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Tee mit der Queen
Tee mit der Queen
Knackholz, trocken und dünn. Oder Prasselholz, von der Kaminflamme umzüngelt. So hört es sich an. Ein kurzes, hartes Knirschen, mehr nicht. Karla schwebt einen Moment mit hochgerissenen Armen über dem Teppich, rasch wieder geerdet, sobald der Ziegelstein Schorschis Schädelknochen zerbersten lässt. Ein endgültiges Geräusch.
Die Zeitung fällt aus seinen Händen, segelt langsam zu Boden, die Aktienkurse fallen unter den Couchtisch. Das Letzte, was Schorschi gelesen hat. Komisch. Karla muss kichern, jetzt zittert sie vor Anstrengung. Schweißtropfen erblühen auf ihrer Stirn.
Die lange Haarsträhne, von Schorschi sorgfältig quer über den Kopf gekämmt, ist verrutscht, hängt wie ein nasser Bindfaden auf seiner Schulter. Der kahle Schädel wird zu einem winzigen, feuerspuckenden Vulkan. Dunkelrotes Blut tropft im Sekundentakt auf den Teppich.
Damit hat Schorschi nicht gerechnet. Vor Überraschung ist er zur Seite gekippt, seine Hand baumelt über der Sessellehne. Diese Pranke mit den ewig schmutzigen Fingernägeln. Nur noch ein nutzloses Werkzeug, denkt Karla.
Sie bettet den Ziegelstein in ihre Armbeuge und leckt sich einen Schweißtropfen von der Oberlippe. Nie mehr Schorschis Gesicht sehen, ihn nie mehr berühren.
Die Schultern schmerzen, doch Karlas Beine möchten immer nur hüpfen. Zwei Walzerschritte mit Ziegelstein und halskitzelnden Schluchzern der Erleichterung. Hin zur Wohnzimmertür, eine zierliche Pirouette zum Abschied und von außen leise die Klinke hochgedrückt.
In der Küche öffnet Karla das Fenster und atmet die nebelfeuchte, mausgraue Novemberkühle ein. Sie schließt die Augen und spürt, wie sich die Lungen füllen. Hinter den Häusern wartet die Nachtschwärze.
Karla dreht den Kopf von rechts nach links und rollt die Schultergelenke. Wärme breitet sich in ihren Adern aus, mit Leichtigkeit fließt ihr gut umhülltes Blut. Gedanken an Sommertage flattern durch ihren Kopf: Sommertage, an denen sie unversehrt, in luftiger Kleidung durch die Strassen geht, allen Leuten ins Gesicht lacht und gerne für ein Schwätzchen stehen bleibt.
Der Ziegelstein liegt auf der Spüle. Karla betrachtet die filigranen Blutspuren auf seiner porösen Oberfläche. In jede noch so kleine Unebenheit zeichnen sie Spinnwebmuster. Wenig Blut nur.
Unter dem Wasserkran spült sie alles weg, hilft mit der Spülbürste nach.
Seltsam, denkt sie, wie schnell sich das Leben gründlich verändern kann. Heute fing ihr Tag ebenso ereignislos an wie unzählige davor. Nicht das geringste Zeichen deutete darauf hin, dass sie so etwas Grandioses vollbringen würde. Sie war aus dem gleichen Grund ins Wohnzimmer gegangen, aus dem sie jeden Nachmittag ins Wohnzimmer ging.
Um Schorschi zu fragen, ob er bereit sei für den Kaffee, oder ob sie noch warten solle. Und wie jeden Nachmittag saß er in seinem Sessel und wandte ihr seinen feisten Nacken zu.
Karla war einen Moment stehen geblieben.
Da hustete Schorschi. Seinen würgenden, brodelnden Raucherhusten, der ihn schüttelte und selbst seinen Nacken puterrot anlaufen ließ.
Karla hielt inne und bemerkte im gleichen Augenblick den kleinen Ziegelsteinhaufen vor dem Kamin. Seit Tagen wollte Schorschi eine Stelle in der Kaminmauer ausbessern.
Plötzlich wusste sie genau, was zu tun war.
Karla ist ein bisschen enttäuscht. Es ist vorbei, doch alles ist irgendwie wie vorher. Nur stiller und vielleicht eine Spur schärfer umrissen. Die Küchenmöbel zum Beispiel. So weiß, so klar schieben sie sich in den Raum. Karla setzt sich an den Tisch und betrachtet ihre Hände. Sie wird sie in Zukunft besser pflegen. Eine Handcreme mit Olivenöl oder Kamille, und zwar täglich. Gepflegte Hände fallen ihr immer angenehm auf. Dafür hat sie einen Blick.
Sie hat sich neulich erst gewundert, dass selbst die Queen noch so glatte Hände hat. Und Iris Berben natürlich!
Karlas Fingerspitzen betasten die geschwollene Haut unter ihrem rechten Jochbein. Noch zwei, drei Tage schätzt sie, dann merkt keiner mehr was. Karla hat Erfahrung. Der Fleck schillert schon nicht mehr blau, geht ins Gelbliche über.
In Zukunft wird sie jeden Tag am hellen Vormittag einkaufen gehen, und ihr Gesicht wird von einem guten Puder zart leuchten.
Karla nimmt ein paar Frauenzeitschriften aus der Schublade. Die Queen liegt zuoberst und lächelt sie an. Karla blättert ein paar Seiten um und liest, dass die Königin von England jeden Nachmittag um fünf Uhr Tee trinkt und ein Butterbrot mit Gurke dazu isst.
Das imponiert Karla, so eine einfache Geste.
Es ist zehn vor Fünf. Karla geht ins Bad, wäscht sich die Hände und cremt sie mit Nivea ein. Langsam und sorgfältig. In der Küche setzt sie den Kessel auf die Gasflamme und kramt im Schrank nach Mutters altem Teegeschirr. Seltmann Weiden steht darunter, chinesisch Blau. Unterteller findet sie nicht, doch die Tasse ist hauchdünn und sieht auf einem weißen Platzdeckchen schön aus. Karla spült sie heiß aus und hängt einen Beutel Ceylon-Assam hinein. Ein guter Tee, Premiummischung. Im Schrank findet sie nur ein paar Scheiben Knäckebrot, aber das geht auch. Gurke hat sie noch reichlich. Karla schichtet die Gurkenscheiben akkurat auf das Brot, bestreut es mit Salz und gießt das sprudelnde Wasser in die Tasse. Guter Tee muss drei Minuten ziehen.
Es ist schön, alles in Ruhe zu tun. Karla summt einen Schlager aus ihrer Kindheit, von Gitte und Rex, holt die Mehldose aus dem Schrank und lehnt das Bild der Queen dagegen, genau gegenüber von ihrem Platz.
Karla ist ein wenig feierlich zumute. Sie setzt sich, hebt ihre feine Teetasse hoch und nickt der Königin von England zu. Ein kleiner Schluck und ein Biss mit spitzem Mündchen. Sie hätte nicht geglaubt, dass ein Knäckebrot mit Gurke nachmittags um Fünf so gut schmecken kann.
Jetzt ist Karla fertig und sieht sich um. Die Queen lächelt zuversichtlich. Von plötzlichem Tatendrang beflügelt holt Karla die Reiseprospekte aus dem Schlafzimmer.
Die Mosel. Da wollte sie schon immer mal hin. Was für ein Foto! Das silbrige Band schlängelt sich zwischen den Weinbergen hindurch, Fachwerk noch und noch, wie sie das liebt!
Doch im November vielleicht nicht, eher im Sommer.
London! Das wäre doch was! Die Themse im Nebel sieht so geheimnisvoll aus. Und sie könnte sich den Buckingham-Palast ansehen, durch den Hyde-Park gehen und die zutraulichen Eichhörnchen füttern.
Aber Karla ist noch nie geflogen. Sie könnte allerdings auch mit dem Schiff fahren. Englisch kann sie ein bisschen aus der Schulzeit. London soll ja sehr teuer sein. Die Queen lächelt und Karla zieht die Schultern hoch. Mal sehen.
Sie müsste eigentlich einkaufen gehen, es ist kaum noch was im Haus. Die großen Fleischmengen braucht sie ja jetzt nicht mehr. Meine Güte, was hat Schorschi immer weggeputzt! Und wehe, es waren nicht zwei Koteletts da.
Karla mag am liebsten Hühnchen. Oder Fischfilet.
Sie schaut die Queen an und fragt sich, ob sie sich in London anders fühlen würde, näher bei der Majestät eben.
Es gibt so viel zu überlegen, so viel zu entscheiden! Eben fällt ihr ein, dass sie sich jetzt auch die rosa Wolkenstores kaufen kann, für ihr Schlafzimmer, und diesen weichen Teppich, in dem ihre Füße fast versinken. Ein Traum in weiß und rosa könnte ihr Schlafzimmer sein.
Karla wird müde. Sie gähnt. Ihre Augenlider fühlen sich schwer an und fallen herunter, bevor sich Schorschis zusammengesackter Körper auf die Netzhaut brennen kann.
Es gibt so viel zu überlegen, zu entscheiden. Karla braucht ein bisschen Schlaf, sie muss ja nichts überstürzen.