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Tante Anna
Tante Anna wollte in den Zug steigen. Das Trittbrett war etwas hoch. Sie hievte ihr Gepäck auf die oberste Stufe und zog sich am Geländer in die Bahn. Sie schnappte sich ihre Tasche, die vollgepackt mit Essen und Trinken war, und alles andere als leicht, und sehr umständlich für das Einsteigen. Nun war sie drin und suchte sich ein schönes Plätzchen in einem Viererabteil. Sie suchte sich die Leute immer sehr sorgfältig aus. Vielleicht war ja jemand da, der auch Lust hatte, sich auf der langen Reise zu unterhalten. Aber die Abteile waren noch leer, da sie immer zu früh auf dem Zug war.
Tante Anna war auf dem Weg von Basel nach Locarno. Sie wollte ihre Tochter und die Enkelin besuchen.
Sie fand ein Abteil, das passte. Endsorgte noch einen Kaffeebecher und die Gratiszeitung im Klappkübel, und verstaute ihr Gepäck. Sie legte ein Buch und die Lesebrille bereit. Kaum sass sie, kam ihr der Fahrschein in den Sinn. „Oh je, wo habe ich den verstaut“, fragte sie sich. Etwas unruhig suchte sie das Ticket, aber im Geldbeutel war er nicht. Nun kam Panik auf, total hektisch und unstrukturiert suchte sie überall. Er war nicht da. Er war einfach nicht da der Fahrschein. „Ich werde alt“, dachte Tante Anna. „Setz dich jetzt hin, die Leute schauen schon“, schnauzte sie sich an. Tante Anna setzte sich und überlegte, wo sie ihren Fahrschein wohl hingetan hatte. Gedankenversunken sass sie da, als eine junge Frau sich ihr gegenübersetzte. Sie konnte keinen Blickkontakt mit der Frau herstellen. Die Frau sah in ihr Handy, lächelte und tippte in Sekundenschnelle eine SMS. Dann zog sie eine kleine Tasche aus ihrer Handtasche und fing an, sich zu schminken. Gekonnt und wieder in Sekundenschnelle. Wieder zurück zum Handy und nun ging es flott, eine SMS nach der Anderen.
Tante Anna wurde müde vom Zuschauen und lehnte sich zur Entspannung etwas zurück. So vergingen einige Minuten, der Zug war längst abgefahren und fuhr Richtung Zürich.
Plötzlich liess sich ein junger Mann neben Tante Anna auf den Sessel plumpsen. Er hatte Ohrstöpsel im Ohr und wippte mit den Beinen. Er schloss die Augen und gähnte. Der letzte Platz wurde von einem älteren Mann besetzt, der seine Gratiszeitung schnell ausgebreitete und las. Die junge Frau auf der gegenüberliegenden Bank schrieb immer noch sekundenschnell eine SMS nach der Anderen.
Niemand beachtete Tante Anna. Diese überlegte sich immer noch, wo wohl ihr Fahrschein sein könnte. Sie hatte Angst, dass der Schaffner kam, bevor sie wusste, wo er war. Ihre Hände fingen leicht an, zu zittern.
Nun stieg eine ältere Dame ein und setzte sich nicht, sondern blieb im Gang beim Abteil von Tante Anna stehen. Sie kramte in der Handtasche, fand ihr Handy und fing an, zu telefonieren. Laut und für alle hörbar, bellte sie wütend in den Hörer und massregelte ihren Mann. Tante Anna schämte sich fast für die Frau. Sie schaute aus dem Fenster und versuchte die Frau am Telefon zu ignorieren. Dann griff Tante Anna ihr Buch und fand ihr Ticket als Buchzeichen. Erleichtert schloss sie das Buch und machte die Augen zu.
„Ihren Fahrschein, bitte“, sagte der Schaffner und tippte Tante Anna an. Tante Anna öffnete nicht die Augen und bekam jetzt die Aufmerksamkeit, die sie sich vorher gewünscht hatte. Nun aber war sie in einer anderen Welt.