Was ist neu

Sylvias Schokolade

Mitglied
Beitritt
25.09.2008
Beiträge
18
Zuletzt bearbeitet:

Sylvias Schokolade

Ihr runder, rosiger, weicher, fetter Körper mit dem riesigen schwangeren Bauch läßt sich wie von selbst auf den Küchenstuhl in der dunklen Küche fallen. Sie hat keine Kraft mehr, ihren Arm bis zum Lichtschalter zu heben. Das Licht der Straßenlaterne reicht aus, damit sie sich in ihrer Küche zu recht findet. Sylvia sieht mit schweren, halbgeschlossenen Augenlidern auf die Küchenuhr, es ist erst-oder schon-drei Uhr morgens. Sie ist so müde, so ungeheuer müde. Ihre Arme sind bleischwer, ihre Beine bewegen sich nur noch vorwärts, wenn sie ihren ganzen Willen in sie zwingt. Seit drei Nächten hat sie höchstens zwei Stunden am Stück geschlafen.

Jetzt bewegt sie sich durch ihre bleierne und doch irgendwie watteweiche Welt wie durch einen Albtraum. Laura hat Husten, sie muss jetzt einen großen Topf mit Wasser aufsetzen, warten bis das Wasser kocht, ihn hochschleppen ohne auf der Treppe zu fallen, den Topf in das Kinderzimmer stellen, damit das dampfende Wasser die Luft befeuchtet und das Kind besser atmen kann. Dieses Röcheln, das Bellen, das Luft einziehen, die Angst ihrer Tochter dringen wie durch schwere graue Nebel zu ihr vor.
Lukas hat einen Darminfekt, er übergibt sich Tag und Nacht und der Arzt hat gesagt: „Wenn es bis morgen nicht besser ist mit ihm, dann geht er in die Klinik. Er braucht Infusionen, verliert zu viel Flüssigkeit.“

Und das Baby in ihrem Bauch tritt ihr gegen die Blase, quetscht ihre Lunge ein, so dass ihr jeder Atemzug schwer fällt und harte Arbeit ist. Sylvia setzt endlich das Wasser auf den Herd und öffnet dann die Kühlschranktür. „Schokolade“ denkt sie, „nur ein kleines Stück Schokolade.“ Sie hat vorgesorgt, etliche Tafeln ihrer Lieblingsmarke liegen gebündelt, zum greifen nah. Sie zupft das Papier von der ersten Tafel und bricht sich ein kleines Stück ab. Die erhoffte Süße, der zarte Schmelz läßt sie die Augen schließen. Genussvoll schluckt sie. Dann bricht sie drei Riegel ab und stopft sie sich gierig in den Mund, dieses Loch, in dem so viel Platz ist für Süßes, für Salziges, für Fettiges. Ihre dicke Hand mit den weichen Fingern füttert sie. In vier Minuten hat sie die ganze Tafel verschlungen.

Sie ist jetzt so erschöpft, dass sie weint. Das Baby in ihr ist hellwach und tritt ihr schmerzhaft unter die Rippen, von oben ruft Laura „Maaammmiii!“ und das Wasser kocht noch nicht und ihre Füße stehen in einem Gemisch aus festgeklebter Knetmasse und Plätzchenteig, den die Kinder in den letzten Tagen auf den Boden fallen ließen.

Jetzt schüttelt sich ihr dicker, runder Körper vor Weinen auf dem Küchenstuhl. Gestern lud Frank sie zum Essen ein, nach dem er wochenlang das Reden eingestellt hatte. Zuerst freute sie sich trotz ihrer Müdigkeit, das Haus für ein paar Stunden zu verlassen. Obwohl sie schon gestern kaum die Augen aufhalten konnte; die durchwachten Nächte setzten ihr zu. Sie rief ihre Mutter an, ob sie am Abend die Kinder für ein paar Stunden betreuen kann und Sylvia hatte Glück, ihre Mutter sagte zu.

Nachdem Sylvia aufgelegt hatte, begannen die Zweifel. Frank wollte es ihr nicht nett machen gestern Abend, in diesem Restaurant, nein. Er hatte ihr etwas Wichtiges zu sagen und dieses überaus Wichtige, dass bedeutet das Ende ihrer Ehe. Plötzlich war Sylvia sich ganz sicher:

Vor ein paar Wochen hatte sie Frank gefunden. Er saß auf dem Toilettendeckel, nachts um zwei. Er weinte. Seinen Kopf hatte er auf die Knie, die Arme schützend über den Kopf gelegt.

