Mitglied
- Beitritt
- 22.12.2002
- Beiträge
- 482
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Tamara
Fassungslos steht Sven auf dem Bahnsteig. Gerade war er noch im Begriff, in die S-Bahn zu steigen; dann öffneten sich die Türen, ein paar Leute kamen heraus, und plötzlich steht sie vor ihm. Tamara. Er hat sie seit über zwei Jahren nicht gesehen, hat nicht mehr ganz so oft an sie gedacht wie am Anfang, aber mit einem Schlag ist alles wieder da.
Sie scheint ebenso überrascht wie er. Keiner von beiden achtet auf die fremden Menschen, die sich ärgerlich an ihnen vorbeidrängen. Tamara sieht ihn nur an mit ihren schwanenblauen Augen. Ihr schwarzes Haar glänzt in der Sonne. Das Verlangen, ihr weiches, leicht rundliches Gesicht zu berühren, ist nahezu unerträglich.
„Hallo, Lebed.“ Er sagt es, ohne darüber nachzudenken, und fürchtet sofort, daß sie es übelnehmen wird.
Endlich, nach einer Ewigkeit von vier oder fünf Sekunden, lächelt sie, und wie immer läßt es ihre flache und ein ganz klein wenig schiefe Nase noch süßer aussehen, und die ängstliche Spannung ist verschwunden.
„Hallo, Sven. Wie geht es dir?“
„Jetzt jedenfalls richtig gut.“ Er zwingt sich zu einem Lächeln, damit seine Worte nicht so ernst gemeint wirken, und fügt hinzu: „Wie schaffst du es bloß, jedes Mal besser auszusehen?“
„Oh, danke!“ lacht sie. „Es tut gut, endlich mal wieder ein Kompliment zu hören.“
Sven schaltet sofort. „Wenn du es nicht so eilig hast, könnten wir ja auf der Fuhle etwas trinken gehen. Dann hätte ich Zeit, dir noch mehr Komplimente zu machen.“
„Ich habe eine bessere Idee: Laß uns essen gehen. Ich bin sehr hungrig.“ Dann, in fast verschwörerischem Tonfall: „Vielleicht lasse ich dich sogar bezahlen.“
Der letzte Satz hat eine erregende Wirkung, und das liegt nicht nur an Tamaras russischem Akzent, der weniger ausgeprägt ist als früher, aber immer noch ungemein sexy. In diesem Satz liegt eine Verheißung, die Andeutung einer ungeheuerlichen Möglichkeit – er stellt alle Tabus der Vergangenheit in Frage.
Während sie den Bahnhof verlassen, denkt Sven daran, wie es mit ihnen angefangen hat. Es war dieselbe Bahnlinie, die S1, und Sven befand sich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Zwischen Jungfernstieg und Hauptbahnhof blieb der Zug durch irgendeinen Zwischenfall im Tunnel liegen. Erst da bemerkte er, daß Tamara im selben Abteil saß. Er wußte damals von ihr nicht mehr als den Namen und daß sie in der EDV-Abteilung seiner Firma arbeitete – und natürlich, daß sie zwar recht klein, doch äußerst üppig gebaut war. Er selbst war seit zwei Jahren verheiratet, aber seine Ehe lief nicht gut, und er hatte sich mit dem Gedanken angefreundet, sich anderswo ein bißchen Spaß zu suchen.
Dieses schien eine günstige Gelegenheit zu sein. Also ging er durch den Wagen und setzte sich mit einem freundlichen „Hallo“ auf den leeren Platz ihr gegenüber.
Als der Zug eine halbe Stunde später endlich wieder anfuhr, wußte Sven alles mögliche über Tamara. Daß sie aus der Ukraine kam, aus einer Stadt, deren Namen – Donetsk – er nie zuvor gehört hatte. Daß sie verlobt war und darauf wartete, daß Sergej endlich nach Deutschland kommen würde. Daß sie Informatik studiert hatte, Bücher von Remarque las und in der Schule zuerst sehr schüchtern gewesen war, bis plötzlich alle Jungs angefangen hatten, ihr nachzulaufen. Weil das Sven an das Märchen vom häßlichen Entlein erinnerte, das zu einem wunderschönen Schwan wurde, fragte er Tamara, was „Schwan“ auf Russisch heiße. Sie antwortete, das russische Wort dafür sei „Lebed“ (sie sprach es wie „Lebedj“ aus), und von da an nannte er sie fast immer bei diesem Spitznamen.
