Was ist neu

Suppenzeit

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01.04.2001
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Suppenzeit

Suppenzeit
© 2004 in Hannover by rikki.o


Lüstern wartete das Donnerwetter des Jahreswechsels in seinen Startlöchern auf einen Funken, so klein er auch sein mag. Draußen schneite es mühsam durch die Eiseskälte auf die hinterhältig zwinkernden Gehwege hernieder, keine Menschenseele war in Sicht.
Der Raum um Thomas schien zu glühen, kein Neonglühen bei Regenwetter, ein Glühen, das nur von einem dicken Holzscheit im Kamin herrühren konnte, er fühlte die Wärme und die Geborgenheit einer unwirklichen Familie aus einem amerikanischen Kinofilm zu Weihnachten. Alle Gäste saßen plaudernd um den niedrigen, massivhölzernen Sofatisch, dessen glatte, etwa 3 mm dick lackierte Oberfläche - bedeckt von kleinen Deckchen und allerlei dekorativer Wintergestecken aus Tannenzweigen und roten Kerzen - untersagt war zu glänzen. Leises Lachen und Zuprosten mit Weihnachtspunsch wechselten sich ab. Man sprach vom Neuen Jahr, von Vorgenommenem, von Plänen.
Inmitten dieser Liebe getränkten Luft stand Thomas leicht abseits, nippte an seinem Whiskey und lauschte den Gesprächen. Er schwelgte in dieser Atmosphäre, in der alles wohlig zu glühen schien; nichts konnte die Liebe, die sich in seinem Herzen eingenistet hatte, vertreiben. Die Kälte von draußen und in seiner Seele war schon in diesem Jahr schlafen gelegt worden. Die Uhr tickte gleichmäßig auf das neue Jahr zu aber das war nicht mehr wichtig, er fühlte jetzt.
Die vorherige Wonne lief jäh aus seinem Hirn am Hals herab, als die leicht kühle Hand seiner Schwester seine Wange berührte und sie ihn fragte, warum er sich nicht setzte, „und hast Du denn schon was gegessen?“ Er schüttelte seinen Kopf, die Wonne war schon an seinen Schultern vorbei geflossen und plätscherte rapide abwärts. „Sie soll gehen,“ dachte er, „weg von mir.“ Die ersten Gäste schauten interessiert zu ihnen herüber, sie waren die Inquisitoren geworden. „Dann hol Dir doch mal etwas von dem Büffet in der Küche, es ist doch reichlich da... Außerdem muss es ja mal gegessen werden,“ fügte sie, wie zu erwarten, an. Das Schweigen im Raum breitete sich aus wie ein Schwelbrand, der von Thomas ausging. Langsam bemerkte ein Gast nach dem anderen, dass sein unmittelbare Nachbar nur noch Thomas und seiner Schwester lauschte. Sie knuffte seine Schulter und zischte, etwas überheblich: „Wenn man Dich nicht ans Essen erinnern würde...“ Endlich schwieg sie, wie der Rest der so feinen Gesellschaft, sie hatten sich keinen Krümel, dieser schmackhaften Brocken entgehen lassen. Da verharrte er, die Wonne versickerte in den durstigen Dielen. Doch bevor sie ihm weitere Blessuren zufügen konnte, ging er. Kalt lag der Türknauf der nächstgelegenen Tür in seiner Hand, er drehte und zog, der Geruch von Essen stieg ihm in die Nase. Im Hintergrund hörte er sie nur noch sagen: „Das ist doch mal wieder typisch für ihn – dabei ist er doch vier ein halb Jahre älter als ich, „ und während die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, „das ist wie damals als er zwölf war, da hat er...“
Vor seinen Augen breitete sich das Büffet aus, in all’ seiner Pracht. Die vielen bunten Käsestücke, die jeden Gaumen zu entzücken wissen, würden wohl umgerechnet ein Abendessen zu zweit finanzieren, und kein so schlechtes. Auf der Französischen Seite der Käseplatte waren Werte aufgetischt, die niemals von den Italienern hätten übertroffen werden können – eindeutig waren die Franzosen beliebter. Die Räucherfischplatte und die Aufschnittplatte waren ebenfalls gut bestückt: Störfilet nach Stremelart, Graved Tunfisch vom Japaner, Hollandse Nieuwe als Doppelfilets, kaltes Beef Wellington mit Cumberlandsauce, spanischer Iberico Schinken, französische Gänseleberpastete mit Trüffeln und viele weitere