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- 14.08.2012
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Szenen
Plötzlich blickt sie zu ihm. Sie wirkt überrascht, runzelt die Stirn. Schnell wendet sich Theo ab, er spürt, wie er rot wird. Hat sie gemerkt, dass er sie betrachtet? Dass er sie seit gut einer Viertelstunde anstarrt, als wäre sie eine Außerirdische? Theo könnte sich ohrfeigen. Er schaut zur Bühne, wiegt sich im Rhythmus der Musik und tut, als interessierte ihn nur die Band. In Wahrheit beginnt er, zum Takt der zornigen Gitarrenriffs sein Mantra zu flüstern: Drei Komma eins vier eins fünf neun zwei sechs fünf drei fünf acht neun sieben … mit jeder Zahl, die er murmelt, nimmt seine Nervosität ab, bis … neun neun neun neun neun zählt er. An dieser Stelle hört er immer auf. Fünfmal die Neun hintereinander, verrückt. Käme das direkt hinter dem Komma, stünde die fünfte Neun für ein Hunderttausendstel. Ein klitzekleines Hunderttausendstel! Das ist so gut wie nichts, egal wovon. Natürlich kann es auch viel sein. Ein Hunderttausendstel aller Sterne zum Beispiel wären immer noch unvorstellbare siebzig Billiarden, aber eben nichts im Vergleich zur Gesamtzahl. Oder ein Hunderttausendstel aller Atome. Was könnte man daraus bauen? Ein paar Millionen Galaxien vielleicht, aber sicherlich kein ganzes Universum.
Der Applaus reißt ihn aus seinen Gedanken. Er fällt in den Jubel mit ein und zwingt sich dabei, nicht zu ihr zu sehen.
Während des nächsten Songs aber beobachtet er sie wieder.
Nahe der kleinen Bühne lehnt sie allein an der Wand, ein verträumtes Lächeln um die Lippen. Sie wirkt, als wäre sie woanders, ganz weit weg. Doch hin und wieder schaut sie nun zu ihm, mit einem nachdenklichen, fragenden Gesichtsausdruck.
Ist sie eine Schönheit? Theo weiß es nicht zu sagen, ja, schön ist sie, aber da ist noch mehr an ihrer Erscheinung, irgendwas, wofür er keine Worte findet. Er kann sich nicht erklären, warum ihr Anblick ihn so fesselt. Ist es ihre Nase? Ihr Mund? Der versonnene Blick? Ihr Haar mit den hineingeflochtenen Zöpfchen? Der zierliche Schmuck, den sie trägt? Ihr Kleid, das so gar nicht hierher passt?
Geheimnisvoll wirkt sie, rätselhaft. Ihr Alter getraut er sich nicht zu schätzen, sie kann genauso gut zwanzig wie fünfunddreißig sein. Zweifellos ist sie älter als er. Sie hat etwas Ernsthaftes an sich, gleichzeitig etwas mädchenhaft Unschuldiges, Theo wollen nicht und nicht die richtigen Worte dafür einfallen. Edel? Mysteriös? Sphärisch? Außerirdisch? Oder doch einfach nur wunderschön?
Als die Band übergangslos Naptime zu spielen beginnt, löst sie sich von der Wand und kommt auf ihn zu.
Sie wird hinter ihm jemand entdeckt haben, denkt Theo. Er kann sich einfach nicht vorstellen, dass eine Frau wie sie allein hier ist.
Nein, sie schaut wirklich ihn an. Jetzt ist sich Theo sicher. Wie gebannt starrt er ihr entgegen. Er verliert sich in ihrem Gesicht und vergisst alles um sich herum. Er vergisst, dass er sich in den schäbigen Eingeweiden einer Fußballplatztribüne befindet, im räudigsten Club der Stadt, er vergisst, warum er hier ist, er vergisst die paar Dutzend Menschen um sich, er vergisst seine schwitzenden Hände, die dröhnende Musik, die Nachkommastellen. Ihm ist, als stolperte er blindlings in ein unbekanntes Land. Sie kommt tatsächlich auf ihn zu! Kurz erwägt er, sich einfach aus dem Staub zu machen.
Dann steht sie vor ihm.
„Hi“, sagt sie.
„Hi“, krächzt Theo. Er räuspert sich. „Hi.“
„Du schaust mich die ganze Zeit an.“
„Was?“ Er beugt sich zu ihr. Er hat sie ganz genau verstanden.
„Du schaust mich die ganze Zeit an. Warum?“
„Hab ich dich angeschaut? Echt?“
„Jetzt tu nicht so.“
„Ich weiß nicht … du hast mich doch zuerst angeschaut.“
Himmel, was redet er da? Er kommt sich vor wie der letzte Idiot. In der nächsten Sekunde wird sie die Augen verdrehen und ihn einfach stehen lassen, das weiß er.
„Na ja, weil ich halt glaub, dass wir uns kennen.“
„Äh .. nein, nein“, stammelt Theo, „also ich weiß nicht … ich glaub nicht. Hm … woher denn?“
„Willst du’s wirklich wissen?“
„Na klar.“
Sie unterhält sich nach wie vor mit ihm? Theo kann’s nicht fassen.