Sylvia war ihm leise gefolgt, weil er sonst nie nachts um diese Zeit das gemeinsame Bett verließ. In diesem Moment, als sie ihn dort hocken sah, da wusste sie, dass er sie und seine drei Kinder verlassen würde. Leise zog sie sich damals in das Schlafzimmer zurück und ließ ihren dicken weichen Körper in die dicken weißen Kissen fallen und schlief sofort ein. Frank hatte sich in eine Arbeitskollegin verliebt und sie wusste es schon lange. „Eine Affäre,“ hatte sie gedacht, „Nur eine Affäre. Ich lasse ihn. Affären gehen vorbei. Kinder bleiben. Frauen bleiben. Familien bleiben.“

In diesem Restaurant gestern Abend, da hat er sie gebeten, ihn gehen zu lassen:“Ich liebe dich nicht mehr, Sylvia.“ Sagte er und knetete seine Stoffserviette. „Ich will wieder frei sein, ein bisschen Spaß haben. Ich bin erst zweiunddreißig.“
„Spaß haben?“ hatte Sylvia wie sein Echo wiederholt, schwer vor Erschöpfung und Wein und Essen, in einem dämmrigen Zustand von Unwirklichkeit.
„Ja, Spaß haben. Ich kann nicht mehr mit dir und den Kindern leben. Sie machen mich nervös und demnächst sind es drei und es ist schon mit den beiden chaotisch.“
„Ja, bald sind es deine drei Kinder.“ wiederholte Sylvia.
„Ich mag Kinder nicht, Sylvia. Ich habe es vorher nicht gewusst. Ich kann nichts mit ihnen anfangen.“
„Du kannst nichts mit ihnen anfangen? Du hast es doch noch nie probiert?“ sagte Sylvia.
„Ich hatte weder Zeit noch Lust dazu, das weißt du genau. Und das dritte Kind, das wollte ich nicht. Auch das weißt du genau.“
„Ich habe dir damals gesagt, das eine Abtreibung niemals für mich in Frage kommt. Es ist mein Körper, mein Kind. Unser Kind, du hast mir dieses dritte Kind gemacht,Frank! Und jetzt willst du noch ein bißchen Spass? Du läßt mich mit drei Kindern sitzen?“
„Es tut mir wirklich Leid für dich,für euch. Wenn du kein Theater machst und mich gehen läßt, dann kannst du und die Kinder in dem Haus bleiben. Wenn du Stress machst, dann werde ich dafür sorgen, dass das Haus verkauft wird. Ich werde gleich meine Koffer packen.“

In diesem Moment sehnte Sylvia sich nach dem schmelzenden Süß der Schokolade und fragte sich, ob sie im Kühlschrank noch eine Tafel Haselnuss- Vollmilch gelagert hatte. Sie würde jetzt gerne eine harte Nuss zerbeißen. Ja, das war alles, was sie jetzt wirklich wollte.
„Lass uns zahlen und gehen.“ sagte sie träge und bewegungslos. Frank winkte den Kellner an ihren Tisch.

Das war erst gestern Abend und jetzt sitzt sie hier, weinend auf diesem Küchenstuhl, in ihrer Nebelwelt, morgens um drei und ihr ist übel von der Schokolade und von dem tretenden Baby. Übel von dem Husten aus dem oberen Stock. Ihr ist ganz einfach schrecklich übel vor Angst.

 
Zuletzt bearbeitet:

hallo Knallfrosch,

wenn ich das nicht schon oft gesehen hätte...würde ich die Handlung für übertrieben halten. Sehr eindringlich beschrieben, sehr nah, geradezu körperlich spürbar, was hier geschieht.
Manche Männer reißen auch nur aus, weil sie Schiß vor der Verantwortung haben...aber die gehen wohl noch früher.
Zum Schluß noch eine Erpressung ("Wenn du Stress machst..."), genau, was frau in dieser Lebenslage gebrauchen kann.
Sehr plastisch wird die Auflösung der Familie, des Lebens, wie es war, auch durch die Vermischung der Ebenen: "Und das Baby in ihrem Bauch tritt ihr gegen die Blase, quetscht ihre Lunge ein, so dass ihr jeder Atemzug schwer fällt und harte Arbeit ist. Sylvia setzt endlich das Wasser auf den Herd und öffnet dann die Kühlschranktür. „Schokolade“ denkt sie, „nur ein kleines Stück Schokolade.“ wie auch: "und ihr ist übel von der Schokolade und von dem tretenden Baby"

Ich staune darüber, wie Du so viel Leben mit so wenig Text vermitteln kannst.

Gruß Set

 

Lieber setnedingsbums (was bedeutet der Name? Griechisch?)