Leckereien, die wohl der Garant für eine Finanzierung eines Kurzurlaubs nach Hamburg wären. Nicht einer dieser besonderen Genüsse hätte Thomas jetzt ein Gefühl der Wärme oder gar das wonnige Glühen in ihm erzeugen können, wo er auch hinsah. Am Rand des Büffets tickten zwei Töpfe auf Warmhalteplatten wie Motorhauben von Sportwagen. Vorsichtig hob er die Deckel an, einen nach dem anderen, und blickte ohne große Hoffnung hinein. Es offenbarte sich Deftiges für den späten Abend. Eine scharfe Gulaschsuppe und etwas, das wie eine Brühe mit Einlage aussah, kamen zu seinem Erstaunen zum Vorschein. Beim Umrühren mit einer Suppenkelle beschlug seine Brille, und er sah nur, dass es sich wohl tatsächlich um eine Hühnerbrühe mit Eierstich, Lauch, Erbsen und Nudeln handelte. Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer, die Nudelsuppe sollte es sein.
Neben den Töpfen standen Suppentassen, die Thomas nicht gerade behagten, er bevorzugte im Besonderen bei Nudelsuppen tiefe Suppenteller. Unbefriedigt durchstöberte er die geschmackvoll arrangierten Küchenschränke auf der Suche nach dem geeigneten Teller und wurde fündig.
Er setzte sich an den Küchentisch und nahm den wuchtigen Esslöffel zur Hand, den er gewählt hatte, rührte im Teller. „Kind sein,“ dachte er und schlürfte den Löffel ab.
„Früher, da gab es auch immer so eine Suppe,“ er sah auf den Löffel nieder, der seine Hand durch seine Größe wie eine Kinderhand aussehen ließ. Auf dem Löffel machte er ein J und ein A aus, „das sind ja Buchstaben, die gab es immer wenn ich krank war,“ er schluckte, „JA – immer wenn ich krank war. Mein Gott, war das schön.“ Auf dem Löffel stand jetzt NEUS – „was ist NEUS?“ Er schlürfte das S weg. „Neu...“ ging es ihm durch den Kopf, „Neues Jahr, das muss es sein. Das S, ich habe es verschluckt...“
Um ihn herum war nichts zu hören, das Jahr tickte nicht weiter. Er legte das NEU auf den Tellerrand und fischte neue Buchstaben hervor: „A, R, G, L und E“ „Was wird im nächsten Jahr? Mein Gott, wenn das so weitergeht... Ich brauche noch ein J, ein H und ein S, das ich schon verschluckt habe.“ Vorsichtig sortierte er die Buchstaben auf den Rand. Das Neue Jahr war noch fern, er musste erst alles zusammenhaben, um keinen Preis hätte er das Neue Jahr ohne Resolution antreten können, doch noch war keine in sicht. Drei Minuten vor zwölf, „Wo ist das S?“ Er überließ die Auswahl der Buchstaben nicht mehr dem Zufall, er durchwühlte seine Suppe, wild entschlossen ein S zu ergattern. Unzählige U’s, E’s, L’s, C’s und K’s kamen zum Vorschein, der Tellerrand war bereits voller ähnlicher Buchstaben, dennoch schien sein Seelenheil von einem S abzuhängen. Im Topf schienen vor allem G’s zu sein, auf dem Tellerrand stand NEUE JAHR, „das geht so nicht, ich muss wissen ob es gut wird.“ Sein Tellerscrabble schien nicht aufzugehen, voller gleicher Buchstaben. Keine Lösung in Sicht, blickte er sein Werk an, Suppe verteilte sich auf der Tischplatte und seinen Händen. „Kann ich denn nicht einmal Glück haben?“ stöhnte er laut und sah, dass er das die ganze Zeit hätte legen können, „GLUECK, das ist es!“ In diesem Moment knallte es, die Tür sprang auf und offenbarte seine Schwester: „Frohes neues Jahr, Thomas!“ Ihr Blick schweifte über den Tisch und seinen Teller. Ihr Gesicht begann sich zu verziehen. In der Sekunde, in der sie noch schwieg, wischte er alles vom Tellerrand und brachte ein klägliches „Dir auch,“ hervor. „Ich frage gar nicht erst,“ flüsterte sie und küsste seine Glatze, „alles Gute und viel Glück.“ Er lächelte, und die verloren geglaubte Wonne stieg aus den Dielen wieder hoch. „Eine halbe Stunde vor und nach Mitternacht ist die Stunde der Geister, die Zeit zwischen Heute und Morgen, sagt der Mund des abergläubischen Volkes.“ Thomas Glücksfindung war kürzer gewesen, nur einen Moment zwischen Heute und Morgen, zwischen dem alten und dem neuen Jahr.