„Du lachst mich sicher aus.“
„Aber nein. Sag schon.“
„Du lachst nicht?“
„Ich lach nicht. Ich schwör’s.“
„Ich hab dich nämlich schon einmal gesehen … ein paarmal sogar“, sagt sie. Jetzt wirkt sie schüchtern, fast verlegen.
„Und wo?“
„In Träumen.“
„Wie bitte?“
„Jetzt schau nicht so. Ich hab von dir geträumt.“
„Ist nicht dein Ernst.“
„Ehrlich … ich kann’s dir sogar beweisen.“
Seit einer Stunde sitzen sie auf dem Rasen des Fußballplatzes und reden, zwei Plastikbecher mit Bier neben sich. Die Nacht ist außergewöhnlich warm. Leonie raucht eine Zigarette, drückt sie aus, um sich gleich darauf die nächste anzuzünden. Aus den Tiefen der Tribüne wummert die Musik. Noch einmal Naptime, Theo liebt diesen Song.
Er fühlt sich seltsam aufgeregt, beinahe wie vor einer Prüfung. Neunundzwanzig sei sie, hat sie ihm eben gesagt, und das verunsichert ihn gehörig.
„Und du hast wirklich keine Freundin?“, fragt sie ihn. „Warum nicht?“
„Hm, weiß nicht … hat sich halt irgendwie noch nicht ergeben.“
"Was, noch nie?"
Theo blickt an ihr vorbei in den Himmel.
„Da oben, siehst du? Das ist der Delphin. Das einzige Sternbild, das so aussieht, wie es heißt.“
„Jetzt lenk nicht ab … du hast gesagt, du bist einundzwanzig. Du lieber Himmel … und bist noch nie verliebt gewesen? Echt nicht?“
Theo zuckt mit den Schultern.
„Ich glaub’s nicht.“ Sie schüttelt den Kopf und nimmt einen Schluck vom Bier.
„Hast wohl keine Zeit dafür, was? Hast nur die Uni und deine Formeln im Kopf, stimmt‘s? … Als könnte man das Leben ausrechnen.“
Dann schweigt sie minutenlang, sieht ihn dabei an. Theo fällt ums Verrecken nichts Schlaues ein, was er sagen könnte.
„Was bist du im Sternzeichen, Theo?“
„Das meinst du jetzt aber nicht im Ernst.“
„Wieso?“
„Ich will nicht, dass du so was fragst.“
„Warum nicht?“
„Weil es dumm ist.“
„Ich bin nicht dumm, Theo.“
„Das hab ich doch nicht gesagt.“
Das war’s, denkt er, verdammt, er hat’s vermasselt, er hat sie wieder verloren, noch bevor …
„Und wie ist es mit Küssen? Sag bloß, du hast noch nie ein Mädchen geküsst.“
Er schluckt. „Doch, natürlich … also … nein. Eigentlich nicht.“
Jetzt möchte Theo wirklich am liebsten verschwinden. Er fühlt sich wie ein dummer Junge.
„Willst du mich küssen, Theo?“
Leonie wartet nicht auf seine Antwort. Sie beugt sich zu ihm und küsst ihn sanft auf den Mund.
„So ungefähr fühlt sich das an“, flüstert sie. Dann küsst sie ihn noch einmal.
Ohnmächtig wird Theo nicht, aber beinahe. Er verliert sich im Geschmack ihrer Lippen, er verirrt sich im Duft ihrer Haare, sein Mund erkundet ihr Gesicht, seine Hände suchen ihren Körper und sein Schwanz wird hart. Theo ist verliebt.
„Und du?“, fragt er.
„Was meinst du?“
„Liebst du wen?“
„Du meine Güte. Ununterbrochen. Und immer die Falschen. Bis jetzt.“
Sie lässt sich rücklings aufs Gras sinken und zieht Theo auf sich.
Ein Paar liegt auf dem Boden, in der Ecke eines Raumes. Nur die Oberkörper sind zu sehen. Die Frau trägt ein schwarzes Abendkleid, schulterfrei, ihre Haare sind hochgesteckt. Der Mann eng neben ihr, den rechten Ellbogen auf den Boden, den Kopf in die Hand gestützt. Seine Linke ruht auf der Brust der Frau. Auch er ist elegant gekleidet, mit Smoking, weißem Hemd, Fliege, das schwarze Haar streng zurückgekämmt. Ein Schönling. Ein Beau. Über die Frau gebeugt betrachtet er ihr Gesicht. Die Augen der Frau sind geschlossen. Von ihrem Hals hinweg breitet sich Blut auf dem Boden aus. Der Boden ist gelb, ockergelb, nein, eher sienabraun. Große quadratische Steinplatten, unregelmäßige Fugen dazwischen. Die Wand links ist nachtblau, die andere dunkelgrün. Ein bläuliches, kaltes Grün. Entlang einer Bodenfuge steht ein Wort geschrieben, der Perspektive folgend verkleinern sich die Buchstaben nach hinten zu.