Ich bin erfreut über deinen Kommentar. Danke schön. Irgendwie fühlt sich mein Bäuchlein gepinselt. Schätze mal, du hast da eben ein Lob ausgesprochen.

Hmmm...lecker, wie Schokolade.
Hier, lies das:
Damit das Schreiben noch eine Spur Realität aufweist, haben gewisse Menschen eine andere Realität erfunden, die sie durch einfache Sätze, genaue Begriffe und korrekte grammatikalische Bezüge glauben ausdrücken zu können. Ich bin einer von wenigen, die es ablehnen, klar zu schreiben..."

Ahja.
Ich aber möchte "klar schreiben". Das ist mein Ziel. Mein Begehr. Meine Intention.

Ich empfinde es als riesiges Kompliment, wenn du dich über das gedrängte Leben in meiner Geschichte wunderst.
Danke Schön.

Darüber
freut sich ein Knallfröschlein

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Knallfrosch,

Deine Geschichte klingt authentisch und ist lebensnah.

Ja so, genauso spielt es sich oft ab.
Sylvia hat mit dem Bunkern ihrer Schoki vorgesorgt für schlimme Zeiten, die sie bereits durchlebt hat und auch noch mehrfach über sie hereinbrechen werden.
Sie stopft sie in sich hinein, um mit diesem "Energiespender" ihren Kummer und Schmerz kurzzeitig zu betäuben; wohlwissend, das sie damit keine Besserung herbeiführt, sondern sich damit tiefer und tiefer in ihr Elend verstrickt. Sich ein "dickes Fell" anfuttert, um das Außen nicht permanent spüren zu müssen.

Bravo!...
... applaudiert Sua Sponte

 

Hallo Knallfrosch,
ja, genau, so mag es sich oft abspielen und du schreibst auch flüssig, doch mir scheint die alleinige Realitässchilderung eben nicht ausreichen für eine gute Geschichte. Die Personen bilden m.M. nach nur das Prototypische ab, werden nicht wirklich Individuen, die für mich spürbar werden. Das Bunkern der Schokolade könnte eine Einstieg sein, doch so bleibt er nichts als ein Hinweis auf das Schlimme, das sie schon erlebt hat. (GÄHN!) Du erklärst dann auch auch, was der Leser eigentlich spüren muß, sogar mit Gänsefüßchen. Fazit: Mir wären Charaktere lieber als Istbeschreibungen. Die Möglichkeiten sind alle in der Geschichte angelegt.
LG,
Jutta

 

@ Jutta

Danke fürs Lesen. Ich habe deine Kritik jetzt mehrfach gelesen und kann nicht so recht was damit anfangen- womit wir schon mal einen Kontext gefunden haben:D!

Das Thema dieser Geschichte ist Lethargie, hervorgerufen durch Überforderung.
Diese Unfähigkeit noch einen klaren Gedanken zu fassen, die körperliche Beanspruchung durch die gegebenen Umstände, das Chaos, die kranken Kinder, gipfeln in ihrem Wunsch nach einem Stück Haselnuss Schokolade. Völlig absurd. Der Mann und Vater teilt mit, das er ausziehen will und das einzige, wozu Sylvia noch fähig ist, ist das Verlangen nach Schokolade zu empfinden.

Frank bleibt eine blasse Figur und so ist das auch gewollt. Ich denke aber, das Sylvia und ihre gefühle Erschöpfung als Haupt. Prot. gelungen ist.

Den von dir angesprochenen Satz mit den Gänsefüßchen habe ich gesucht. Und ich glaube, dass es der Satz mit dem " Wie stellt er sich das vor?..." ist.

Darüber werde ich nachdenken, ob ich ihn rausnehme oder nicht.

So ist das- unterschiedliche Meinungen. Kann ich nur draus lernen.

Gruß
Knallfrosch

 

Hallo Knallfrosch,
viel ist ja schon zu deiner Geschichte, die von Überforderung einer Mutter und ihrem Versuch handelt, mit zartem Schokoladenschmelz ihre Sorgen herunterzuschlucken und für einen Augenblick der momentanen Ausweglosigkeit zu entfliehen, geschrieben worden.
Einiges möchte ich noch ergänzen.

