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Tausend Möglichkeiten

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04.04.2008
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Tausend Möglichkeiten

Tausend Möglichkeiten


Ab morgen hast du jede Menge Zeit für dich, Mama, sagt sie und zupft dabei an ihrem Zeigefinger.
Ja sicher, mal sehen, sage ich und kriege kein Lächeln zustande.
Sie will aufstehen, rutscht schon zur Stuhlkante. Ich rühre mich nicht, weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll. Ich möchte sie einfach festhalten, umarmen, weil sie doch meine Kleine ist.
Meike, wo bleibst du denn?, ruft Hans aus der Diele, wir wollen doch die Koffer schon mal einladen.
Meine Tochter springt erleichtert hoch. Ja, Papa, ich komme sofort!
Und weg ist sie.
Oben poltert Tobias herum. Er schleift etwas über den Boden, wahrscheinlich den letzten Karton mit Büchern und CDs. Durch die Decke höre ich ihn pfeifen. Gleich wird er die Treppe runter stapfen und versuchen, seinen Karton mit aller Kraft in den Kofferraum zu quetschen.
In einer Stunde werden beide weg sein.
Das sagt dir niemand, wenn du Zwillinge bekommst. Doppelgeburt und Doppelabschied. Dazwischen liegen knappe zwanzig Jahre, zu wenig, um sich darauf vorzubereiten.

Mein Zeigefinger hakt sich in den Henkel von Meikes Kaffeebecher. Ich könnte ihn ungespült hinter Glas stellen.
Vor dem Küchenfenster tanzen ihre munteren Stimmen. Hast du alle deine Papiere?, fragt Hans. Ja, ja, alles in meinem Rucksack. Eine Tür knallt zu.
Jetzt kracht die Treppe, Tobias ächzt. Moment noch, lass den Kofferraum auf! Papa, ein Karton muss noch rein!
Ich nicke. So ist mein Sohn. Alles auf den letzten Drücker.
Schon läuft er an der Küche vorbei und gleich darauf seine Stimme vor dem Fenster.
Das ist aber wirklich alles, versprochen. Hans lacht. Ja, ja, drück ihn einfach links in die Ecke.
Hans kann lachen, laut und herzlich. Ich kann das nicht.
Ich wäre schon froh, wenn mein Herz regelmäßiger schlüge, weniger hart.
Morgen werden meine Kinder dreihundert Kilometer weit weg sein und Hans fünfhundert. Er fliegt für drei Tage nach Hamburg, wenn er nicht für vier Tage nach München oder zwei Tage nach Paris fliegt. Ich werde ihm heute Anzüge, Oberhemden und Unterwäsche einpacken und ab morgen ihrer aller Symbol für Beständigkeit sein. Wenn man will, kann man zu mir zurück kommen, ich werde da sein. Wo sonst? Herrgott noch mal! Ich wische mir eine Träne ab und verachte mein Selbstmitleid.

Am Rand der Tasse schimmert ein winziger Abdruck von Meikes rosa Lippenstift. Von der Unterlippe, glaube ich.
Sie hätten beide in unserer Stadt studieren können. Jetzt steht das Klavier hier rum. Angeblich ist die Musikhochschule da unten besser. Sie bieten den Studenten mehr, sagt Meike. Außerdem soll ich froh sein, dass mir ihr Geklimper in Zukunft erspart bleibt. Richtig angucken kann sie mich dabei nicht. Sie geht jeden Tag in die Hochschule zum Üben, sagt sie, das haben die da wunderbar organisiert. Genug Platz für alle Studenten, und immer ist jemand da, der sie sofort korrigiert. Meike hat sich genau erkundigt.
Und die nehmen längst nicht jeden.
Ich frage mich, ob das hier nicht genau so gewesen wäre. Nehmen die bei uns denn jeden?
Tobias meint ebenfalls, dass die Uni da unten für seine Fächer besser sei als unsere. Die sind berühmt für ihre Mathematiker, sagt er. Und Hans nickt, gähnt, und meint, sie seien doch nun alt genug, um auf eigenen Füßen zu stehen. Hans muss abends immer noch was vorbereiten für die nächste Sitzung, das nächste meeting oder eine Besprechung im kleinen Kreis. Sonst schafft er sein Pensum nicht, vor allem, wenn er am nächsten Tag auch noch in den Flieger steigt.
Ich sage nichts. Vielleicht stimmt es ja. Mit neunzehn habe ich schon drei Jahre im Büro gearbeitet.

