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Thadeusz
Thadeusz
„Einen wunderschönen, guten Morgen, Thadeusz.“
Meggi stach die Gabel in das rohe Fleisch und schleuderte den Klumpen in die hintere Ecke der Garage. Sofort vernahm sie das wohlige Schmatzen; unterbrochen von leisen Grunzlauten.
„Bis später, Thadeusz“, rief sie, packte ihren Ranzen und ließ das Garagentor ins Schloss fallen.
„Ich stell den Teller hier hin, Mama. Bis später.“
Sie sah ihre Mutter im Türrahmen winken. Jetzt musste sie sich wahrhaftig beeilen, sonst war der Bus weg.
Als sich zwanzig Minuten später die Tür des Schulbusses zischend öffnete, sprang Meggi hinaus, direkt vor die Füße von Tama, ihrer besten Freundin.
„Hey, was ist los?“ Tama klang genervt. Eigentlich wie immer, wenn sie auf dem Weg zur Schule waren.
„Mensch, Tama, weißt du denn nicht, was heute für ein Tag ist?“
Ihre Freundin sah sie aus halbverschlafenen Augen an. „Nö. Fällt Mathe aus?“
Meggi grinste; sie würde sich nicht ihre gute Laune verderben lassen. „Was war denn heute vor drei Monaten?“
„Keine Ahnung. Du hast ne eins in Mathe geschrieben.“
Meggi zog die Brauen hoch und sah Tama erwartungsvoll an. „Komm, du weißt es doch genau.“ Sie wusste, dass Tama sie nur foppen wollte.
„Herzlichen Glückwunsch, Meggi“, rief eine Stimme hinter ihrem Rücken. Als sie sich umdrehte, erkannte sie Benny in einem Pulk von anderen Jungs. Er winkte und lächelte.
Meggi spürte, wie eine leichte Röte ihre Wangen zierte. „Danke, Benny. Kommst du nachher auch?“
„Logo.“
„Ich find den Typen doof“, sagte Tama und ging durch das große Tor zum Schulhof.
„Blöde Kuh“, murmelte Meggi und ging hinterher.
Die Stunden zogen sich endlos dahin, bis der erlösende Gong ertönte.
Meggi stopfte ihre Bücher in den Ranzen und stürmte los.
„Ich freu mich schon“, rief Benny, als sie an ihm vorbeirannte.
„Ja, ich auch“, rief sie zurück und beeilte sich, dass er ihre roten Wangen nicht sehen konnte.
Sie lief die Treppen hinunter. Ihr Herz schlug schnell und sie wusste, dass es die Vorfreude war; die Vorfreude auf Thadeusz´großen Tag. Und ihrem natürlich auch.
Sie würde für den Heimweg nicht den Bus nehmen, denn sie ging davon aus, dass der alte Pedderson in seinem Garten war, um dort das Laub zu harken. So wie er es immer tat, sei es nun Herbst, Winter, Frühling oder Sommer. Immer harkte er Laub; auch wenn keines da war. Kein Wunder, dass sie diesen alten Tattergreis ausgewählt hatten.
„Hallo, Herr Pedderson.“ Meggi stand an dem weißen Zaun und betrachtete den alten Mann mit dem Rechen.
Er blickte auf ohne dabei seine tägliche Arbeit zu unterbrechen.
„Na, Herr Pedderson? Machen Sie noch mal alles schön?“ Meggi hatte Mühe, sich ein Kichern zu verkneifen.
Pedderson versuchte zu grinsen, doch es wirkte so statisch, wie ein vertrockneter Laib Brot.
„Wer kümmert sich denn jetzt um das ganze Laub?“ Seine Stimme zitterte.
„Ach, Herr Pedderson, wenn das Ihre größte Sorge ist ...“
„Du bist eine Hexe, Kind“, rief der Alte und sein faltiger Kiefer bebte.
Meggi spürte, wie die Wut in ihr hochkroch. „Wissen Sie was, Herr Pedderson?“, rief sie laut. „Ich habe meinem Vater gesagt, dass er Sie vorschlagen soll!“
Dann drehte sie sich um und ließ den alten Mann in seinem imaginären Laub allein.
Als sie ihr Elternhaus erreichte, sah sie bereits von Weitem die bunten Luftballons über der Haustür und dem Garagentor. Der Wagen ihres Vaters parkte in der Einfahrt. Er hatte sich tatsächlich frei genommen.
