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Tina

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04.05.2010
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Tina

„Weißt du, Tina… Ich hab' nachgedacht. Glaube, ich hab' dir noch nie gesagt, wie viel du mir bedeutest.“
Eigentlich hatte er gar nicht vorgehabt, die Worte auszusprechen. Doch dann waren sie schon herausgesprudelt, noch bevor er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte.
„Obwohl du die letzte bist, die mir geblieben ist.“
Sie hatte auf ihn gewartet und beobachtete ihn nun dabei, wie er wankend in die winzige Wohnung trat. Den üblen Geruch, dessen Quelle man unter all den Bier- und Wodkaflaschen und dem restlichen Verpackungsmüll längst nicht mehr genau verorten konnte, nahm er mittlerweile kaum noch wahr. Nur kurz, in den seltenen Momenten wie diesen, wenn er nach Hause kam. Es war ihm egal.
Ohne sie anzusehen, fuhr er fort, während er die Einkäufe in den Schrank räumte. Die Schranktür, die nur noch in einer Angel hing, quietschte bedrohlich.
„Seit fast sieben Jahren hältst' mir jetzt die Treue.“
Sie wandte ihren Blick nicht von ihm ab. Er fuhr mit der Hand über die Narben an seinem Kopf und den Armen. Tina hatte sich diese Bewegung schon eingeprägt, denn er hatte sie verinnerlicht. Vermutlich machte er sie inzwischen unbewusst. Ein knirschendes Geräusch erklang, als er mit seinen abgenutzten Sandalen in ein paar alte Chipskrümel trat.
Sein Blick fiel auf die Kommode. Ihre Schubladen waren leer, aber sie war das Einzige in der Wohnung, das einen gepflegten Eindruck machte. Penibel wischte er jeden Tag mit einem Lappen über ihre Ablagefläche und duldete nicht ein einziges Staubkorn. Zwei Bilder standen dort in ihren Rahmen und daneben lag ein alter Zeitungsausschnitt.
„Bleibst bei mir, obwohl's mir sch-, scheiße geht.“ Er untermalte seine Aussage mit einer ausholenden Armbewegung und stieß dabei eins von den Bildern von der alten Kommode. Lange Risse bildeten sich auf der Glasfläche.
„Ver-damm-te… SCHEIßE!!!“ Beim letzten Wort beförderte er mit einem wütenden Tritt eine halb geleerte Flasche quer durch den Raum, die zwar den Aufprall an der Wand unbeschadet überstand, aber einen nicht geringen Teil ihres Inhalts auf dem Teppichboden verteilte.
Tina blieb unbeeindruckt.
Nachdem er sich beruhigte hatte, bückte er sich nach dem Bild. „Es… tut mir Leid, mein Schatz“, flüsterte er. „Ich besorge dir einen neuen Rahmen. Einen viel schöneren.“ Und an Tina gewandt fügte er hinzu: „Lass gut sein, ich mach' das gleich weg.“ Das hatte er nicht wirklich vor. Der Fleck würde nicht groß auffallen, zumal der Geruch von Alkohol nicht der schlimmste war, der von den zahlreichen nassen Stellen auf dem Boden ausging.
Als er ihr jetzt endlich einen Blick zuwarf, stellte er ein weiteres Mal fest, dass sie ziemlich zugelegt hatte. Sie war äußerst schlank gewesen, als er sie das erste Mal gesehen hatte, beinahe ausgemergelt. Aber das war einmal. Mittlerweile war sie richtig fett geworden. Das hatte er schon oft zu ihr gesagt.
Natürlich antwortete sie auch diesmal nicht. Stattdessen gab sie einen vorwurfsvollen Laut von sich.
„Dein Napf is' ja schon wieder leer. Dabei hatt'ste doch schon 'ne doppelte Portion heut. Na, wart' kurz, bin gleich zurück.“
Tina wälzte sich träge auf dem Haufen zerrissener Plastiktüten und alter Zeitungen, die ihren Schlafplatz bildeten.

***

JÜLICH (AP). Bei einem Verkehrsunfall auf der B55 sind in der Nacht zu Donnerstag zwei Personen ums Leben gekommen. Ein Familienvater verlor aus bislang ungeklärter Ursache die Kontrolle über seinen Wagen und fuhr das Fahrzeug gegen einen Baum. Seine Frau, die auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, kam bei dem Aufprall sofort ums Leben. Auch die einzige Tochter des Paars erlag ihren Verletzungen noch am Unfallort. Wie durch ein Wunder überlebte der Fahrer selbst den Unfall. Er war beim Eintreffen der Rettungskräfte allerdings nicht bei Bewusstsein und wurde umgehend in ein örtliches Krankenhaus gebracht. Er zog sich schwere Kopfverletzungen zu und schwebt noch in Lebensgefahr.

 

Hallo alf konen,

und herzlich willkommen auf kg.de.

Dein Erstling hier hat mich recht unschlüssig zurückgelassen.
Teilweise beschreibst du für meinen Geschmack den Zustand der zugemüllten Wohnung sehr anschaulich; es ist oft ein wenig Klischee, aber mE noch ertragbar.
Was Tina betrifft, so hast du mich aufs Glatteis geführt; ich hatte wirklich eine Frau erwartet. Das mag ein Pluspunkt sein, denn viele Pointengeschichten tragen ihre Pointe quasi auf einem silbernen Tablett vor sich her, was beim Lesen dann noch weniger Spaß macht.
Allerdings ist die große Gefahr bei Pointengeschichten, dass der Leser sich etwas verarscht vorkommt, und deswegen sind sie so verdammt schwierig zu schreiben. Klassischerweise gehören sie in die Humorabteilung, aber nicht zwangsläufig. Ein meiner Meinung nach vollkommen gelungenes Beispiel findest du hier in Horror .