Auf dem Wachstuch klebt ein Marmeladenrest. Ich knibbele ihn mit dem Fingernagel weg.
Was kann man denn schon mit einem Konzertexamen machen, habe ich Hans gefragt, ich meine, das ist doch völlig unsicher, ob sie mal davon leben kann.
Weißt du eigentlich, wie begabt Meike ist?, hat er zurückgefragt und mich über seine Halbbrille hinweg angesehen. Ohne die Finger von der Tastatur zu nehmen. Die Zahlenkolonnen auf dem Bildschirm flimmerten so stark, dass ich wieder rausgegangen bin.
Sie spielt wirklich schön, das höre ich auch. Kein Vergleich mehr zum Anfang, aber da war sie ja auch erst sechs.
Jetzt lachen sie alle drei.
Die Marmelade klebt unter meinem Fingernagel. Mein Handrücken ist sonnengebräunt, aber nicht mehr glatt. Ein Netz winziger Linien durchzieht ihn.
Wenn ich das nächste Mal von München komme, mache ich einen Stopp bei euch, sagt Hans, mal sehen, wie ihr da so haust!
Von mir ist keine Rede. Wir haben nicht über die Wochenenden gesprochen, aber ich glaube nicht, dass sie nach Hause kommen werden. Obwohl sie es könnten. Hans überlässt ihnen ja erst einmal den Kombi und dreihundert Kilometer sind schließlich nicht die Welt.
Der Kühlschrank brummt irgendwie komisch. Wahrscheinlich, weil nicht mehr so viel drin ist wie sonst. Wir haben fast alles aufgegessen, mitnehmen wollen sie ja beide nichts. Auch keine Konserven.
Wir ziehen in eine große Stadt, Mama, hat Tobi grinsend gesagt und meine Haare verstrubbelt.
Der Marmeladenrest ist bestimmt von ihm. Ich schnippe das klebrige Stückchen in die Tasse, nachher kommt sie ja doch in die Spülmaschine.
Mit zwölf hat er aufgehört, Fleisch zu essen. Ich weiß nicht mehr genau wieso, doch es hatte wohl mit irgendwelchen Berichten über Tiertransporte zu tun. Meike isst ja nur Geflügel.
Ich denke, wenn man alles so genau wüsste, würde man gar nichts mehr essen können. Das Gemüse ist doch auch voller Pestizide.