Es stellte sich heraus, daß sie beide die Bahn bis Barmbek benutzten, wo Tamara in den Bus umstieg. In den folgenden Wochen richtete Sven es fast immer so ein, daß sie sich morgens am Bahnhof trafen (notfalls wartete er einfach, bis sie kam), sie verbrachten die Mittagspausen gemeinsam, und als Tamara krank wurde, besuchte Sven sie zum ersten Mal in ihrer Wohnung.
Längst war Tamara für ihn wichtiger geworden, als er es anfangs beabsichtigt hatte. Sie wußte es, und eines abends sagte sie zu ihm: „Ich habe ein paar Regeln, Sven. Eine davon heißt: Ich bezahle für mich selbst.“ Das war ihm nicht neu, denn sie hatte ihn niemals bezahlen lassen, wenn sie mittags zusammen gegessen hatten. „Eine andere Regel“, fuhr sie fort, „ist, mich nicht mit einem verheirateten Mann einzulassen.“
Weil er nicht wußte, was er antworten sollte, fragte er nur: „Weißt du eigentlich, daß deine Augen eine ganz seltsame Farbe haben? So eine Mischung aus Grau und Grün, mit ein paar braunen Flecken, und manchmal, wenn das Licht richtig reinfällt, sind sie beinahe blau.“
Mit gespielter Empörung beharrte sie darauf, daß ihre Augen einfach nur blau seien. Schließlich schlug Sven vor, dafür ein neues Wort zu erfinden. Lachend einigten sie sich auf „schwanenblau“. Dann gab Tamara ihm einen Kuß auf die Wange und schickte ihn nach Hause.
Wenige Tage später erzählte sie ihm aufgeregt, daß Sergej endlich seine Einreiseerlaubnis bekommen hatte. Und daß sie sich eine neue Arbeitsstelle suchen würde, weil es nicht gut wäre, wenn sie Sven weiterhin sehen würde.
Bald darauf verlor er den Kontakt zu ihr ganz. Er rief nicht mehr an und schickte keine Karte zu Weihnachten, weil er nicht wollte, daß Sergej ihr Fragen stellte. Ein paar E-Mails blieben unbeantwortet, und schließlich gab er auf und stürzte in ein großes Loch.
Aber jetzt geht er hier neben ihr, sie plaudern über alte Zeiten und über die Arbeit, nur das Private von heute scheinen beide vorsichtig zu meiden.
Sie finden einen Tisch in einem der kleinen Restaurants und bestellen Pizza. Sie reden, sie lachen, sie trinken Wein, sie vergessen die Zeit, und als der Kellner endlich die Rechnung bringt und fragt, ob sie zusammen bezahlen, sieht Tamara Sven nur unergründlich an. Er zögert, dann sagt er: „Zusammen.“ Niemand widerspricht. Er legt zwei Scheine hin, murmelt „Stimmt so“, blickt wieder in diese unbeschreiblichen Augen und bemerkt kaum, daß der Kellner sie allein läßt.
Er spürt, es ist Zeit, über die Verbotenen Dinge zu sprechen, und sagt: „Ich bin froh, daß du diese Regel brichst, Lebed. Aber über eine andere Regel müssen wir uns heute keine Gedanken machen. Ich bin inzwischen nämlich nicht mehr verheiratet.“ Und, als verlange das noch nach einer Erklärung: „Sie hatte nicht... Weißt du, ich glaube, ihre Augen hatten einfach nicht die richtige Farbe.“
Lächelnd nimmt sie seine Hand. „Du versuchst immer noch, zu viel zu erklären.“ Sie flüstert es fast. Aber das spielt keine Rolle, denn sowohl sie als auch Sven beugen sich langsam und wie von selbst über den Tisch, und ihre Lippen sind jetzt so nah, daß er sie sogar verstünde, wenn sie wirklich flüsterte. Er würde sie sogar verstehen, wenn sie die Lippen ganz stumm bewegen würde.
Doch das tut sie nicht; sie sagt: „Sergej hat es nie geschafft, ein neues Wort für mich zu erfinden.“
Vielleicht will sie noch etwas sagen, aber das geht nicht. Ihre und Svens Lippen sind plötzlich eins. Nicht nur ihre Lippen; ihre Körper sind eins, die ganze Welt scheint eins zu werden.
Und dieses Eine ist voller Erregung, voller Zufriedenheit, voll von neuen Wörtern und neuer Erfahrung und Glück, und nichts, was später kommen wird, könnte noch besser sein.