„Piangere? Was heißt piangere?“, fragt Theo.
„Ist italienisch. Es bedeutet trauern“, antwortet Leonie.
Eineinhalb Quadratmeter Ölfarbe, in einem dunklen, schweren Holzrahmen. Er starrt auf die Leinwand. Es stimmt, die Frau sieht aus wie Leonie und das Gesicht des Mannes ähnelt seinem eigenen. Sie habe das Bild vor einem Jahr gemalt, behauptet sie. Theo kennt Leonie seit drei Stunden.
Aber das bedeutet doch nichts, denkt er. Nur ein Zufall. Leonie verhängt das Bild wieder mit dem Tuch.
„Lass uns zusammen träumen“, sagt Leonie.
„Wie meinst du das?“, fragt Theo.
„Na ja, halt gemeinsam in einem Traum sein. Im selben Traum. Gleichzeitig.“
„Das geht doch nicht. Das ist Unsinn.“
„Hast du es jemals versucht?“
„Du bist lustig. Mit wem denn?“
„Lass es uns versuchen.“
Leonie richtet sich auf, beugt sich über ihn und langt neben die Matratze. Theo schielt nach ihren Brüsten, die keine Handbreit vor seiner Nase im Kerzenlicht schimmern. Er atmet tief ein und schließt die Augen.
„Muss das jetzt wirklich sein?“, fragt er, als er das Klicken des Feuerzeugs hört.
„Klar. Die zum Morgenkaffee und die nach dem Ficken. Das sind die besten.“
„Die nach dem Ficken … na ja, du musst es ja wissen.“
„Bist du etwa eifersüchtig?“
„Warum?“
„Du weißt schon, was ich meine, mein kleiner Dummkopf.“
In Wahrheit riecht Theo den Zigarettenrauch gar nicht ungern.
„Und außerdem mag ich das nicht.“
„Was?“
„Wenn du ficken sagst.“
Sie steckt eine Hand unter die Decke und legt sie auf seinen Bauch.
„Willst du mich noch einmal ficken, Theo?“, haucht sie ihm ins Ohr.
Als Theo erwacht, fühlt er sich großartig, ja, glücklich. Wie als Kind am Weihnachtsmorgen. Das also ist es, so fühlt sich das an. So seltsam, so aufregend. Oder träumt er doch? Nein, er ist wach. Aber noch will er die Augen nicht öffnen. Er schnuppert an seinen Fingern und augenblicklich regt sich sein Schwanz.
„Leonie und Theo, Theo und Leonie, Leonie und Theo, Theo und Leonie“, flüstert er vor sich hin. Er räkelt sich und öffnet die Augen.
„Leonie?“
Der Platz neben ihm ist leer.
Sein Blick fällt auf das verhängte Bild an der Wand gegenüber. Leonie und Theo? Er schüttelt den Kopf und steht auf.
„Leonie?“, ruft er. „Leonie?“
Er ist auf einem anderen Planeten, in einer neuen, fremden Welt. Ist das wirklich sein Leben? Nackt reckt und streckt er sich im Sonnenlicht und kommt sich dabei vor wie ein Filmheld.
Er schaut sich um. Ein großer, langgestreckter Raum, weiß gekalkte Ziegelwände, Eisensprossenfenster vom Boden bis zur Decke. Schräge Sonnenstrahlen, alte, zerschundene Eichenholzdielen. Ein paar Staffeleien, unzählige Bilder, Leinwände auf Keilrahmen, ein bizarr bemalter Paravent. Der Boden ist übersät mit Farbtuben, Dosen, Tiegeln, verschiedenem Werkzeug, Papierrollen, Zigarettenkippen. In Blechbüchsen stecken bunte Sträuße aus Pinseln, es riecht nach Ölfarbe und Terpentin. Er schlendert umher, als wäre er in einem Museum.
„Leonie?“
Die Bilder findet er großartig. Manche bunt und wild, andere düster und schemenhaft, aber alle scheinen sie eine Geschichte zu erzählen.
Leonies Reich. Eine beeindruckende Kulisse, ein einziger Farbenrausch. Und er hat mit dieser Leonie geschlafen! Mit dieser unglaublichen Frau. Er hat tatsächlich mit dieser Frau geschlafen? Er tänzelt und boxt in die Luft und kann nicht aufhören zu grinsen. So muss sich Johnny Depp fühlen, denkt er.
Hinter einem Vorhang am anderen Ende des Ateliers versteckt sich Leonies Bad. Ein Waschbecken, ein kleiner Spiegel, eine geflieste Duschecke. Dort haben sie sich vor ein paar Stunden ausgezogen und sich dann unter dem warmen Wasserstrahl nackt umarmt. Der Gedanke daran lässt ihn den Atem anhalten. Er spürt ein Ziehen im Magen, ein Zittern in den Beinen. So fühlt sich das also an - verliebt sein.
Er lugt hinter den Vorhang und entdeckt auf dem Spiegel rote Buchstaben:
Lauf mir ja nicht weg, Theo!
Er stellt sich unter die Dusche, lässt kaltes Wasser auf sich stürzen und schnappt nach Luft.