Findest du es nicht schön, dass sie zusammen in eine Stadt ziehen?, hat Hans mich neulich gefragt, abends im Bett, als er mal in der Woche zuhause war.
Ich weiß nicht, wie ich das finde, habe ich gesagt und er hat den Kopf geschüttelt und die Zeitung vom Nachtschrank genommen.
Du hast doch tausend Möglichkeiten wenn die Kinder aus dem Haus sind, freust du dich denn gar nicht?
Da hat er aber schon den Wirtschaftsteil aufgeblättert und ich musste nichts mehr sagen.
Ich schäme mich auch, zuzugeben, was ich wirklich denke. Ich denke nämlich, wenn es ihnen um das Zusammenbleiben ginge, wären sie doch in eine WG gezogen, oder nicht? Aber Meike wird an einem Ende der Stadt wohnen und Tobi am anderen. Die Musikhochschule hat mit der Uni auch gar nichts zu tun. Wer weiß denn, wie oft sie sich sehen? Sie wollen sich auch Jobs suchen, da haben sie doch noch weniger Zeit.
Nein, ich denke, es geht ihnen darum, möglichst weit weg von zuhause zu sein.
Selbst wenn es stimmt, dass die Hochschule nur die begabtesten Musikstudenten aufnimmt und die Uni mit ihrem Naturwissenschaftskram die beste im Land ist, selbst wenn das alles stimmt, wollen beide einfach weit weg von zuhause.
Und das verstehe ich nicht. Haben sie nicht alle Freiheiten hier? Schon bevor sie volljährig waren, konnten sie kommen und gehen wann sie wollten. Vertrauen gegen Vertrauen, war unsere Devise. Für mich war das weiß Gott nicht immer einfach. So oft, wie ich mit ihnen alleine war. Manchmal bin ich zur Schule gefahren und habe hinter einem Gebüsch gewartet, bis sie hinauskamen. Man will ja schließlich wissen, welchen Umgang die eigenen Kinder haben. Als Mutter ist man doch verantwortlich.
Jeden Nachmittag habe ich mir die Etüden angehört. Sicher musste Meike üben, doch anstrengend war es schon, Jahre lang, jeden Tag. Und als Tobi vierzehn war, habe ich ihm seinen ersten Deostift gekauft, mit Zitronenduft; er hat ja gar nicht gemerkt, dass er anfing, so streng zu riechen. Seine erste Freundin hat sogar Schminktipps von mir bekommen…, also offener als bei uns war es sicher nirgendwo. Und trotzdem wollen sie weg. Und Hans findet das auch noch in Ordnung.

Mein Rücken schmerzt.
Ab morgen habe ich tausend Möglichkeiten. In der Stille des Hauses wird mich auch niemand dabei stören, mir in aller Ruhe eine davon auszusuchen. Ich muss nicht mehr kochen, für mich allein reicht ein Häppchen zwischendurch, ich muss kaum noch waschen und bügeln, höchstens am Wochenende, wenn Hans mit seinem Koffer kommt. Aufräumen und Putzen wird ebenfalls flott erledigt sein, macht ja keiner mehr was dreckig. Die Putzfrau kann alle vierzehn Tage kommen, das reicht.
Vielleicht werde ich mehr lesen, es gibt so viele gute Bücher. Oder meine Aquarellstifte vom Dachboden holen, da muss auch noch ein neuer Block sein. Und einen Kurs in der Volkshochschule machen. Karin und Ursula kennen sich da sicher aus. Die könnte ich auch regelmäßig treffen. Oder einfach nur faulenzen, oder zur Kosmetik gehen.
Ist doch toll.
Die Kinderzimmer lasse ich erst mal so, wie sie sind. Man weiß ja nie.

So Papa, mein Handy habe ich in der kleinen Tasche, ich melde mich, wenn wir angekommen sind. Meike will los. Macht mal eine Pause unterwegs, sagt Hans.
Wir müssen Mama noch Tschüs sagen, sagt Tobi.

Ich stehe auf, stelle das Radio an und fange an, den Tisch abzuräumen.
Als die Küchentür aufgeht, drehe ich mich um und rufe erstaunt: Ach, seid ihr schon so weit?

 

Hallo Jutta,

diese Kurzgeschichte hab ich wirklich gern gelesen.
Ein interessanter Blickwinkel, der etwas, was prinzipiell alltäglich erscheint (Kinder werden groß und ziehen aus, so ist das eben), für einen Betroffenen einen schmerzvollen Vorgang darstellt, da Loslassen dem Leben scheinbar seinen Sinn nimmt.
Ich kann mir vorstellen, dass diese Gefühls-Situation weit verbreitet ist, und leider auch die Reaktion darauf: So tun, als sei es gar nicht schlimm...
Schön geschrieben, hat mir gefallen...

Gruß
odrees

 

Hallo Jutta,

mir hat deine Geschichte auch sehr gefallen. Dein liebevoller Blick fürs Detail verleiht deiner Erzählung eine gefühlvolle Dichte, und es war mir ein Leichtes, mich in die Erzählerin hineinzuversetzen.

Einzig im letzten Drittel, etwa ab

Findest du es nicht schön, dass sie zusammen in eine Stadt ziehen?