Meggis Wut über den blöden Spruch von Pedderson verflog und sie rannte auf die Tür zu.
Als sie das Garagentor passierte, hörte sie ein lautes Poltern. Irgendetwas fiel zu Boden.
Thadeusz musste ziemlich wütend sein, denn an dem heutigen Tag blieb das Tor die ganze Zeit über verschlossen. In den letzten drei Monaten hatte sie es nach der morgentlichen Fütterung stets offen gelassen. Thadeusz konnte zwar nicht raus, das verhinderte die kurze Kette um seinen Hals, aber er kam zumindest in den Genuss von ein wenig Frischluft.
Meggi konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie es dadrin stinken musste. Sie grinste.
Zwei Stunden später hatten sich die ersten Gäste vor dem Garagentor eingefunden. Meggis Vater stand hinter dem Grill und der verführerische Duft von frisch gebratenen Würstchen und Steaks erfüllte die Luft.
„Da ist Tama“, rief Meggi. Sie sah ihre Freundin auf der anderen Straßenseite aus dem Auto ihrer Eltern steigen. Sie hatte ein großes Paket in der Hand.
Tama rannte über die Strasse und wäre beinahe von dem Wagen des Schuldirektors erfasst worden.
Schade, dachte Meggi für einen winzigen Augenblick. Thadeusz hätte sich mit Sicherheit gefreut. Dann breitete sie die Arme aus und nahm das Paket ihrer besten Freundin entgegen, während das wütende Brüllen von Thadeusz hinter dem geschlossenen Garagentor durch die Menge hallte.
Es dauerte noch eine geraume Weile, bis alle Gäste eingetroffen waren. Die erste Lage Würstchen wurde bereits verspeist, und viele der Männer hatten ein kühles Bier in den Händen, das Meggis Mutter aus dem Küchenfenster reichte.
Und dann endlich kam der Wagen der Selektionsfirma. Meggis Herz machte einen kurzen Sprung. Drei Monate hatte sie auf diesen Tag gewartet; drei endlose, lange Monate. Jeden Abend hatte sie vorm Schlafengehen ein rotes Kreuz auf ihrem Kalender gemacht. Jeden langen Tag weggestrichen.
Als ihr Vater sie vor drei Monaten ehrfürchtig zur Garage geführt hatte, um ihr Thadeusz zu zeigen, war sie ihm vor Stolz weinend in die Arme gefallen. „Das ist deiner", hatte er gesagt. "Aber denk daran, meine kleine Prinzessin, das hier ist kein Stofftier, das man in die Ecke legen kann, wenn man mal keine Lust hat. Du musst ihn füttern und sauber halten.“
Thadeusz hatte an seiner Kette gezerrt, so dass sich das Metall in sein faulendes Fleisch bohrte.
Meggi hatte nur gelächelt; sagen konnte sie nichts mehr.
Und sie hatte sich um Thadeusz gekümmert. Viel mehr als um eines ihrer Stofftiere. Sie hatte ihm morgens und abends seinen Fleischklumpen gegeben, und sie hatte seinen übel riechenden Kot mit Vaters Hochdruckstrahler entfernt. Einmal hatte sie aus Versehen sein Bein getroffen, und ein großes Stück Fleisch war gegen die Garagenwand gespritzt. Thadeusz hatte ihr das ziemlich übel genommen.
Aber nach zwei Monaten war er dann zutraulicher geworden. Gut, sie durfte sich ihm auf keinen Fall bis auf Reichweite nähern, aber Meggi hatte zumindest nicht mehr das Gefühl, er wolle sie auf der Stelle zerreißen, wenn er sie sah.
„Mach es auf. Oh komm, Meggi, mach es doch endlich auf.“ Tama hüpfte von einem Bein auf das andere.
Meggi riss das bunte Papier von dem Paket und öffnete es. Es war ein dickes Lederhalsband mit glänzenden Steinen und einem kleinen, goldenen Schild, auf dem Thadeusz eingraviert war. Sie spürte, wie sich ein Schleier auf ihre Augen legte.
„Wie ich dich beneide, Meggi“, sagte Tama, und Meggi erkannte an ihrer Stimme, dass sie es ernst meinte. „Mein Vater hat mir versprochen, dass ich bald auch einen bekomme.“
„Und hast du dir schon jemanden für die Feier ausgesucht?“ Meggi grinste sie an.
Tama blickte in die Runde. „Hm... mal sehen, wer sich in den drei Monaten so alles unbeliebt macht.“
Sie lachten.