Eben, als er sich anzieht, taucht Leonie auf. Sie stellt zwei Einkaufstaschen ab, fällt Theo um den Hals, küsst ihn und flitzt sofort wieder Richtung Tür.
„Bin gleich wieder da. Ich hab noch nicht alles. Lauf mir ja nicht weg“, ruft sie über die Schulter zurück.
Theo denkt nicht daran. Es ist Wochenende, obendrein sind Ferien. Er wirft sich auf ein Sofa, schließt die Augen und malt sich sein weiteres Leben mit Leonie aus.
Als sie wiederkommt, trägt sie im linken Arm einen großen Bund Lilien, dutzende müssen das sein, und in der rechten Hand balanciert sie ein Kuchenblech.
„Hilf mir, Theo. Schnell.“
Theo springt auf und nimmt ihr das Blech ab.
„Vom Bäcker am Eck. Noch ganz warm ... hach, ich liebe Blumen.“ Sie strahlt ihn an, ganz atemlos ist sie.
„Zwanzig Stück Kuchen? Du bist verrückt, Leonie.“
„Ich bin verrückt? Du machst mir Spaß.“ Sie grinst ihn spöttisch an. „Also wenn ich verrückt bin, was bist denn dann du, ha? Ein Typ, der freiwillig Mathematik studiert, nennt andere verrückt? Im fünften Semester, hast du gesagt? Mit einundzwanzig? Ehrlich, findest du das etwa normal?“ Sie lacht. „Mein kleines Genie.“
Tatsächlich ist Theo neunzehn. Er hat ihr am Abend nicht die Wahrheit gesagt. Einundzwanzig klingt besser, hat er sich gedacht, erwachsener. Er hasst es, wenn man ihn Wunderkind nennt, er kann es einfach nicht mehr hören.
„Ich bin deine Frau, Theo, das spürst du doch, oder? Und du bist mein Mann“, hat sie ihm vor dem Einschlafen ins Ohr geflüstert.
Ihr Mann!
Zwei Tage lang setzen sie keinen Fuß vor die Tür des Ateliers.
Der Duft der Lilien hat den Geruch der Ölfarben überdeckt und mischt sich mit dem Duft von Leonies Geschlecht, mit dem Duft ihrer Haare, mit dem Duft ihrer Haut.
Sie lieben sich auf dem Bett, sie schlafen auf dem Bett, sie picknicken darauf. Leonie steckt Theo Obststücke in den Mund, füttert ihn mit Leckerbissen.
„Ich liebe Oliven“, sagt er.
„Ich weiß“, sagt Leonie.
„He, das ist meine Lieblingsschokolade.“
„Ich weiß.“
„Träumst du noch von mir?“
„Nein. Warum auch? Jetzt bist du ja hier.“
„Theo“, ruft Leonie aus dem Badezimmer, „was sollen die Zahlen auf dem Spiegel? Hast du eigentlich eine Ahnung, was so ein Lippenstift kostet?“
„Ich wollte nur ausrechnen, wie schön du bist.“
„Und da kommt unendlich raus? Bist du dir sicher, dass du dich nicht verrechnet hast, du Witzbold?“
„Ja. Hundertprozentig.“
„Mein Gott, du bist so süß.“
In den letzten Wochen seiner Ferien sind sie täglich zusammen.
„Heute musst du mir was zeigen, was ich nicht kenne, morgen zeig ich dir was, übermorgen bist wieder du dran, und so weiter.“ So lautet ihre Abmachung.
Ein junger Mann und eine schöne Frau. Hand in Hand ziehen sie durch den Sommer der Stadt, ein Liebespaar unter unzähligen anderen. So viele Liebespaare. Das Grinsen scheint in Theos Gesicht festgeschraubt zu sein.
An einem einzigen Tag schleppt ihn Leonie in acht Galerien.
„Deine Bilder gefallen mir besser“, sagt Theo jedes Mal beim Rausgehen und meint es ehrlich.
Einmal schlägt er einen Besuch im Planetarium vor. Kaum ist das Licht ausgegangen, hat Leonie die Hände unter seinem Hemd und die Zunge an seinem Ohr, und während Theo sich in den Tiefen des Alls verliert, bläst sie ihm einen.
„Ich hätte von dem Zeug eh nichts kapiert“, sagt sie anschließend. „Du weißt doch, dass ich dumm bin.“
Sie ist nicht dumm, sie ist anders als er, aber nicht dumm. Dass sich Theo manchmal nicht vorstellen kann, was in ihrem Kopf vorgeht, macht doch nichts, das ist nicht ungewöhnlich, sagt er sich. Sie kennen sich doch erst seit wenigen Tagen.
„Was ist eigentlich unter dem roten Tuch dort?“, fragt er sie eines Abends.
Leonie zuckt die Schultern, streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, schweigt.