... könntest du etwas straffen. Es kommen keine überaus neuen Gedanken mehr, bis auf die eventuell mangelnden Freiheiten.

Und dann frage ich mich, weshalb du keine Anführungszeichen verwendest. Das hat mich beim Lesen etwas irritiert, weil nicht immer klar ist, ob es sich um Gedanken oder um eine erzählte, wörtliche Rede handelt.

Schöne Grüße,

yours

 

Hallo Jutta,

das ist so richtig mitten aus dem Leben. Gut beobachtet und angenehm geschrieben, ohne grossen Firlefanz. Das liest sich glatt ewg, ohne dass man ueber irgendwelche verschnoerkelten Saetze fuenfmal nachdenken muss.
Allerdings macht es richtig traurig. Die Geschichte hat sowas von "Herbst des Lebens", eines der Themen, die man eigentlich eher gern verdraengt.

Danke fuer den Einblick in die Zukunft!

sammamish

 

Hallo Odrees,
danke für den lieben Kommentar! Schön, dass du mit der Geschichte etwas anfangen konntest und die Gefühlsambivalenz dich angesprochen hat.
LG,
Jutta

Hallo Yours,
danke fürs lesen und den kommentar. Ich hatte schon einiges rausgeschmissen, werde aber noch mal nachschauen, ob wirklich noch was weg könnte. Ich habe auf die Anführungszeichen verzichtet, weil es ja zum Teil innerer Monolog ist, der mal ab und zu nach außen gerichtet ist und in einer Frage mündet. Finde ich recht anschaulich, obwohl es stimmt, was du sagst. Habe mehrere Bücher gelesen, bei denen es so ist und mußte auch manchmal sortieren!
LG,
Jutta

Hallo sammamish!
Auch dir vielen Dank für deinen lieben Kommentar! Es muß aber doch noch nicht der Herbst des Lebens sein, wenn die Kinder aus dem Haus gehen; man muß halt sein Leben neu strukturieren und sollte sich ein bißchen vobereiten, wenn es auch schwer ist!
LG,
Jutta

 

Hallo Jutta,

das Lesen deiner Geschichte hat die Erinnerung an das Ausziehen meiner Kinder wachgerufen und mich erinnert, wie lange es gedauert hat, einen eigenen Rhythmus zu finden.
Sehr gut beobachtet, was in solchen Momenten alles verdrängt wird. Es ist doch gar nicht schlimm! Nein, nicht schlimm, sondern so unendlich traurig, weil die Vergänglichkeit sichtbar wird. Gut gefallen haben mir die Begründungen der Kinder, die für die Mutter nicht so nachvollziehbar waren.
Ich denke mir, dass deine Protagonistin sich ein eigenes Leben aufbauen, ihren Interessen nachgehen wird, wenn sie ihre Traurigkeit überwunden hat.

Hat mir sehr gut gefallen, auch deshalb, weil ich deine Art zu schreiben mag.

Lieben Gruß,
jutta

 

Salü Jutta,

auch mir hat Deine Geschichte gefallen. Gut und zügig lesbar für mich.

Doppelgeburt und Doppelabschied. Dazwischen liegen knappe zwanzig Jahre, zu wenig, um sich darauf vorzubereiten.

Zwei Sätze und Du sagst damit soviel aus, das ist gross.

Ebenso:

Mein Handrücken ist sonnengebräunt, aber nicht mehr glatt. Ein Netz winziger Linien durchzieht ihn.

Das steht da einfach so und ist einfach so und löst viele Gedanken aus. - Auch die feine Ironie der 'tausend Möglichkeiten' hat mir gut gefallen.

Ein bisschen meckern will ich noch: ;)

Hans muss abends immer noch was vorbereiten für die nächste Sitzung, das nächste meeting oder eine Besprechung im kleinen Kreis. Sonst schafft er sein Pensum nicht, vor allem, wenn er am nächsten Tag auch noch in den Flieger steigt.

Ist das vernachlässigbar? Ich bin unsicher. So in Gedankengängen oder inneren Monologen vielleicht schon, aber beim Lesen stören mich solche Füll- oder Gebrauchswörter. Schau nochmal drüber.

