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- Anmerkungen zum Text
Meine erste humoristische Geschichte überhaupt. 1984, 39 Jahre her
The Punky Christmas Vierundachtzig
;
i.
Weihnachten ... 1984.
Ich ging in den Essraum.
Der Gast war eingetroffen: Bodo der Säufer, und im Wohnzimmer lauerte unter dem Weihnachtsbaum die Bescherung. Es gibt keinen Tag, der länger als vierundzwanzig Stunden dauert, dachte ich, und von dem hier waren schon achtzehn vorbei.
Meine Mutter bestand mit der Sturheit eines afrikanischen Wasserbüffels darauf, dass wir singen:
‘Oh Tannenbaum ...’, und ich singe: „ ... wie braun sind deine Nadeln/sie sterben schon seit geraumer Zeit ...“, als meine Schwester heiser wird und Vater versucht, mich mit einem Fünf-Mark-Stück zu bestechen. Ich bleibe hart; schließlich hat Jesus auch nicht gleich nachgegeben.
ii.
Die Bescherung: Ich erhalte von Mutter – wie jedes Jahr – vier Dutzend Paar Socken in drei verschiedenen Farbrichtungen. Ich verstaue sie in meinem eigens für diesen Zweck angeschafften Sockenschrank – an Socken wird es mir nicht mangeln bis zur nächsten Eiszeit – und gehe zurück ins Wohnzimmer.
Alles nimmt seinen Lauf. Mit Ausnahme von Mutter werden sie zuerst saufen, dann politisieren und saufen, und am Schluss saufen, politisieren, sich prügeln und die Wohnungseinrichtung schrotten, während meine Schwester versuchen wird, die Aquariumsfische mit Mutters Weihnachtsbowle zu vergiften.
Der Christbaum brennt schon, es muss halbacht sein, er brennt jedes Jahr um diese Zeit. Meine Schwester löscht.
Vater hat am gestrigen Tag vorsichtshalber die Weihnachtsplatten von Mutter zerkratzt. Bodo der Säufer ruft grölend: „Frooohe Oostern!“, und Mutter bringt ihre ‘Plätzchen’. Wahrscheinlich hat sie das Rezept von einer Firma, die Stahlbetonmischungen zum Bauen von Fundamenten für 24-stöckige Hochhäuser herstellt. Im direkten Vergleich brechen zuerst die Zähne.
Inzwischen leistet der Hund seinen Beitrag. Er scheißt hinter den (immer noch brennenden) Weihnachtsbaum, während Mutter heult und der Vati den Opi unter'm Couchtisch würgt. Bodo hat in der Zwischenzeit den Birnenschnaps fertig, zumindest die erste Flasche. Meine Schwester ist fertig mit Löschen und wirft mir jetzt böse Blicke zu. Sie hat mir drei LPs von den Dead Kennedys geschenkt und ich schenkte ihr drei selbstgemalte Bilder (um dem Kommerz zu widersagen). Vielleicht ist sie auch nicht ganz zufrieden, weil sie in die Hundekacke gestiegen ist.
Schließlich kommt der unvermeidliche Augenblick. Der Augenblick, den jeder kennt, und den alle (Bodo, Opa, Vater, meine Schwester, ich und der Hund) mit Angst erwartet haben: Die Mitternachtschristmette kommt näher.
Bodo ist blau. Er wünscht mir alles Gute zu meinem Geburtstag. Onkel Simon kommt auch noch vorbei, Mutter lässt ihn rein -- ein Mitglied des Pfarrgemeinderats. Er wird wieder versuchen, Bodo für die Neugründung des ‚Bunds der Alten Fadenscheinigen Deutschnationalkämpfer’ zu gewinnen (dessen erklärtes Ziel es ist, Elsaß-Lothringen zurückzuerobern. Eigentlich wollen sie wieder Krieg gegen die Russen, Frankreich ist nur zweite Wahl).
Als Simon wieder weg ist, ist es so weit, da fragt Mutter mit zittriger Stimme: „Ich geh jetzt zur Mette. Die ist so feierlich – und christlich und – schön ... Wer kommt mit?“ Niemand, eigentlich. Und wenn niemand mitkommt, löst sich in Sekundenschnelle das Universum in Nichts auf – und Vater muss wieder den Notarzt kommen lassen wie jedes Jahr. Bodo war ein Mal bereit gewesen, dann aber auf dem Klo verschwunden und bis zum Morgengrauen nicht mehr aufgetaucht. Meine Schwester ist soeben krank geworden. Dem Tode nahe schleppt sie sich auf ihr Zimmer ins Bett.
iii.
Ich opfere mich. Nehme sechs Flaschen Bier in meinen Rucksack, pack meinen Walkman in die Manteltasche, und wir gehen los, Mutter und ich. Wir kommen zu spät, es hat schon angefangen. Den Chorteilnehmern scheint ihr eigener Gesang gut zu gefallen. Ich setze mich und drücke auf Play. Kopfhörer auf, und mitsingen. Sex Pistols: „I am an anarchyst/I am the antichrist...“ Mutter kuckt enttäuscht, ich sage ihr: „Was denn, die anderen singen doch auch!“ Die wenigen Jugendlichen haben sich bald um mich geschart und den Rock’n’Roll und mein Bier.
Eine Gruppe von sechs Hells Angels kommt auch noch in die Kirche, um zu demonstrieren, wie sie ihren ‘Glauben leben’. Einer hat einen 100-Watt-Kassettenrekorder mit AC/DCs ‘Hell Bells’ aufgedreht. Ein anderer ist offenbar hungrig, geht vor zum Altar und frisst sich mit Hostien voll. Ich ignoriere das Weinen meiner Mutter und beginne, dem Kirchenchor den Pistols-Song ‘Anarchy In The UK’ beizubringen. Solche Gelegenheiten sind selten. Vor Angst machen sie mit. Ein paar Jugendliche beginnen mit einer kleinen, stimmungsvollen Messerstecherei und zwei der Hells Angels sind dabei, einen Ministranten zu vergewaltigen. Was für ein Planet, auf dem wir solche Dinge tun! Die Polizei trifft ein. Ich hau ab in die City.
iv.
Penner machen in der U-Bahn Rundfahrten, weil niemand kontrolliert. Die Innenstadt ist voll mit Polizei. Ein Punker ruft: „Haut die Bullen platt wie Stullen!“ Es steht auch auf seiner Jacke, die Polizei nimmt ihn erst mal mit.
Ich setz‛ mich abseits auf eine Bank, mach mein letztes Bier auf und frage Jesus: „Ist das alles dein Ernst? Was sollte das werden? Du wolltest doch nicht wirklich dieses Scheißhaus voller kranker Spackenköpfe? Du warst bloß noch nicht in Übung, stimmt‛s?“ Doch Jesus hatte offensichtlich keinen guten Tag, denn es ziehen schnell schwarze Wolken über mir zusammen und verdunkeln das Firmament. Ein Blitz sticht herunter und trifft mich (und ich denke noch: Touché!) und verwandelt mich in Kompost.
Gott ist manchmal eben doch gerecht.
v.