„Bilder?“
„Ja … nur ein paar Bilder.“
„Kann ich sie sehen?“
„Ich weiß nicht recht. Die sind nicht so toll. Außerdem … also, na ja, eigentlich sind die auch gar nicht von mir.“
„Von wem denn?“
Sie schaut an ihm vorbei. „Von irgendwem halt.“
„Wenn ich berühmt und reich bin, schenk ich dir einen Opalka.“
„Einen was? Ist das ein Tier?“
Sie lacht. „Nein, du Dummi. Ich meine den Maler. Würde irgendwie zu dir passen. Der hat immer nur Zahlen gemalt.“
„Hä?“
„War ein Pole. Lebt nicht mehr, glaub ich. Muss ein echt schräger Typ gewesen sein. 1965 hat er damit begonnen. Er hat eine Leinwand schwarz angemalt und links oben eine kleine weiße Eins draufgepinselt. Daneben eine Zwei. Und so weiter.“
„Was und so weiter?“
„Na ja, er hat Zahl für Zahl gemalt, fortlaufend, bis die Leinwand voll war. Dann hat er auf der nächsten weitergemacht. Wirklich täglich hat er dran gearbeitet und immer mit einem ganz kleinen Pinsel. Größe Null heißen die. Wart mal.“ Leonie springt aus dem Bett und läuft zu einem Regal. Theo folgt ihr mit den Augen und im Nu hat er wieder eine Erektion. Er kann sich an Leonie einfach nicht sattsehen. Sie kommt mit einem Pinsel zurück.
„Siehst du? So winzig sind die.“
„Lass das, Leonie. Du weißt, wie kitzlig ich bin.“
Sie wirft den Pinsel über die Schulter und lässt sich neben Theo aufs Bett fallen. Er zieht sie an sich.
„Wart noch ein bisschen, mein Schatz. Ich will dir das noch schnell fertig erzählen.“
„Mach schnell.“ Er vergräbt die Nase in ihrer Achselhöhle.
„Na ja, irgendwann war er dann bei einer Zahl weit über sieben Millionen. Das musst du dir mal vorstellen. Sieben Millionen! Über zweihundert Bilder. Und alle voll mit Zahlen.“
„Verrückt.“
„Aber was noch viel verrückter ist: Er hat bei jedem neuen Bild ein bisschen Weiß in die schwarze Grundierung gemischt. Jedes Mal genau ein Prozent mehr. Das heißt, seine Bilder sind immer heller geworden. Also der Hintergrund. Aber die Zahlen hat er weiterhin mit Weiß gepinselt. Bis halt irgendwann weiße Zahlen auf fast weißen Leinwänden drauf waren … er malt sich dem Licht entgegen, hat er einmal gesagt.“
„Mann, was für ein Spinner.“
„Wieso Spinner? Er wollte halt das Vergehen der Zeit dokumentieren. Vielleicht auch sein eigenes Vergehen. Als er gestorben ist, hat eine siebenstellige Zahl das markiert. Also seinen Tod. Und sein Werk war vollendet … er hat halt einen Plan gehabt, ein Konzept, ein Ziel, was weiß ich.“
Theo hebt den Kopf und schaut Leonie an.
„Was willst du mit deinen Bildern, Leonie?“
Sie blickt an ihm vorbei.
„Leonie?“
„Ach ich weiß nicht … ich will was verhindern, glaub ich … manchmal hab ich das Gefühl, ich kann was verhindern damit. Wenn ich’s male, dann passiert’s nicht in echt.“
„Was?“
„Ach vergiss es.“
Dutzende Kerzen stehen ums Bett herum. Theo kann nicht einschlafen. Er beobachtet die tanzenden Schatten an der Decke.
„Leonie?“, flüstert er. „... Leonie?“
„Hm?“
„Bist du wach?“
„Hm.“
„Darf ich dich was fragen?“
„Hm.“
„Sag mal … also versteh das jetzt bitte nicht falsch, aber … also das mit deinen Träumen früher … du weißt schon, wo du von mir geträumt hast, ich mein, das stimmt doch nicht, oder?“
Er dreht den Kopf zu ihr.
„Leonie?“
Sie schläft.
Behutsam löst er sich aus ihren Armen und steht auf.
Das erste ist ein Portrait von ihm. Der Kopf füllt das gesamte Bild, das Gesicht mit groben Pinselstrichen wie hingehackt, kobaltblau, gelb, rot, ocker. Im Kerzenlicht scheint es, als würden sich die Augen bewegen.
Das zweite zeigt ihn stehend an einen kahlen Baum gelehnt, in den Himmel starrend. Der Himmel voller blutroter Vögel, die Wiese dunkelblau. Vom Baum halb verdeckt ein Reh.
Auf dem nächsten Theo an einem Tisch sitzend, den Kopf in die Hände gestützt, vor ihm ein aufgeschlagenes Buch. Im Bildhintergrund ein wimmelndes Durcheinander schemenhafter Figuren. Derwische, gehörnte Menschen, wie Menschen gekleidete Tiere, dazwischen hingekritzelt Zahlen und Formeln.
Dann Theo in der klassischen Pose des Grandseigneurs, in einem Lehnstuhl, mit dunklem Anzug, Stehkragen, Stecktuch, ernstem Gesicht. In der Hand ein Revolver.