Sehr gerne gelesen und auch ein wenig mitgetrauert. Ich geh jetzt Geschirr spülen und aufräumen und, und ...

Lieben Gruss,
Gisanne

 

Hallo Jutta,
jawoll, so sehe ich es auch: nach dem Jammern wird dann die neugewonnene Freiheit genossen! Die Auseinandersetzung mit dem Alter wird dann auch zur Chance, vor allem, gepaart mit einem guten Stück Lebenserfahrung; wenn "frau" es denn will! Danke für den positiven Kommentar.
LG,
Jutta

Hallo Gisanne,
ja, ja, DU mußt natürlich immer ein bißchen meckern!!! Aber du hast ja Recht, was die beiden 'nochs' angeht, doch ich will sie gerne stehen lassen, da die arme Mutter eben so denkt. Meine Idee war, dass es ihre Vorwurfshaltung unterstreicht, im Sinne von: Alle haben immer noch was zu tun, keiner hat Zeit für mich. Ob das ankommt? Ansonsten herzlichen Dank für das nette Lob.
Und: haben Spülen und Aufräumen dich wieder ins Gleichgewicht gebracht???
LG,
Jutta

 

Und: haben Spülen und Aufräumen dich wieder ins Gleichgewicht gebracht???

Ja, das klappt meistens. Lass die 'nochs' ruhig stehen so.

Aber ehrlich: Meckere ich immer? Puh, dann gehe ich gleich und räume auch noch den Keller auf :lol:

 

Hi Jutta
Sehr schöne Geschichte. Vor allem haben mir die vielen Details gefallen. Das verdichtete die Atmosphäre und machte alles sehr viel glaubhafter. Das Innenleben deines Prots war schlüssig und sympathisch. Kritikpunkte fallen mir jetzt nicht ins Auge. Aber ich bin ja noch neu ;)

Weiter so. Ich werde deine Geschichten gerne lesen.:read:

 

Hallo Arkadi,
willkommen hier und herzlichen Dank fürs Lesen und den wohlwollenden Kommentar.
LG,
Jutta

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Jutta,

Mir hat die Story gut gefallen. Das liegt unter anderem am ungewöhnlichen Thema: Der Doppelabschied von den Zwillingen. Das kann nicht jeder so gut beschreiben. Es ist so gut, dass ich denke, das da Erlebtes mit dabei ist.

"Ab morgen hast du jede Menge Zeit für dich, Mama, sagt sie und zupft dabei an ihrem Zeigefinger." Bei deinem ersten Satz dachte ich, es geht um eine alte Frau, die ins Altersheim zieht. Wohl nur eine persönliche Assoziation, aber warum nicht gleich am Anfang die eigentliche Stärke der Geschichte enthüllen: ihr ungewöhnliches Setting? Für mich steckt das in dieser Stelle:

Das sagt dir niemand, wenn du Zwillinge bekommst. Doppelgeburt und Doppelabschied. Dazwischen liegen knappe zwanzig Jahre, zu wenig, um sich darauf vorzubereiten.
Mit diesen Sätzen würde ich anfangen; das nimmt den Leser sofort gefangen, denke ich.

Noch was ist mir aufgefallen:
- Der Sohn will Mathematik studieren, aber die Erzählerin bezeichnet das als "Naturwissenschaftskram". Sorry, aber Mathe ist absolut keine Naturwissenschaft. Das sage ich als studierter Chemiker, für den Mathe im Studium immer ein Problem war.:)

Im Ganzen ist das eine sehr gelungene Geschichte, mit schönen Details (wie dem leeren Kühlschrank z.B.) und schönem Zynismus, der die emotionale Wirkung auf mich als Leser verstärkt ("Oder einfach nur faulenzen, oder zur Kosmetik gehen. Ist doch toll.")