 
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Es hat lang gedauert. Ich wünschte, ich könne sagen, dass ich die ganze Zeit geschrieben habe - es war nicht so. Das normale Leben hat mir das verboten. Ich hoffe es gefällt...
rikki.o

Letze Veröffentlichung: ISBN 3-7741-0995-8
Als Download (PDF) erhältlich unter: http://www.abda.de/bpa/download/ipa_anthologie_030922.pdf

Ansonsten zu bestellen bei der ABDA (http://www.abda.de/)

 

Hallo rikki.o,

eine nette Geschichte über einen Menschen, der zwischen den Jahren verloren gegangen zu sein scheint - etwas desorientiert, sich in der Gesellschaft wohlfühlend, so lange er sie nur beobachten und nicht an ihr teilhaben muss. Die Verzweiflung, in der er in der Nudelsuppe nach Buchstaben sucht, fand ich einerseits gut geschrieben, andererseits in ihrer Extremheit nicht ganz nachvollziehbar.

Deine Sprache fand ich einerseits aufgrund der vielen schönen Bilder angenehm, andererseits waren es mir an einigen Stellen fast schon zu viele Details. Hier z.B.:

Alle Gäste saßen plaudernd um den niedrigen, massivhölzernen Sofatisch, dessen glatte, etwa 3 mm dick lackierte Oberfläche - bedeckt von kleinen Deckchen und allerlei dekorativer Wintergestecken aus Tannenzweigen und roten Kerzen - untersagt war zu glänzen.
, oder als du das Essen beschreibst. Da hab ich mich gefragt, ob all diese Einzelheiten wichtig für die Geschichte sind.

Zwei Fehler sind mir aufgefallen:

Draußen schneite es mühsam durch die Eiseskälte auf die hinterhältig zwinkernden Gehwege hernieder, keine Menschenseele war in Sicht.
„Ich frage gar nicht erst,“ flüsterte sie
das Komma kommt nach Ende der wörtlichen Rede. Das gilt übrigens für den Rest der Geschichte auch ;)

Liebe Grüße
Juschi

P.S.: Um den Mods zuvorzukommen: Nimm doch den Link aus deiner Geschichte raus und in dein zweites Posting rein ;)

 

Hallo Juschi,
danke für Deine Anregungen. Zu Deinen Eindrücken:


Juschi schrieb:
...Die Verzweiflung, in der er in der Nudelsuppe nach Buchstaben sucht, fand ich einerseits gut geschrieben, andererseits in ihrer Extremheit nicht ganz nachvollziehbar...

Die Erinnerung an die Vergangenheit und die Geborgenheit der Kindheit vermischt mit der Verzweiflung, die durch die Situation mit der Schwester des Protagonisten hervorgerufen wird, konnte meiner Meinung nach durch eine "ertreme" Reaktion dargestellt werden.


Juschi schrieb:
Deine Sprache fand ich einerseits aufgrund der vielen schönen Bilder angenehm, andererseits waren es mir an einigen Stellen fast schon zu viele Details. Hier z.B.: , oder als du das Essen beschreibst. Da hab ich mich gefragt, ob all diese Einzelheiten wichtig für die Geschichte sind.

Das Essen ist so detailliert dargestellt um die Verderbtheit der anderen Charakter zu demonstrieren. Das gleiche gilt für den überladenen Tisch - das ganze sollte hierdurch eine komische Komponennte erhalten.

Gruß rikki.o

 

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