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Theorie
Mein Name ist Amanda. Ich habe den Schlüssel. Deswegen liege ich manchmal sonntags im Chemieraum meiner Schule, in dem ich Montag Unterricht habe. Es ist mein letztes Schuljahr.
Es gab einen Jungen, den ich von Konzerten kannte. Ich habe mich schön gemacht für ihn. Ungefähr zwanzig Mal. Ich verstehe nicht, warum er sich nicht mehr für mich interessiert. Wir passen perfekt zusammen. Wirklich!
Aber so ist es.
Ein anderer Junge, der mit mir in die Schule geht, findet, ich bin eine Teleportationsmaschine. Er sagte dazu: Wie wenn man an einer Hecke vorbeigeht und zwischen den Ästen führt ein Weg in ein mathematisches Rätsel oder wie ein Garten ohne Ausgang oder etwas, das nur aussieht wie ein Mädchen, aber eine Flüssigkeit ist. Man berührt es und die ganze Oberfläche zittert.
Das ist ein sonderbarer Junge, aber ich mag ihn. Er ist schön, vielleicht sogar schöner als Jacob, aber nicht wie er. Ich kann niemanden außer Jacob lieben, denke ich. So etwas passiert nur einmal im Leben. Da hilft es nichts, dass jemand ständig mit seinem besten Freund über einen spricht und dabei ein Gesicht macht, das sagt: Ich tue niemandem was zuleide. So ist er. Ich glaube, sein Name ist Theo.
Wenn ich von der Schule komme, gehe ich durch die Schrebergärten. Dieses Mal sehe ich Theo bei einer Hecke stehen. Er hat sein Skateboard dabei. Ich laufe zu ihm; wahrscheinlich ist es okay, wenn ich einfach seine Hand nehme. Im Herbst zwischen Hütten und kitschigen Keramikhasen.
Theo bietet mir die Hälfte eines noch warmen Tacos an. Er liebt Tacos, sagt er. Manchmal fährt er bis nach Dormstett, um sich einen zu kaufen. Dieser hier ist selbstgemacht. Ich beiße hinein, er schmeckt nach Mais und Bohnen. Ich sage: »Würdest du gerne in Amerika leben?«
Er lächelt. »Ja, manchmal stelle ich mir das vor.« Er grinst, als sei das ein geheimer Code.
Ich muss sagen, er sieht wirklich gut aus und er ist nett. Vielleicht etwas zu nett. Nicht wie Jacob.
Wenn ich eine Teleportationsmaschine wäre, würde ich mich in mich selbst hineinbeamen, ein bisschen dort herumlaufen. Es ist sicher cool, die eigenen Organe zu sehen. In der Regel hat man nur Haut vor Augen, außer man verletzt sich. Manchmal riecht diese Haut säuerlich und wenn ich bei Jacob war, meinte meine Mutter, dass sie nach Sex riecht. Ich glaube, tief in uns drin ist ein ganz anderer Geruch. Ein warmer, feuchter Duft, der in der Nase kribbelt.
Ich werde nie wieder jemanden wie Jacob finden. Da kann Theo noch so viel über mich behaupten und mich mit seinen Tacos ködern. Ich hoffe, dass er aufhört mit Amerika. Verdammt, wir sind hier in Sülzerode. Begreif das!
Er sagt, er würde gerne den Winter mit mir verbringen. Wir müssten auch nicht viel reden. Ich sage, dass ich über das Angebot nachdenken werde. Seine Tante hätte ein Haus in Schweden, da wäre es manchmal fünfzehn Stunden am Tag dunkel. Ich überlege, ob ich ihn küssen soll, aber lasse es dann doch lieber.
»Hast du schon mal über Stahl nachgedacht?«, frage ich.
»Mein Vater macht was mit Stahl«, sagt er.
»Alle hier machen was mit Stahl«, sage ich.
»Nein … habe ich nicht drüber nachgedacht. Wenn alles gut läuft, bin ich nach dem Abi weg.«
»Quatsch«, sage ich. »Woanders ist es auch nicht besser als hier.«
»Ja, vielleicht«, sagt er. »Aber das muss man schon selbst herausfinden, oder?«
»Willst du vielleicht in den Chemieraum?«
»Okay, du brauchst nicht auf meine Frage antworten.«
»Willst du, oder willst du nicht?«
»Klar, warum nicht.«
Wir machen einen Abstecher bei der alten Zahnklinik.
»Könntest du dir vorstellen, meine Freundin zu sein?«, fragt er.
»Spinnst du?«
»Entschuldige. Ich weiß auch nicht.«
Ich nehme seine Hand, lasse sie nach ungefähr zehn Sekunden wieder los.
Wir betreten den Schulhof.
»Vielleicht sind Lehrer da«, sagt er.
»Wahrscheinlich sogar.«
Der denkt wirklich, er will den Winter mit mir verbringen …
Auf dem Korridor ist niemand. Ich öffne die Tür zum Chemieraum. Es riecht nach Chlor, Radiergummis und Teenyschweiß.
»Wollen wir uns auf die Tische legen?«, frage ich.
Ich fühle seine Haarspitzen, seinen warmen Kopf an meinem. Vielleicht. Vielleicht kann ich mich noch einmal verlieben. Das Gefühl sagt, es geht nur einmal; was danach kommt, ist fake.
»Glaubst du, man kann sich zweimal verlieben?«, frage ich.
»Nein.«
»Dann hast du keine Chance bei mir.«
»Aber deswegen will ich dich doch, oder?«
Ich muss lachen, aber huste lieber.
»Kennst du eigentlich Jacob?«, frage ich.
»Bitte lass mich mit dem in Ruhe.«
»Okay, aber …«
»Nein.«
Theo wirkt sauer, und das, während wir im Chemieraum liegen. Wieder muss ich lachen und huste.
»Weißt du, ich bin wirklich eine Teleportationsmaschine, genau wie du sagst.«
Er schweigt, also halte ich die Klappe.
»Ich muss gehen«, sagt er.
»Wohin?«
»Ich bin noch verabredet.«
Als er weg ist, starre ich wieder die Decke an. Mein Magen zieht sich zusammen wie eine saure Auster. Vielleicht liegt es am Taco. Beschissener Ami-Fraß.
Niemand erklärt einem, warum die Dinge sind, wie sie sind. Alle sagen immer nur, man soll dieses Gefühl genießen. Ich glaube, das mach ich mal lieber. Ich behalte den Schlüssel zum Chemieraum.