Sie überlegt einen Augenblick, dann sagt sie: «Also ich brauche meine Leute um mich herum. Und natürlich meinen Freund –»
Ihr Freund.
«– mit dem ich alles bequatschen kann. Vermisst du deine Freunde nicht?»
«Ein bisschen vielleicht. Aber es geht. Die vier Wochen sind ja auch erstaunlich schnell vergangen», sage ich und steckte mir den letzten Donut-Brocken in den Mund. Keiner von meinen Freunden wollte mit, die haben alle zu tun und so viel Stress mit der Arbeit, den Frauen und was nicht alles.
«Wie bist du eigentlich ausgerechnet in unserer kleinen Stadt gelandet?»
«Das habe ich einem doofen Zufall zu verdanken. Mein Navi—»
«Navi?»
«Das Navigationsgerät im Auto.»
«O», macht sie und nickt.
Ihr Freund.
«Jedenfalls hat das Ding plötzlich nur noch Schwärze angezeigt und ich hab mich völlig verfahren. Dann wurde es immer dunkler und am Ende bin ich dann irgendwie hier gelandet.»
«Hm.» Erneutes Nicken. Michelle schlürft ihren Kaffee in großen Schlucken. Ihre Lippen sind sehr schön, sehr rot und sicherlich sehr weich. Ein Mann kommt zur Tür rein, definitiv kein Zombie. Er setzt sich an den Tresen und begrüßt die Bedienung.
«Hey, Marge.»
Marge hat keine blauen Haare, ihre Haut aber wirkt etwas gelblich, es liegt vielleicht am Sonnenlicht, das durch die Scheibe fällt.
«Na, wie geht’s, Harold?»
«Gut, gut. Ich nehme das Übliche», sagt Harold. Er wird einen Kaffee bekommen und ein Sandwich mit Chicken und Bacon.
«Klar doch, Harold.»
Wie sie sich beim Namen nennen. Zuhause weiß ich nicht, wie die Typen bei Starbucks heißen.
«Bist du tätowiert?», fragt Michelle, ihre Stimme ist plötzlich erschreckend laut. Schrei doch nicht so, will ich ihr gern sagen, aber ich tue lieber so, als denke ich über ihre Frage nach.
«Nein», sage ich dann und füge noch rechtzeitig hinzu: «Du?»
Darauf hat sie nur gewartet: «Das habe ich mir letzte Woche stechen lassen», sagt sie und zieht ihr Shirt zurück, zeigt ihr entblößtes Schulterblatt, auf dem ein chinesisches Zeichen zu sehen ist. «Das ist Japanisch.»
«Und was steht da?» Bestimmt so was wie Wagemut oder Freiheit.
«Freiheit», sagt sie stolz. Eine Freiheit, die sie nicht nutzt.
«Kannst du denn Japanisch?»
«Ne.»
«Wer weiß, vielleicht steht da eigentlich Dosenhühnchensuppe auf deinem Schulterblatt», sage ich und lache ein bisschen, was Michelle ignoriert.
«Dann habe ich noch eine Rose auf dem Arm», sie schiebt den Ärmel ihres Shirts hoch, «und noch ein drittes Tattoo, das ich dir aber nicht zeigen kann.»
Die Unterhaltung mit Michelle erinnert mich daran, was mir am meisten fehlt. Diesen Mangel kann Michelle nicht beseitigen – und sie will das auch gar nicht.
«Ach, schön», sage ich. Unsere Tassen sind irgendwann leer; die Wettervorhersage hat eine ruhige Nacht versprochen.