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Tausend Möglichkeiten
Tausend Möglichkeiten
Ab morgen hast du jede Menge Zeit für dich, Mama, sagt sie und zupft dabei an ihrem Zeigefinger.
Ja sicher, mal sehen, sage ich und kriege kein Lächeln zustande.
Sie will aufstehen, rutscht schon zur Stuhlkante. Ich rühre mich nicht, weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll. Ich möchte sie einfach festhalten, umarmen, weil sie doch meine Kleine ist.
Meike, wo bleibst du denn?, ruft Hans aus der Diele, wir wollen doch die Koffer schon mal einladen.
Meine Tochter springt erleichtert hoch. Ja, Papa, ich komme sofort!
Und weg ist sie.
Oben poltert Tobias herum. Er schleift etwas über den Boden, wahrscheinlich den letzten Karton mit Büchern und CDs. Durch die Decke höre ich ihn pfeifen. Gleich wird er die Treppe runter stapfen und versuchen, seinen Karton mit aller Kraft in den Kofferraum zu quetschen.
In einer Stunde werden beide weg sein.
Das sagt dir niemand, wenn du Zwillinge bekommst. Doppelgeburt und Doppelabschied. Dazwischen liegen knappe zwanzig Jahre, zu wenig, um sich darauf vorzubereiten.
Mein Zeigefinger hakt sich in den Henkel von Meikes Kaffeebecher. Ich könnte ihn ungespült hinter Glas stellen.
Vor dem Küchenfenster tanzen ihre munteren Stimmen. Hast du alle deine Papiere?, fragt Hans. Ja, ja, alles in meinem Rucksack. Eine Tür knallt zu.
Jetzt kracht die Treppe, Tobias ächzt. Moment noch, lass den Kofferraum auf! Papa, ein Karton muss noch rein!
Ich nicke. So ist mein Sohn. Alles auf den letzten Drücker.
Schon läuft er an der Küche vorbei und gleich darauf seine Stimme vor dem Fenster.
Das ist aber wirklich alles, versprochen. Hans lacht. Ja, ja, drück ihn einfach links in die Ecke.
Hans kann lachen, laut und herzlich. Ich kann das nicht.
Ich wäre schon froh, wenn mein Herz regelmäßiger schlüge, weniger hart.
Morgen werden meine Kinder dreihundert Kilometer weit weg sein und Hans fünfhundert. Er fliegt für drei Tage nach Hamburg, wenn er nicht für vier Tage nach München oder zwei Tage nach Paris fliegt. Ich werde ihm heute Anzüge, Oberhemden und Unterwäsche einpacken und ab morgen ihrer aller Symbol für Beständigkeit sein. Wenn man will, kann man zu mir zurück kommen, ich werde da sein. Wo sonst? Herrgott noch mal! Ich wische mir eine Träne ab und verachte mein Selbstmitleid.
Am Rand der Tasse schimmert ein winziger Abdruck von Meikes rosa Lippenstift. Von der Unterlippe, glaube ich.
Sie hätten beide in unserer Stadt studieren können. Jetzt steht das Klavier hier rum. Angeblich ist die Musikhochschule da unten besser. Sie bieten den Studenten mehr, sagt Meike. Außerdem soll ich froh sein, dass mir ihr Geklimper in Zukunft erspart bleibt. Richtig angucken kann sie mich dabei nicht. Sie geht jeden Tag in die Hochschule zum Üben, sagt sie, das haben die da wunderbar organisiert. Genug Platz für alle Studenten, und immer ist jemand da, der sie sofort korrigiert. Meike hat sich genau erkundigt.
Und die nehmen längst nicht jeden.
Ich frage mich, ob das hier nicht genau so gewesen wäre. Nehmen die bei uns denn jeden?
Tobias meint ebenfalls, dass die Uni da unten für seine Fächer besser sei als unsere. Die sind berühmt für ihre Mathematiker, sagt er. Und Hans nickt, gähnt, und meint, sie seien doch nun alt genug, um auf eigenen Füßen zu stehen. Hans muss abends immer noch was vorbereiten für die nächste Sitzung, das nächste meeting oder eine Besprechung im kleinen Kreis. Sonst schafft er sein Pensum nicht, vor allem, wenn er am nächsten Tag auch noch in den Flieger steigt.
Ich sage nichts. Vielleicht stimmt es ja. Mit neunzehn habe ich schon drei Jahre im Büro gearbeitet.
Auf dem Wachstuch klebt ein Marmeladenrest. Ich knibbele ihn mit dem Fingernagel weg.
Was kann man denn schon mit einem Konzertexamen machen, habe ich Hans gefragt, ich meine, das ist doch völlig unsicher, ob sie mal davon leben kann.
Weißt du eigentlich, wie begabt Meike ist?, hat er zurückgefragt und mich über seine Halbbrille hinweg angesehen. Ohne die Finger von der Tastatur zu nehmen. Die Zahlenkolonnen auf dem Bildschirm flimmerten so stark, dass ich wieder rausgegangen bin.
Sie spielt wirklich schön, das höre ich auch. Kein Vergleich mehr zum Anfang, aber da war sie ja auch erst sechs.
Jetzt lachen sie alle drei.
Die Marmelade klebt unter meinem Fingernagel. Mein Handrücken ist sonnengebräunt, aber nicht mehr glatt. Ein Netz winziger Linien durchzieht ihn.
Wenn ich das nächste Mal von München komme, mache ich einen Stopp bei euch, sagt Hans, mal sehen, wie ihr da so haust!