Dann Theo nackt auf einer Kuh reitend, eine Balancierstange in den Händen, lachend, einen Raubvogel auf der Schulter.
Dann Theo unter Wasser, in inniger Umarmung mit einem Delfin, umgeben von hunderten Zwergfischen. Blau in Blau.
Bild für Bild sieht Theo den Stapel durch.
Theo nackt, Theo verkleidet, Theo liegend, Theo sitzend, Theo mit erigiertem Penis, Theo mit abgeschnittenem Penis, Theo vom Himmel stürzend wie Ikarus, Theo lachend, Theo mit Blut im Gesicht …
Theo, Theo, Theo … Dutzende Bilder.
Und auf jedes Bild ist ein Wort gekritzelt: Theo
„Natürlich hab ich Angst. Von Tag zu Tag mehr.“
„Ich mach dir Angst, Leonie?“
„Also nein, nicht vor dir hab ich Angst, Theo, sondern … ach, ich weiß auch nicht. Dass du schon immer da warst. In meinem Kopf halt. Vor meinem Schicksal hab ich Angst, vor dem, was passieren wird. Und weil du mich jetzt gefunden hast.“
„Aber du hast doch mich angesprochen beim Konzert damals. Das war doch deine Entscheidung. Was hat denn das mit Schicksal zu tun?“
„Nein, du hast mich gefunden, Theo, glaub mir. Ich hab gewusst, dass das passiert. Ich glaube an solche Sachen, ehrlich. Und jetzt hab ich einfach Angst.“
„Leonie, bitte. Es gibt keine solchen Sachen. Was meinst du überhaupt damit? Willst du mir sagen, dass du an so Hokuspokus glaubst? An Vorsehung? Das ist doch lächerlich. Glaubst du wirklich an diesen Unfug?“
Er weiß, dass sie daran glaubt, und mehr und mehr ärgert ihn das. Er will sich nicht vorstellen müssen, dass Leonie wirklich so naiv ist. Entnervt winkt er den Kellner zu sich und bestellt noch ein Bier.
„Und die ganzen Bilder, die ich von dir gemalt hab? In den letzten zwei Jahren? Willst du sagen, das war Zufall?“
„Was denn sonst? Wahrscheinlich hast du mich irgendwo einmal gesehen. Na ja, unbewusst halt. In der Straßenbahn, oder bei irgendeinem Konzert, was weiß ich. So groß ist die Stadt ja nun auch wieder nicht. Wenn du willst, rechne ich dir die Wahrscheinlichkeit aus, wie oft sich Leute zwangsläufig über den Weg laufen.“
„Verdammt, immer willst du alles ausrechnen.“
„Nein, nicht ausrechnen. Verstehen will ich’s. Weil es für alles eine Erklärung gibt.“
„Und wie erklärst du dir, dass ich deinen Namen gewusst hab?“
„Hast du doch gar nicht.“
„Hab ich schon.“
„Das hast du mir aber nie erzählt.“
„Ich hab dir so vieles noch nicht erzählt.“
„Na ja, schon eine ganze Menge. Vom Milo hast du mir erzählt und vom Vincent. Und dann noch vom Heinrich, vom Ernst, von diesen ganzen Typen halt, die dich ge…“
„Hör auf, Theo. Hör sofort auf. Bitte!“
Theo sieht sie finster an. Er versteht nicht, warum er ihr wehtut, was da aus ihm raus will. Er weiß, dass er jetzt ihre Hand nehmen und sie anlächeln sollte. Sich entschuldigen. Zum Teufel, sie liebt ihn doch und er liebt sie erst recht und trotzdem benimmt er sich wie der allerletzte Arsch. Wie ein trotziges Kind, das auf seinem Lieblingsspielzeug herumtrampelt. Ihm ist zum Heulen.
Zum Glück taucht der Kellner auf und lenkt ihn ab. Er stellt das Bier und ein Schälchen mit Knabbereien auf den Tisch.
Leonie nimmt eine Pistazie und schnippt sie Richtung Ufer. Das Ding kullert über die Steinplatten der Promenade und bleibt liegen.
„Ich weiß genau, was jetzt passieren wird“, flüstert sie.
„Nein, Leonie. Das kannst du nicht wissen. Mach mich nicht wahnsinnig. Bitte.“ Wird sie jetzt aufstehen und ihn einfach sitzenlassen? Und was macht er dann?
„Doch, ich weiß es. Gleich wird die Pistazie weg sein ... glaub ich.“
„Was redest du da?“
Eine Krähe landet neben der Pistazie, pickt ein paar Mal mit dem Schnabel daran und flattert wieder davon.
„Hm, die war dir wohl zu groß. Pech gehabt, armer Vogel. Na ja, dafür kannst du fliegen.“
Ihre Worte sind kaum zu verstehen. Trotz der Hitze fröstelt Theo.
„Schau nicht so bös, Theo.“
Sie nimmt eine Rosine aus dem Schälchen.
„Komm, mach den Mund auf.“ Sie wirft und trifft ihn an der Nase.