Grüße,
leixoletti

 

Hallo leixoletti,
na dann rede ich mich mal geschickt raus: Selbstverständlich ist MIR klar, dass Mathe keine Naturwissenschaft ist, doch hier spricht eben die traurige Mutti, die das alles doch gar nicht auseinanderhalten kann....
Ich freue mich, dass Dir die Geschichte gefallen hat, sicher gibt es noch mehrere Möglichkeiten, wie sie beginnen könnte, doch mir gefällt der Anfang gut, weil durch die Handlung m.E. Neugier aufs Weiterlesen geweckt wird.
Danke Dir und ein schönes Wochenende,
Jutta

 

Hallo Jutta,

deine Geschichte, mit passenden kurzen Sätzen, ist angenehm ruhig und etwas melancholisch geschrieben. Wenn man noch einmal das alte Oxymoron aufgreifen darf, kann man auch von ‚bittersüß’ sprechen.
Da ist die Mutter, die Trennung als Verlust empfindet, fast so, als wenn mit dem Weggang der Kinder auch ihr Lebens- bzw. Erziehungswerk verloren geht, auf der anderen Seite stehen die Chancen der Kinder und letztlich der Stolz („die begabtesten Musikstudenten“) der Eltern. (Den Vater darf man ja nicht unterschlagen, doch – das hast du geschickt gemacht, um die Mutter in den Focus zu stelllen - der Vater war viel zu oft unterwegs: „als er mal in der Woche zuhause war“, „So oft, wie ich mit ihnen [den Kndern]alleine war“).

Du beobachtest die Mutter, die Interaktionen mit den Kindern, viele Kleinigkeiten, die den einzelnen Szenen Bedeutung geben, z.B.:


„Ab morgen hast du jede Menge Zeit für dich, Mama, sagt sie und zupft dabei an ihrem Zeigefinger.

Das sagt dir niemand, wenn du Zwillinge bekommst. Doppelgeburt und Doppelabschied. Dazwischen liegen knappe zwanzig Jahre, zu wenig, um sich darauf vorzubereiten.

Außerdem soll ich froh sein, dass mir ihr Geklimper in Zukunft erspart bleibt. Richtig angucken kann sie mich dabei nicht.“


Dann stellst du den körperlichen Schmerz der Mutter (der nur vordergründig ihre Hauptplage ist), ihren „Tausend Möglichkeiten“ gegenüber, es wirkt wie eine krampfhafte Argumentsuche, das Bemühen aus der ungewollten Situation noch etwas Positives zu machen:

„Mein Rücken schmerzt.
Ab morgen habe ich tausend Möglichkeiten. In der Stille des Hauses wird mich auch niemand dabei stören, mir in aller Ruhe eine davon auszusuchen. Ich muss nicht mehr kochen, für mich allein reicht ein Häppchen zwischendurch, ich muss kaum noch waschen und bügeln, höchstens am Wochenende, wenn Hans mit seinem Koffer kommt. Aufräumen und Putzen wird ebenfalls flott erledigt sein, macht ja keiner mehr was dreckig.“

Die Aufgaben der Hausfrau schrumpfen, ihre Belastung wird kleiner – doch Entlastung scheint es (noch) nicht so richtig zu bedeuten, aber – nicht nur auf die Kinderzimmer bezogen - „Man weiß ja nie.“

Schöne Geschichte,

Gruß

Woltochinon

 

Hej Jutta,

das freut mich, dass ich dank Woltochinon diese Geschichte gefunden habe.
Sie wirkt auf mich sehr authentisch und hat mich ganz schön am Herz gezupft.

Schön finde ich, dass die Mutter - auch wenn sie nicht so recht wahrhaben möchte, dass ihre Kinder in ihr eigenes Leben aufbrechen - nirgends als klammernde Nervensäge auftritt, sondern schlicht traurig und irgendwie hilflos diesem inneren Unwillen ausgeliefert, den sie am Ende verschweigt.

Die Überschrift beschreibt gut die beiden Gegensätze:
Tausend Möglichkeiten, die diese Mutter nicht mehr hat, die bei genauerer Betrachtung zu einem eher klägliches Häufchen schrumpfen.
Tausend Möglichkeiten, die die Kinder zu Hause nicht finden, gerade da nicht, sondern nur in einer anderen Stadt und einem gewissermaßen neuen Leben.