Von mir ist keine Rede. Wir haben nicht über die Wochenenden gesprochen, aber ich glaube nicht, dass sie nach Hause kommen werden. Obwohl sie es könnten. Hans überlässt ihnen ja erst einmal den Kombi und dreihundert Kilometer sind schließlich nicht die Welt.
Der Kühlschrank brummt irgendwie komisch. Wahrscheinlich, weil nicht mehr so viel drin ist wie sonst. Wir haben fast alles aufgegessen, mitnehmen wollen sie ja beide nichts. Auch keine Konserven.
Wir ziehen in eine große Stadt, Mama, hat Tobi grinsend gesagt und meine Haare verstrubbelt.
Der Marmeladenrest ist bestimmt von ihm. Ich schnippe das klebrige Stückchen in die Tasse, nachher kommt sie ja doch in die Spülmaschine.
Mit zwölf hat er aufgehört, Fleisch zu essen. Ich weiß nicht mehr genau wieso, doch es hatte wohl mit irgendwelchen Berichten über Tiertransporte zu tun. Meike isst ja nur Geflügel.
Ich denke, wenn man alles so genau wüsste, würde man gar nichts mehr essen können. Das Gemüse ist doch auch voller Pestizide.
Findest du es nicht schön, dass sie zusammen in eine Stadt ziehen?, hat Hans mich neulich gefragt, abends im Bett, als er mal in der Woche zuhause war.
Ich weiß nicht, wie ich das finde, habe ich gesagt und er hat den Kopf geschüttelt und die Zeitung vom Nachtschrank genommen.
Du hast doch tausend Möglichkeiten wenn die Kinder aus dem Haus sind, freust du dich denn gar nicht?
Da hat er aber schon den Wirtschaftsteil aufgeblättert und ich musste nichts mehr sagen.
Ich schäme mich auch, zuzugeben, was ich wirklich denke. Ich denke nämlich, wenn es ihnen um das Zusammenbleiben ginge, wären sie doch in eine WG gezogen, oder nicht? Aber Meike wird an einem Ende der Stadt wohnen und Tobi am anderen. Die Musikhochschule hat mit der Uni auch gar nichts zu tun. Wer weiß denn, wie oft sie sich sehen? Sie wollen sich auch Jobs suchen, da haben sie doch noch weniger Zeit.
Nein, ich denke, es geht ihnen darum, möglichst weit weg von zuhause zu sein.
Selbst wenn es stimmt, dass die Hochschule nur die begabtesten Musikstudenten aufnimmt und die Uni mit ihrem Naturwissenschaftskram die beste im Land ist, selbst wenn das alles stimmt, wollen beide einfach weit weg von zuhause.
Und das verstehe ich nicht. Haben sie nicht alle Freiheiten hier? Schon bevor sie volljährig waren, konnten sie kommen und gehen wann sie wollten. Vertrauen gegen Vertrauen, war unsere Devise. Für mich war das weiß Gott nicht immer einfach. So oft, wie ich mit ihnen alleine war. Manchmal bin ich zur Schule gefahren und habe hinter einem Gebüsch gewartet, bis sie hinauskamen. Man will ja schließlich wissen, welchen Umgang die eigenen Kinder haben. Als Mutter ist man doch verantwortlich.
Jeden Nachmittag habe ich mir die Etüden angehört. Sicher musste Meike üben, doch anstrengend war es schon, Jahre lang, jeden Tag. Und als Tobi vierzehn war, habe ich ihm seinen ersten Deostift gekauft, mit Zitronenduft; er hat ja gar nicht gemerkt, dass er anfing, so streng zu riechen. Seine erste Freundin hat sogar Schminktipps von mir bekommen…, also offener als bei uns war es sicher nirgendwo. Und trotzdem wollen sie weg. Und Hans findet das auch noch in Ordnung.
Mein Rücken schmerzt.
Ab morgen habe ich tausend Möglichkeiten. In der Stille des Hauses wird mich auch niemand dabei stören, mir in aller Ruhe eine davon auszusuchen. Ich muss nicht mehr kochen, für mich allein reicht ein Häppchen zwischendurch, ich muss kaum noch waschen und bügeln, höchstens am Wochenende, wenn Hans mit seinem Koffer kommt. Aufräumen und Putzen wird ebenfalls flott erledigt sein, macht ja keiner mehr was dreckig. Die Putzfrau kann alle vierzehn Tage kommen, das reicht.
Vielleicht werde ich mehr lesen, es gibt so viele gute Bücher. Oder meine Aquarellstifte vom Dachboden holen, da muss auch noch ein neuer Block sein. Und einen Kurs in der Volkshochschule machen. Karin und Ursula kennen sich da sicher aus. Die könnte ich auch regelmäßig treffen. Oder einfach nur faulenzen, oder zur Kosmetik gehen.
Ist doch toll.
Die Kinderzimmer lasse ich erst mal so, wie sie sind. Man weiß ja nie.
So Papa, mein Handy habe ich in der kleinen Tasche, ich melde mich, wenn wir angekommen sind. Meike will los. Macht mal eine Pause unterwegs, sagt Hans.
Wir müssen Mama noch Tschüs sagen, sagt Tobi.
Ich stehe auf, stelle das Radio an und fange an, den Tisch abzuräumen.
Als die Küchentür aufgeht, drehe ich mich um und rufe erstaunt: Ach, seid ihr schon so weit?