Was mir stilistisch auffällt:
Viel ROSA…in der Geschichte
„Ihre dicke rosa Hand..“
„…weichen rosigen Fingern..“
„Ihr runder, rosiger, weicher, fetter Körper…“

Inhaltlich ist für mich nicht stimmig, dass sie neben der Überforderung mit der Kinderbetreuung und ihrer körperlichen Erschöpfung noch Zeit findet, der Restauranteinladung ihres Mannes Folge zu leisten.
Zitat ..“ In diesem Restaurant gestern Abend,…“
Immerhin hat sie ja, wie du sagst
Zitat: „Seit drei Nächten hat sie höchstens zwei Stunden am Stück geschlafen.“
Die Protagonistin scheint sich also rund um die Uhr, tagsüber, abends und nachts pausenlos um die kranken Kinder kümmern zu müssen.
Wie ist es dann möglich, dass sie - nach immerhin schon zwei schlaflosen Nächten, die Kinder für Stunden alleine lassen kann und sich ausgiebig Zeit für ein Abendessen mit dem treulosen Ehemann nimmt?

Nicht ganz erschließt sich mir auch, dass bei einem Menschen, der drei Nächte so gut wie nicht geschlafen hat, die Sehnsucht nach einem Biss auf eine harte Nuss in der Schokolade größer sein soll, als das Verlangen, endlich schlafen zu können (auch wenn sie zum beschriebenen Zeitpunkt diesem Schlaf-Verlangen wegen der anstehenden Krankenpflege noch nicht nachgeben könnte)

Insgesamt scheint mir die Geschichte in der Ballung von unglücklichen Umständen (Zuspitzung der Ehekrise, gleich zwei Kinder an verschiedenen Krankheiten leidend, hochschwanger) ein wenig überzeichnet.
In der Realität fände sich da über Nachbarn, Freunde, Verwandte, evtl. sogar das Jugendamt eine schnelle Hilfe und Entlastung.

Abgesehen von diesen Anmerkungen:
Deine Geschichte regt zum Nachdenken an, lässt aufhorchen, gerade in einer Zeit, in der die Medien wöchentlich über Tragödien berichten, die durch Überforderungssituationen von Müttern entstanden sind.
Gruß
kathso60

 

hallo Knallfrosch,
zu einem Punkt möchte ich etwas hinzufügen: Charakterstudien sind mir auch lieber, die Menschen als Individuen sichtbar machen...wer schon mal mit dem seelischen Zusatnd, den du beschreibst, zu tun hatte, weiß auch, dass er die totale Auflösung bedeutet - das individuelle Ich hört auf zu existieren, in der existenziellen Krise sind sich die Menschen weitgehend ähnlich. Schmerzen, Angst und Sehnsucht - wegen der Reduktion hat mich die Schilderung überzeugt.

Gruß Set

 

Lieber Knallfrosch,

Du hast mit wenig Text eine erschütternde, lebensnahe Gechichte dargestellt. Ich kann mir vorstellen, dass Beziehungen so zu Ende gehen. Frank macht sich aus dem Staub, hat eine andere, will "Spaß haben", drückt sich vor der Verantwortung. Sylvia versucht, ihre Gefühle mit Schokolade runterzuschlucken, die - vorübergehend - glücklich machen soll.

Frank lädt Sylvia zum Essen ein, um ihr unverblümt zu sagen, dass er sich von ihr trennen wird. Er versucht sie zu erpressen - wenn sie Stress macht, muss sie aus dem Haus ausziehen. Sylvia scheint nicht besonders helle zu sein, wenn sie ihm das unbesehen glaubt. Zu seinem kaltschnäuzigen Benehmen passt es nicht, dass Sylvia ihn nachts weinen sieht. Die Situation geht ihm nahe und doch versucht er, seiner Noch-Frau die Hölle heiß zu machen?

Erst hatte ich für Franks Haltung Verständnis - ihm sind drei Kinder zu viel, er findet es schon mit zwei Kindern chaotisch. Das konnte ich nachvollziehen. Als er Sylvia sagte, er möge Kinder nicht, habe ich mich gefragt, warum er das erst jetzt bemerkt, wo sie kurz vor der Geburt des dritten Kindes steht. Warum verschwindet er nicht schon vor der Geburt des zweiten Kindes?

Viele Grüße,
Kornelia

 

@ fleißige Kommentatorinnen

vielen Dank für eure Anregungen. Ich habe die Geschichte an den entsprechenden Punkten geändert, damit sie besser verständlich wird und weniger Fragen offen bleiben.

Zu der Frage, ob ein Mensch (Mann oder Frau=egal) gelichzeitig auf dem Klodeckel heulen kann und kurz darauf der ehemals geliebten Person drohen kann, möchte ich sagen:

Jaja. Das geht alles wunderbar so. Kummer und Verzweiflung schließen so ein Verhalten nicht aus sonderen eher ein.

Da bin ich ganz sicher.

Vielen Dank noch einmal an alle.

Der Kanalfrosch:shy:

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom