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Telefonterror
Es ist Mitte Juli, die Sonne brennt heiss und ungesund vom Himmel. Auf dem Mini-Balkon ihrer Dreizimmerwohnung liegt Sabine im Liegestuhl. In einem Bikini, den sie aus gutem Grund nur zu Hause anzieht. Sie liest einen dieser Frauenromane in denen die Hauptprotagonistin knapp über Dreissig, Kunsthändlerin oder Antiquitätenladenbesitzerin ist, täglich mit ihrer Mutter telefoniert und von den Männern wahlweise enttäuscht, verletzt, hintergangen oder ausgenutzt wurde.
Sabine ist bereits etwas rot im Dekolleté, was sie jedoch nicht bemerkt, denn sie ist gerade bei einer dieser heissen Liebesszenen angelangt, die sie jeweils mehrmals hintereinander durchliest. Heute kommt es aber nicht dazu, denn beim zweiten Durchlesen hallt aus der Wohnung das Klingeln des Telefons. Sabine legt ihr Buch mit einem tiefen Seufzer beiseite und geht an den Apparat. „Sabine Fischer.“ Aus der Leitung kommt nur leises Knacken. „Hallo? Ist jemand dran?“ Keine Antwort. „Ist da wer?“ Sabine wird langsam ärgerlich. Gerade als sie auflegen will, hört sie eine laute, resolute Stimme; „Sabine? Sind Sie das?“ Sabine hat die Stimme noch nie gehört. „Hier Sabine Fischer. Wer ist am Apparat?“ „Hier ist Catherine Blanchard. Was wollen Sie?“ Sabine überlegt kurz. „Wie? Was ich will? Sie haben doch mich angerufen!“ „Wer, ich?“ tönt es aus der Leitung, „Nein, ich kenne Sie ja nicht einmal!“ Sabine runzelt die Stirn. „Sie haben gefragt, ob ich Sabine sei und ich sagte ‚ja‘. Also, was möchten Sie?“ „Sagen Sie dem Putzmann, er brauche gar nicht mehr wiederzukommen! Ich will den nicht mehr sehen. Und besorgen Sie sich endlich ein Telefon!“ Dann wurde die Leitung unterbrochen. Sabine steht in ihrem Wohnzimmer, das Telefon in der Hand und versteht gar nichts. Sie legt nachdenklich den Hörer auf die Gabel. Was war denn das für eine Verrückte? Die hat sich sicher verwählt, oder? Sie setzt sich auf die Sofalehne und überlegt, ob sie – mal von ihrer Mutter abgesehen - irgendwelche verrückten Frauen kannte. Auf die Schnelle kommt ihr keine in den Sinn. Während sie noch in Gedanken versunken dasitzt, klingelt erneut das Telefon. Sie äugt zum Apparat. Nach dem dritten Klingeln geht sie widerwillig ran. „Fischer.“ Es knackt in der Leitung. Dann: „Na Also! Blanchard hier.“ Sabine weiss nicht recht, was sie sagen soll. Also schweigt sie erst mal und wartet ab. Aus der Leitung kommen laute Atemgeräusche. ‚Eine Perverse!‘ schiesst es Sabine durch den Kopf, doch da meldet sich die Anruferin wieder zu Wort. „Was wollen Sie von mir? Hören Sie endlich auf mich zu belästigen!“ Sabine seufzt und ruft dann in den Hörer; „Sie haben mich angerufen!“ „Ja, ja, das sagen sie alle! Denken Sie an den Putzmann, das ist wichtig!“ Und dann hängt sie auf. Sabine ist wütend. Was war das nur für eine verrückte Tante? Ruft hier an und erzählt wirres Zeug? Sie wollte die Telefonnummer zurückverfolgen, konnte aber nicht, da die Nummer vom Anrufer unterdrückt wurde. Sabine zieht sich einen Bademantel über und startet den Laptop. Sie holt sich eine Tasse Tee aus der Küche und macht sich daran, im Online-Telefonbuch nach Catherine Blanchard zu suchen. Sie wird fündig. Catherine Blanchard, Alpenfrieden 12, Walldorf. Nun gut. Wie Du mir, so ich Dir. Sie geht zum Telefon und tippt die Nummer ein. Es läutet. Einmal. Zweimal. Dreimal. Viermal. Sabine bleibt hartnäckig. Nach dem elften Klingeln gibt sie schliesslich auf. ‚Nicht mein Tag‘ sagt sie sich, schaltet den Laptop aus, geht raus auf den Balkon und legt sich in den Liegestuhl. Sie verscheucht die Gedanken an die Anrufe und schlägt ihr Buch auf.
