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Tödlicher Verkehrsunfall auf dem Bernina
„Schatz, können wir los?“, fragte Helmut seine langjährige Lebensgefährtin etwas genervt. Es ist immer dasselbe mit ihr, dachte er, als er seine schwarze Reisetasche in den Kofferraum hievte. Jedes mal, wenn sie verreisen wollten dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis sie endlich losfahren konnten. Allerdings war Helmut nicht wirklich genervt, er freute sich auf das gemeinsame Wochenende in den Bergen und die Fahrt über die Pässe. Es versprach ein herrlicher Frühlingstag zu werden!
Die beiden sind die Strecke schon oft gefahren. Sie wussten, dass wenn sie zügig fahren wollten etwas früher aufstehen mussten. Und so fuhren sie auf dunklen Strassen daher, ab und an kam ihnen ein Auto entgegen oder sie durchquerten ein schlafendes Dorf. Sie genossen die Einsamkeit und die Ruhe! Entspannt lauschten sie der leisen Musik. Er konzentrierte sich auf die Strasse und sie blickte verträumt in die langsam erwachende Welt. „Ich freue mich bereits auf eine gute Pizza in Livigno.“, gähnte sie und streckte sich dabei so gut es ging aus.
Immer wenn sie gemeinsam in ihr Ferienhaus im Puschlav, einem abgelegenen Tal am äussersten Zipfel Graubündens fuhren, machten sie einen Abstecher nach Livigno in Italien. Livigno liegt mitten in den Bergen, kurz vor ihrem eigentlichen Reiseziel! Dort gibt es eine gute Pizzeria und viele alkoholische Getränke sind jenseits der Grenze günstiger.
Doch bis dahin dauerte es noch eine ganze Weile. Es wurde ein milder Frühlingstag. Am Himmel war keine einzige Wolke auszumachen und die Sonne spendete emsig und arglos ihr Licht. Helmut freute sich, als sie St. Moritz endlich hinter sich gelassen hatten. Nur noch der Bernina, dachte er und die Erinnerungen an die letzte Reise kamen allmählich wieder auf. Die karge Landschaft des Bernina Gebirges hatte für ihn schon immer etwas bedrohliches. Dieses Gefühl wich üblicherweise erst einer angenehmen Sehnsucht, als er die Passstrasse auf der anderen Seite wieder herunterfahren konnte und sich das Tal in seiner ganzen Pracht vor ihm erstreckte. Dichte Wälder, grüne Wiesen, Alpenromantik pur. Doch so weit sollten sie heute nicht mehr kommen.
Ein unangenehmes Gefühl plagte Helmut, als sie die Passhöhe hinter sich liessen - er hatte Hunger. Nur noch etwa eine halbe Stunde! Er war aufmerksam, denn er wollte die Abzweigung nicht verpassen. Hier in den Bergen sieht es nach jeder Kurve etwa gleich aus. Egal wie oft er die Strecke bereits gefahren war, er wusste nie genau, wie lange es noch dauerte. Endlich, nach einer steilen Kurve konnte er die in der Sonne glänzenden Strassenschilder ausmachen. Da war sie nun, die Abzweigung!
Die Strasse nach Livigno schlängelte sich bedächtig durch das Tal. Helmut bemerkte, dass für diese Zeit ungewöhnlich wenig Verkehr herrschte. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Auto gesehen hatte - vergebens. Seine Gedanken schweiften beim Blick auf die karge Bergwelt ab. Wie einsam es doch hier oben war.
Helmut blickte auf die Uhr, sie fuhren nun doch schon eine ganze Weile durch das gewaltige Tal und er wusste, dass sie ihr Ziel bald erreichen würden. „Sollten wir nicht bald mal ankommen? Ich habe langsam Hunger!“, stöhnte sie und schaute Helmut etwas gestresst an. „Hast du die richtige Abzweigung erwischt?“. Ein kurzes nicken. Sie haben die Grenze doch schon seit einiger Zeit hinter sich gelassen und soweit er wusste, gab es keine anderen Übergänge in dieser Gegend. Er war sich sicher, falsch gefahren war er bestimmt nicht.
Er wartete seit geraumer Zeit auf irgendeinen Hinweis, ein bekannte Gebäude, ein Strassenschild, irgendetwas. Doch die Strasse schlängelte sich noch ebenso bedächtig durch das Tal wie vor über einer Stunde. War er doch falsch gefahren? Er entschloss sich, den Wagen bei der nächsten Gelegenheit zu wenden.
Doch von der Abzweigung war weit und breit keine Spur. Die Strasse war wie leergefegt. Verdammt, dachte er, wo zum Teufel ist diese Abzweigung, wir müssten sie doch schon längst wieder erreicht haben! Immer noch schlängelte sich die Strasse bedächtig durch das mächtige Tal. Das konnte doch gar nicht sein, ein beklemmendes Gefühl stieg in ihm hoch, in den Augen seiner Freundin erkannte er selbiges. Sie fuhren immer weiter und weiter, doch die Landschaft veränderte sich nur unmerklich. Und sie fuhren weiter.
Ende.