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Sylvias Schokolade
Ihr runder, rosiger, weicher, fetter Körper mit dem riesigen schwangeren Bauch läßt sich wie von selbst auf den Küchenstuhl in der dunklen Küche fallen. Sie hat keine Kraft mehr, ihren Arm bis zum Lichtschalter zu heben. Das Licht der Straßenlaterne reicht aus, damit sie sich in ihrer Küche zu recht findet. Sylvia sieht mit schweren, halbgeschlossenen Augenlidern auf die Küchenuhr, es ist erst-oder schon-drei Uhr morgens. Sie ist so müde, so ungeheuer müde. Ihre Arme sind bleischwer, ihre Beine bewegen sich nur noch vorwärts, wenn sie ihren ganzen Willen in sie zwingt. Seit drei Nächten hat sie höchstens zwei Stunden am Stück geschlafen.
Jetzt bewegt sie sich durch ihre bleierne und doch irgendwie watteweiche Welt wie durch einen Albtraum. Laura hat Husten, sie muss jetzt einen großen Topf mit Wasser aufsetzen, warten bis das Wasser kocht, ihn hochschleppen ohne auf der Treppe zu fallen, den Topf in das Kinderzimmer stellen, damit das dampfende Wasser die Luft befeuchtet und das Kind besser atmen kann. Dieses Röcheln, das Bellen, das Luft einziehen, die Angst ihrer Tochter dringen wie durch schwere graue Nebel zu ihr vor.
Lukas hat einen Darminfekt, er übergibt sich Tag und Nacht und der Arzt hat gesagt: „Wenn es bis morgen nicht besser ist mit ihm, dann geht er in die Klinik. Er braucht Infusionen, verliert zu viel Flüssigkeit.“
Und das Baby in ihrem Bauch tritt ihr gegen die Blase, quetscht ihre Lunge ein, so dass ihr jeder Atemzug schwer fällt und harte Arbeit ist. Sylvia setzt endlich das Wasser auf den Herd und öffnet dann die Kühlschranktür. „Schokolade“ denkt sie, „nur ein kleines Stück Schokolade.“ Sie hat vorgesorgt, etliche Tafeln ihrer Lieblingsmarke liegen gebündelt, zum greifen nah. Sie zupft das Papier von der ersten Tafel und bricht sich ein kleines Stück ab. Die erhoffte Süße, der zarte Schmelz läßt sie die Augen schließen. Genussvoll schluckt sie. Dann bricht sie drei Riegel ab und stopft sie sich gierig in den Mund, dieses Loch, in dem so viel Platz ist für Süßes, für Salziges, für Fettiges. Ihre dicke Hand mit den weichen Fingern füttert sie. In vier Minuten hat sie die ganze Tafel verschlungen.
Sie ist jetzt so erschöpft, dass sie weint. Das Baby in ihr ist hellwach und tritt ihr schmerzhaft unter die Rippen, von oben ruft Laura „Maaammmiii!“ und das Wasser kocht noch nicht und ihre Füße stehen in einem Gemisch aus festgeklebter Knetmasse und Plätzchenteig, den die Kinder in den letzten Tagen auf den Boden fallen ließen.
Jetzt schüttelt sich ihr dicker, runder Körper vor Weinen auf dem Küchenstuhl. Gestern lud Frank sie zum Essen ein, nach dem er wochenlang das Reden eingestellt hatte. Zuerst freute sie sich trotz ihrer Müdigkeit, das Haus für ein paar Stunden zu verlassen. Obwohl sie schon gestern kaum die Augen aufhalten konnte; die durchwachten Nächte setzten ihr zu. Sie rief ihre Mutter an, ob sie am Abend die Kinder für ein paar Stunden betreuen kann und Sylvia hatte Glück, ihre Mutter sagte zu.
Nachdem Sylvia aufgelegt hatte, begannen die Zweifel. Frank wollte es ihr nicht nett machen gestern Abend, in diesem Restaurant, nein. Er hatte ihr etwas Wichtiges zu sagen und dieses überaus Wichtige, dass bedeutet das Ende ihrer Ehe. Plötzlich war Sylvia sich ganz sicher:
Vor ein paar Wochen hatte sie Frank gefunden. Er saß auf dem Toilettendeckel, nachts um zwei. Er weinte. Seinen Kopf hatte er auf die Knie, die Arme schützend über den Kopf gelegt.
Sylvia war ihm leise gefolgt, weil er sonst nie nachts um diese Zeit das gemeinsame Bett verließ. In diesem Moment, als sie ihn dort hocken sah, da wusste sie, dass er sie und seine drei Kinder verlassen würde. Leise zog sie sich damals in das Schlafzimmer zurück und ließ ihren dicken weichen Körper in die dicken weißen Kissen fallen und schlief sofort ein. Frank hatte sich in eine Arbeitskollegin verliebt und sie wusste es schon lange. „Eine Affäre,“ hatte sie gedacht, „Nur eine Affäre. Ich lasse ihn. Affären gehen vorbei. Kinder bleiben. Frauen bleiben. Familien bleiben.“
In diesem Restaurant gestern Abend, da hat er sie gebeten, ihn gehen zu lassen:“Ich liebe dich nicht mehr, Sylvia.“ Sagte er und knetete seine Stoffserviette. „Ich will wieder frei sein, ein bisschen Spaß haben. Ich bin erst zweiunddreißig.“
„Spaß haben?“ hatte Sylvia wie sein Echo wiederholt, schwer vor Erschöpfung und Wein und Essen, in einem dämmrigen Zustand von Unwirklichkeit.
„Ja, Spaß haben. Ich kann nicht mehr mit dir und den Kindern leben. Sie machen mich nervös und demnächst sind es drei und es ist schon mit den beiden chaotisch.“
„Ja, bald sind es deine drei Kinder.“ wiederholte Sylvia.
„Ich mag Kinder nicht, Sylvia. Ich habe es vorher nicht gewusst. Ich kann nichts mit ihnen anfangen.“
„Du kannst nichts mit ihnen anfangen? Du hast es doch noch nie probiert?“ sagte Sylvia.
„Ich hatte weder Zeit noch Lust dazu, das weißt du genau. Und das dritte Kind, das wollte ich nicht. Auch das weißt du genau.“
„Ich habe dir damals gesagt, das eine Abtreibung niemals für mich in Frage kommt. Es ist mein Körper, mein Kind. Unser Kind, du hast mir dieses dritte Kind gemacht,Frank! Und jetzt willst du noch ein bißchen Spass? Du läßt mich mit drei Kindern sitzen?“
„Es tut mir wirklich Leid für dich,für euch. Wenn du kein Theater machst und mich gehen läßt, dann kannst du und die Kinder in dem Haus bleiben. Wenn du Stress machst, dann werde ich dafür sorgen, dass das Haus verkauft wird. Ich werde gleich meine Koffer packen.“
In diesem Moment sehnte Sylvia sich nach dem schmelzenden Süß der Schokolade und fragte sich, ob sie im Kühlschrank noch eine Tafel Haselnuss- Vollmilch gelagert hatte. Sie würde jetzt gerne eine harte Nuss zerbeißen. Ja, das war alles, was sie jetzt wirklich wollte.
„Lass uns zahlen und gehen.“ sagte sie träge und bewegungslos. Frank winkte den Kellner an ihren Tisch.
Das war erst gestern Abend und jetzt sitzt sie hier, weinend auf diesem Küchenstuhl, in ihrer Nebelwelt, morgens um drei und ihr ist übel von der Schokolade und von dem tretenden Baby. Übel von dem Husten aus dem oberen Stock. Ihr ist ganz einfach schrecklich übel vor Angst.