(und weil ich heute ganz und gar kinderlos bin widme ich mich jetzt schnell wieder anderen Themen ;) )

Viele Grüße
Ane

 

Hallo Woltochinon und Ane!
Wi schön, dass Ihr diese Geschichte noch einmal ans Licht geholt habt; ich mag sie selber ganz gerne, vielleicht, weil meine Kinder schon lange aus dem Haus sind....
LG, Jutta

 

Hallo Jutta,

habe Deine Abschiedsgeschichte sehr gerne gelesen. Ist sehr gut nachvollziehbar, der Schmerz, den die Mutter empfindet, wenn die Kinder das Haus verlassen, um in einer anderen Stadt zu studieren.
Ich habe das im Familienkreis erlebt. Und es ist wahr, oft wollen die Kinder weiter weg. Die Eltern empfinden das vielleicht als Flucht.

Bei mir hat das noch ein bisschen Zeit, meine Tochter ist erst 14. Aber was heißt erst? Sie wurde ja auch "erst" geboren, die Zeit vergeht so schnell und ehe ich mich versehe, stehe ich vor dem Problem wie Deine Prota. Das kann einem schon Angst machen, irgendwie.

Eine sehr schöne Geschichte jedenfalls, wieder mal mitten aus dem Leben, wie bei Dir üblich.

LG
Giraffe :)

 

Hallo Jutta,

find ich klasse, Deine Geschichte. Die Situation hab ich bisher nur aus der Sicht des Weggehenden erlebt und mir wurde erst später klar, dass das nicht nur für mich einen Einschnitt bedeutete.

Du hast Dich für eine relativ „einfach gestrickte“ Protagonistin entschieden und das kommt auch in der Sprache zum Tragen: „Für mich war das weiß Gott nicht immer einfach“ – kann ich richtig hören, wie sie diesen Selbstgespräch-Tratschton anschlägt. Eine andere, interessante Möglichkeit wäre es gewesen, wenn die Prot es rational Bejahen würde, dass die Kinder weggehen („ist ja auch besser für sie“), aber emotional damit Probleme hätte. Das wäre dann ein anderer Konflikt gewesen, in Deiner Version kommt die Einsamkeit/Isoliertheit der Prot innerhalb der Familie natürlich stärker zum Tragen.

Toll auch die Sätze:
„also offener als bei uns war es sicher nirgendwo.“ Und:
„Die Kinderzimmer lasse ich erst mal so, wie sie sind. Man weiß ja nie.“

Sprachlich sind hier und da Redundanzen drin, und ich würde überlegen, ob ich die folgenden Sätze streiche:
"Nein, ich denke, es geht ihnen darum, möglichst weit weg von zuhause zu sein."
(kommt ja später nochmal: „selbst wenn das alles stimmt, wollen beide einfach weit weg von zuhause.“)
„Und das verstehe ich nicht.“ (Wird im Folgenden ohnehin deutlich, dass sie es nicht versteht.)
Ich bin allerdings schon einige male wegen meiner Kürzungsvorschläge hier im Forum verdroschen worden, also will ich da jetzt sehr vorsichtig sein. ;-)

Etwas unsicher bin ich mir darin, ob man „meeting“ nicht groß schreibt, aber das kann hier sicher irgendwer beantworten.
Schöne Geschichte, die mich am Muttertag dazu bewegt hat, doch noch mal zum Hörer zu greifen und meine Großmutter anzurufen 

Herzlich
TeBeEm

 

Hallo TeBeEm,
ich hoffe, die Oma hat es gefreut! Die Wiederholungen habe ich eigentlich als Stilmittel gesehen, etwas, das die Mutter sich immer wider agt, auch, um sich in ihr Selbstmitleid zu steigern, der Teil ist ja durchaus drin, denn so wirklich kann sie halt mit der Freiheit nix anfangen. Vielen Dank Dir und Grüße nach Berlin,
Jutta

 

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