Wie verhält es sich also mit der Pointe in deiner Geschichte?
Am Ende wird durch den Zeitungsartikel deutlich, dass du offenbar eben jenen unglücklichen Familienvater zeigst, der nach dem Unfall in dieses persönliche Jammertal geraten ist und nur noch von Tina begleitet wird. Diese Pointe unterstreicht seine Einsamkeit zwar ganz gut, dennoch wirkt sie für meine Begriffe nicht ganz rund.

In einem Bereich, in dem es nicht auf ein wie auch immer geartetes Lachen am Ende ankommt, sollte die Pointe einen - meiner Meinung nach - betroffen machen oder eine Gänsehaut über den Rücken laufen lassen.

Beide Reaktionen stellen sich bei mir nicht ein, eher gehen mir unwillkürlich die Mundwinkel nach unten, weil ich mich frage: War es nötig, mich aufs Glatteis zu führen?

Und zweitens holpere ich beim Lesen, weil ich einen Moment brauche, um festzustellen, dass es sich um den Artikel handelt, der im Text erwähnt wird, und dass das darin Berichtete zeitlich vor der erzählten Handlung der Geschichte liegt.

Das heißt jetzt nicht, dass ich beim Lesen auch nicht mal nachdenken will, verwirrend ist es aber schon. Ich finde Zeitungsartikel am Ende einer Geschichte immer sehr hilflos, es gibt andere Möglichkeiten, das subtil im Text einzubauen, sodass der Leser recht deutlich erahnen kann, was geschehen ist - ein viel angenehmeres Mitdenken beim Lesen. Einen guten Ansatz hast du hier schon, als er das Bild zertrümmert, wobei das momentan auch verwirrend ist; beim ersten Lesen dachte ich, er sagt das "mein Schatz" zu Tina, und fand am Ende dann, das sei eine Unstimmigkeit. Aus diesen Gründen nachlesen zu müssen ist auch nicht so toll.

Fazit: Für mich bleibt die Geschichte etwas mager. Es ist mehr ein Ausschnitt aus dem Leben dieses namenlosen Mannes, den du durch eine schleppende Pointe abrundest. Daraus könntest (und solltest) du mehr machen. Es spricht meiner Meinung nach gar nichts dagegen, wenn du das Rätsel um Tina nicht gleich zu Anfang lüftest; dann diese Pointe aber bitte nicht als Finale und bitte nicht derart breittreten. Ab "dein Napf ist leer" hat der Leser begriffen, worum es geht.

Mein Vorschlag (den du natürlich nicht annehmen muss ;)) lautet von daher, die Geschichte nicht als Pointengeschichte zu konzipieren. Wirf ihr ein bisschen mehr Fleisch auf die Rippen. Es könnte der Jahrestag des Unfalls sein, am Ende läuft Tina weg, oder was auch immer. Die Informationen aus dem Zeitungsartikel würde ich über den Text hinweg einstreuen, das könnte ihn meiner Meinung nach weitaus stärker machen; mit der Bild-Szene, die du schon drin hast, aber auch mit anderen Momenten, kurzen Flashbacks, was auch immer.

Hilfreich wäre es dabei, wenn du dir stärker vor Augen führst, wer dieser Mann ist, wie sein Leben früher aussah. Viele Autoren glauben, dass sich der Leser mit einer möglichst leeren Schablone am besten identifizieren kann. Das geht in den meisten Fällen nicht auf. Es ist menschlich, dass ich eher mit jemandem mitfühle, der ausgearbeitete Charakteristika hat. Wenn du (das ist jetzt wirklich nur ein Beispiel) einen passionierten Kaninchenzüchter aus deinem Prot machst, oder ihn die Kanuausflüge mit seiner Familie vermissen lässt, dann werden sich nicht nur die Kaninchenzüchter und Kanufahrer unter deinen Leser mit ihm identifizieren, sondern du wirst im Gegenteil einen höheren Grad an Mitgefühl vonseiten deiner Leser erreichen, weil sich alle mit ihm identifizieren, die eine Leidenschaft haben oder ihr Familienleben zu schätzen wissen.

Bin gespannt, was du daraus machst.

Liebe Grüße,

Malinche

 

Hallo alf konen!

Nachdenklicher Ansatz, was aus einem Mann werden kann, der Frau und Kind (vllt selbstverschuldet) bei einem Autounfall verloren hat. Und selbst überlebte.

Diese Situation kommt mir in dem Text zu kurz bzw. gar nicht rüber. Alles, was ich erlesen kann ist, dass sich der Mann in seinem Suff selbstbemitleidet. Allerdings schließe ich daraus, dass alle ihn verlassen haben, weil er säuft und nicht, dass es einen Anlass für das Saufen gab. Insofern läuft die Geschichte in die falsche Richtung.
Die Verlade mit Tina ist für mich in Ordnung, sie schildert sehr gut seine Situation.

Gruß

 

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