Die Sonne steht bereits tief am Himmel und Sabine ist mit dem Buch auf dem Bauch eingeschlafen. Ihr Dekolleté ist dunkelrot und brennt. Von diesem Brennen ist sie aufgewacht. Das Buch hat sie fast fertig gelesen. Es endet sowieso wie alle diese Bücher mit einer geplanten Hochzeit, das weiss Sabine jetzt schon. Sie erhebt sich von ihrem Liegestuhl und geht in die Wohnung, um die Sonnencrème zu suchen. Gerade ist sie dabei, sich ihren verbrannten Ausschnitt einzucrèmen, als das Telefon klingelt. Da sie gerade keine Hand frei hat und es vermutlich eh wieder diese Verrückte ist beschliesst Sabine, den Anruf zu ignorieren. Doch das Klingeln bricht nicht ab. Nach ewigen Zeiten geht sie ran und meldet sich unfreundlich: „Fischer!“. Catherine Blanchard ist am anderen Ende. Sie wirkt sehr ärgerlich. „Sagen Sie mal, spinnen Sie? Um diese Zeit noch hier anzurufen?“ Sabine erspart es sich, der Frau zu erklären, dass sie, Sabine, angerufen wurde und nicht umgekehrt. Stattdessen spielt sie das Spiel mit: „Ja, Frau Blanchard. Ich wollte mich kurz bei Ihnen erkundigen, ob es...äh... ob das mit dem Putzmann geklappt hat.“ Erst ist es ruhig in der Leitung. Nach ein paar Augenblicken kommt die Antwort: „Woher wissen Sie von meinem Putzmann?“ Sabine schüttelt resigniert den Kopf. So was von durchgeknallt! Catherine Blanchard spricht weiter. „Moment. Bei mir klingelts an der Tür.“ Sabine hört, wie sich die Frau vom Apparat entfernt. Ein Geräusch – vermutlich hat sie die Tür geöffnet. Dann ein Schrei. Sabine schluckte und presste den Hörer stärker an ihr Ohr. Sie hört Schritte näherkommen, dann kracht es und Frau Blanchard keucht atemlos ins Telefon. „Er ist hier! Der Putzmann ist hier! Er hat eine Waffe und....“. Die Leitung ist tot. Oh mein Gott! Sabine hält den Hörer so fest in der Hand, dass die Finger weiss anlaufen. Soll sie die Polizei alarmieren? Nein, die Frau ist so verrückt – vielleicht hat sie das nur vorgespielt. Und doch... Quatsch, der Polizeibeamte würde sie sicher aufs Gröbste auslachen. Er würde dann sagen: ‚jaha! Sie sind der Alten auf den Leim gegangen, ha ha ha!‘ Aber wenn nun wirklich eine tote Catherine Blanchard in ihrer Wohnung in Walldorf liegt? Und sie, Sabine, ist die einzige, die davon weiss? Sie fühlt Hitze in sich hochsteigen und in ihrem Magen kribbelt es. Im Hörer tutet es rhythmisch.
Sabine fasst den Entschluss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Die Frau ist ganz offensichtlich verrückt und sie, Sabine, wird der Sache nun auf den Grund gehen. Die Neugier hat sie gepackt. Vielleicht geht es hier um ein Menschenleben, um ein Kapitalverbrechen! Sie kann immer noch die Polizei alarmieren, wenn sie dort ist und wirklich eine Leiche vorfinden sollte. Sie rennt ins Schlafzimmer, streift sich eine Jeans über, holt das Pfefferspray aus der Unterwäscheschublade, steckt das Handy ein, schnappt sich die Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und rauscht los. Im Lift hält sie kurz inne. Was für eine blödsinnige und stupide Idee. Doch dann drückt sie entschlossen auf „Eingang“ und der Lift fährt runter.
Der kleine Fiat tuckert vor sich hin, als Sabine die Quartierstrasse rauf und runter fährt. Alpenfrieden 12. Wo ist das nur? Mittlerweile ist es fast dunkel und Sabine hat eine lange Fahrt hinter sich. Sie fragt sich ein letztes Mal, ob sie nicht doch wieder umkehren und die Sache vergessen soll, da sieht sie es. Alpenfrieden 12. Ein kleines Häuschen mit einer schnuckligen Einfahrt. Sie parkiert den Fiat auf dem Trottoir, läuft die Einfahrt rauf und betätigt den schweren, metallenen Türklopfer. In der Jackentasche hält sie den Pfefferspray mit ihrer Hand umklammert. Man weiss ja nie. Lange hört man gar nichts, dann ein Geräusch. Die Tür geht auf und eine kleine, uralte Frau lacht Sabine ins Gesicht. Sie dreht den Kopf und ruft nach hinten in die Wohnung: „Gewonnen! Ich hab euch ja gesagt, dass sie kommt. Ihr schuldet mir je zehn Mäuse!“ Aus dem Haus hört man eine alte Männerstimme fragen. „Ist sie wenigstens brünett? Dann krieg ich von Franz nämlich einen Fünfer zurück!“ Sabine steht fassungslos unter der Tür und starrt die alte Frau ungläubig an. Kann es denn wirklich sein? Fast 40 Kilometer ist sie gefahren – für sowas? Sie macht mit hochrotem Kopf auf dem Absatz kehrt und rennt die Einfahrt runter zu ihrem Fiat. Beim gehen hört sie noch, wie ein Mann an die Tür kommt: „Jetzt darf ich. Wo hast Du das Telefonbuch, Catherine?“ Sabine startet den Motor und flucht leise. „Verdammte unterbeschäftigte Senioren!“