„Na bitte, fast getroffen.“ Sie lacht übermütig. Manchmal benimmt sie sich wie ein zwölfjähriges Mädchen, denkt Theo.
„Sag was, Theo. Bitte. Was Liebes.“
Theo starrt auf den trägen Fluss. Ihm ist, als wären seine Kiefer zusammengeschweißt.
„Hättest sie schälen müssen.“
„Was?“
„Jessas, Leonie! Die Pistazie für den Vogel. Bist du wirklich so dämlich?“
Sie schaut ihn fassungslos an.
„Du bist ein richtiges Arschloch, Theo.“
Sie steht auf, wirft ein paar Münzen auf den Tisch und geht.
„Leonie!“
Wie ein Fels ragt die Fabrik ins Dunkel der Nacht, wie ein gestrandetes Schlachtschiff. Um die vierhundert Schritte lang und sechzig Schritte breit. Stundenlang streunt Theo um den alten Ziegelbau. Anfangs stur an den Mauern entlang und im Uhrzeigersinn, später immer unentschlossener und weiträumiger.
Jedesmal, wenn er eine Runde beendet und wieder um die letzte Ecke biegt, hält er die Luft an. Wäre er ein Kater, sträubte sich in diesen Augenblicken vermutlich sein Fell, so angespannt ist er. Und jedesmal, wenn er die unbeleuchteten Atelierfenster sieht, stößt er erleichtert die Luft aus und gleichzeitig verkrampft sich sein ganzer Körper. Dann geht er weiter und nimmt sich fest vor, dass dies nun wirklich die letzte Runde sein wird.
Nach dieser ginge er endgültig nach Hause, schwört er sich, schließlich ist er kein Hampelmann. Er lässt sich von einer Frau doch nicht verrückt machen. Von einer Frau noch dazu, die sich ernsthaft über Hokuspokus den Kopf zerbricht. Und über Sternzeichen! Die manchmal einfach durch ihn hindurch sieht, als wäre er Luft. Die Blödsinn träumt und das für bare Münze nimmt. Die nächtelang Bilder malt, und sich am nächsten Morgen nicht daran erinnern kann. Und, lieber Himmel, das viele Blut in ihren Bildern … Mann, in Wahrheit spinnt die doch, die hat doch echt einen Dachschaden …
Oh Gott, wenn sie nur nicht so wunderschön wäre. Theo biegt um die Ecke, blickt die Fassade hoch und schluckt. Kein Licht.
Nur eine Runde noch, aber wirklich die allerletzte. Eine Chance will er Leonie noch geben. Und keine Umwege, immer schön gerade die Mauern entlang. Vierhundertzwölf Schritte die Saccettistraße runter, vierundsechzig Schritte nach rechts, dann dreihundertvierundachtzig an der Rückseite und nochmal siebzig durch die Berggasse.
Theo trottet wieder los und um sich abzulenken, beginnt er ein wenig herumzurechnen. Als er in die Berggasse einbiegt, hat er das Ergebnis und weiß jetzt, dass die Berggasse die Saccettistraße in einem Winkel von 66,5° quert. Zumindest theoretisch, also wenn er davon ausgeht, dass die Straßen und die Fabriksmauern genau parallel verlaufen. Er überlegt, ob er Leonie erzählen soll, dass die Differenz von 66,5° auf 90° fast exakt der Schiefe der Ekliptik entspricht und er fragt sich, ob sie das auch für einen witzigen Zufall hielte, oder vielleicht gar eine drollige Analogie zu ihrer Beziehung darin fände. Wo’s schief ist, kommt man halt leicht ins Rutschen. So was in der Art. Sie macht ja gern solche Späßchen … oder ob es ihr egal wäre und sie nur sagen würde, ach du immer mit deiner langweiligen Rechnerei. Und bei diesen Gedanken spürt er wieder ein Ziehen im Bauch. Was, wenn er Leonie nun wirklich verloren hätte? Vielleicht könnte er ihr nie wieder auch nur irgendwas erzählen …
Er beginnt zu laufen. Was, wenn sie eben nach Hause gekommen ist? Er hetzt um die letzte Ecke und starrt hinauf zum Atelier. Kein Licht.
Er spürt einen Kloß im Hals, zieht Rotz die Nase hoch und spuckt aus. Verdammt, er will nicht heulen, er ist kein Kind. Er lehnt sich mit der Stirn an die Mauer und hat keine Ahnung, was er tun soll. Muss er jetzt wirklich nach Hause gehen? In sein einsames Bett, das er seit Wochen nicht benutzt hat? An die Decke starren und sich vorstellen müssen, wie Leonie in den Armen eines anderen Mannes …
Dann hört er das rhythmische Quietschen. Er erkennt es auf hundert Meter. Wie oft hat er ihr angeboten, das endlich in Ordnung zu bringen. Und jedesmal hat sie abgelehnt und lachend gemeint, das sei sicherer als ein Schloss, jeder halbwegs vernünftige Dieb würde das Fahrrad spätestens nach zwanzig Metern wieder stehenlassen. Theo dreht sich um und tatsächlich ist es Leonie auf ihrem uralten Waffenrad. Als sie ihn sieht, schmeißt sie das Ding hin und fliegt auf ihn zu, fällt ihm um den Hals und bedeckt sein Gesicht mit Küssen. Ihr Atem riecht nach Wein und sie schluchzt wie ein Kind.