Der große, weiße Wagen der Selektionsfirma hatte vor der Einfahrt angehalten und zwei Männer in dicken, abwaschbaren Gummischürzen traten ins Freie.
Meggi klatschte in die Hände. „Darf ich das Tor aufmachen, Papa?“
„Nur zu, kleine Prinzessin. Du hast ja lange genug gewartet.“
Und Meggi rannte los.
Die Menge applaudierte, als die Herren der Selektionsfirma die hintere Tür des Wagens aufschoben und den alten Pedderson hinauszogen. Man hatte ihm die Hände auf dem Rücken zusammen gebunden und ihm einen dicken Strick um den Hals gelegt.
Meggi erreichte das Garagentor und hörte Thadeusz dahinter toben. Sie wartete, bis alle Blicke wieder auf sie gerichtet waren, dann schob sie das große Tor nach oben.
Ein wütendes, gurgelndes Geschrei schlug ihr entgegen, ebenso wie der beißende Kotgestank. Meggi wich beschämt zurück. Thadeusz hatte vor lauter Wut seine Exkremente gegen die Wände geschleudert.
Meggi war sauer. Sie hatte noch kurz vor dem Eintreffen der ersten Gäste die Garage ausgespritzt, hatte sogar ein wenig WC-Frisch versprüht. Thadeusz hatte in letzter Zeit angefangen ziemlich übel zu riechen.
Meggi sah sich um, doch anscheinend schien niemand der Anwesenden den Gestank zu bemerken.
Gestern hatte sie seinen letzten Zahn im Kot entdeckt; pünklich zum Festtag.
Eine Zeit lang hatte sie ein ungutes Gefühl, dass Thadeusz den Jubeltag nicht mehr erleben würde. Eine Schulkameradin hatte ihr einmal berichtet, dass ihrer zum Schluss so verwest gewesen sei, dass er nur noch hatte kriechen konnte. Aber Thadeusz hatte sich ja gut gehalten.
„Gratulation“, sagte eine tiefe Stimme neben ihr. Es war einer der Männer der Selektionsfirma. Der Andere war damit beschäftigt, Herrn Pedderson einen dicken Ledergürtel um den Bauch zu schnallen, an dem später die lange Stange zum Hineinschieben befestigt wurde.
Pedderson sah Meggi mit verachtenden Augen an.
Scheiß auf die Bonbons, die du mir immer gegeben hast, wenn ich an deinem Zaun vorbeigegangen bin, dachte Meggi. Und Scheiß auch auf die kühle Limo. Die hat eh nicht geschmeckt.
Einer der Männer mit der Gummischürze ging zurück zum Wagen und kam kurz darauf mit einem großen Metalleimer und einem glänzenden Kehrblech zurück. „Wir nehmen nur das Grobe wieder mit“, sagte er und stellte die Utensilien neben die Garagenwand. Dann lehnte er sich ebenfalls dagegen und begann, sich eine Zigarette zu drehen.
Der andere hatte inzwischen die lange Stange an Peddersons Gürtel befestigt.
„Die Steaks sind fertig“, rief Meggis Vater in die Menge.
„Lasst doch mal die Kleinen nach vorne“, rief eine Frau.
„Hexe“, zischte Pedderson und blickte auf Meggi herab.
Meggi grinste. Sie würde sich nicht wieder ihre gute Laune verderben lassen.
„Wer kümmert sich jetzt um das Laub?“, schrie Pedderson so laut, wie man es dieser alten Kehle gar nicht zugetraut hätte.
Für einen winzigen Moment verstummte das Gemurmel der Gäste, und auch Meggis Vater blickte von seinem Grillgut auf. Dann brachen alle in ein schallendes Gelächter aus.
Meggi kramte in ihrer Hosentasche und hielt kurz darauf einen gelblich schimmernden Schneidezahn in der Hand. Sie lächelte den alten Mann an. „Das hier war der Letzte, Herr Pedderson“, sagte sie ganz leise. „Es wird seeeehr lange dauern. So ohne Zähne.“
Ein kleines Kind zupfte seiner Mutter am Hosenbein. „Mama, darf ich den Mann einmal anfassen?“
„Nein, Schatz, jetzt nicht mehr.“
Der Mann von der Selektionsfirma hatte die lange Stange an deren Ende gefasst. Pedderson begann leise zu weinen.
Meggi rief: „Thadeuuuusz.“