Leonie steht rücklings an die Wand gelehnt, die Beine leicht geöffnet, die Hände neben sich an die Fliesen gelegt. Ihre Augen sind halb geschlossen und blicken ins Nirgendwo, vielleicht sehen sie die Wolken, aus denen der warme Regen fällt. Vor dem Hintergrund der weißen Fliesen wirken ihre Fingernägel wie Blutstropfen, denkt Theo, oder wie glänzende Edelsteine. Wie schön sie doch ist.
Er schließt die Augen, streckt die Arme aus und legt die Handflächen an ihre Brüste, je eine Hand an eine Brust, fast zögerlich, gerade mal, dass er sie berührt. Ganz sacht nur umspielt er die Konturen, wie ein Blinder, und so behutsam, als streichelte er ein schlafendes Kind. Und obwohl das Wasser so warm ist, vermeint er, mit den Fingerspitzen Gänsehaut zu fühlen. Leonie stöhnt verhalten und Theo spürt, wie sie ihren Oberkörper wiegt und den Berührungen seiner Hände folgt.
Er zwingt sich, die Augen nicht zu öffnen, macht sie auch nicht auf, als Leonie ihn an sich zieht, seine Rechte nimmt und an ihren Schoß presst. Er lässt sich vor ihr auf die Knie sinken und sie drückt seinen Kopf gegen ihren Unterleib, drängt sich ihm entgegen, öffnet die Beine und stößt dabei Laute aus, die wie das Maunzen einer Katze klingen, kaum hörbar eigentlich, aber als er von hinten eine Hand in ihren Schritt und den Daumen in ihre Spalte gleiten lässt, werden die Töne lauter, klagend, wie Schluchzen beinahe, und er spürt, wie sich ihre Finger in sein Haar krallen. Leonie windet sich und ihr Stöhnen macht ihn halb wahnsinnig. Es ist der Augenblick, in dem er erkennt, dass er diese Frau festhalten muss, unbedingt, für immer, dass sie seine Frau ist, sein Wunder, und dass er dieses Wunder nicht vorübergehen lassen darf. Er drückt die Nase, den Mund, die Stirn, sein Gesicht an ihr Geschlecht, als wolle er damit eins werden. Seine Frau! War er sich jemals einer Sache sicherer?
Doch plötzlich spürt er ein Stechen in der Brust, einen grellen Schmerz, der ihn wie eine Nadel durchbohrt, wie ein zuckender Lichtstrahl, quer durch, vom Rücken durchs Herz. Ihm bleibt die Luft weg, eine entsetzliche Angst packt ihn an der Kehle. Todesangst. Ich hab gerade einen Herzinfarkt, schreit es in ihm, nein, das gibt‘s ja nicht, oh Gott, mit neunzehn? Und als Nächstes, weil er sieht, wie sich das Wasser auf den Bodenfliesen rot färbt, denkt er, verrückt, dass Leonie ausgerechnet jetzt ihre Tage bekommt, und als Nächstes hört er Leonie schreien und ein Schwindel haut ihn beinahe um und die Knie wollen unter ihm wegrutschen. Er denkt noch, wie gefährlich solche glatten Fliesen eigentlich sind, ein Wunder, dass da nicht viel öfter was passiert, dann sackt er zusammen und knallt mit dem Kopf auf den Boden, sein linker Arm verkrampft sich, und er denkt, warum brüllt die denn so, die soll doch um Himmels Willen die Rettung rufen, und gleichzeitig sieht er das Ding in ihrer Hand und das Ding schleudert Blitze und dann sieht er, wie das Ding über ihren Unterarm fährt und eine rote Spur hinterlässt, eine lodernde Flamme, aber das sieht er in Wahrheit eher verschwommen, also nicht richtig, weil er die Augen kaum noch offen halten kann, wie ein Gewitterregen prasselt ihm das Wasser in die Augen, und gerade jetzt würde er sie so gern anschauen. Leonie, verdammt, tu doch was, will er schreien, Leonie, ich sterbe, ich hab einen Herzinfarkt, oh Gott oh Gott, hilf mir, Leonie. Aber er bekommt keinen Ton heraus, nur so eine Art Knurren. Und das Wasser wird immer röter und er beißt sich auf die Lippe, das tut überhaupt nicht weh, aber er schmeckt Blut, und er spürt noch, wie Leonie sich neben ihm niederlässt, seinen Kopf in ihren Schoß bettet und ihm über die Stirn streicht. Wie wunderschön ihr Gesicht ist, denkt er, so voller Liebe, und er will die Arme um sie schlingen, er will sie küssen, er will ihre glatte Haut spüren, ihren Bauch, ihre Brüste, ihren Mund, alles will er spüren, alles gleichzeitig, er will Leonie festhalten, er will, dass Leonie ihn festhält. Ganz fest.