Tina
„Weißt du, Tina… Ich hab' nachgedacht. Glaube, ich hab' dir noch nie gesagt, wie viel du mir bedeutest.“
Eigentlich hatte er gar nicht vorgehabt, die Worte auszusprechen. Doch dann waren sie schon herausgesprudelt, noch bevor er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte.
„Obwohl du die letzte bist, die mir geblieben ist.“
Sie hatte auf ihn gewartet und beobachtete ihn nun dabei, wie er wankend in die winzige Wohnung trat. Den üblen Geruch, dessen Quelle man unter all den Bier- und Wodkaflaschen und dem restlichen Verpackungsmüll längst nicht mehr genau verorten konnte, nahm er mittlerweile kaum noch wahr. Nur kurz, in den seltenen Momenten wie diesen, wenn er nach Hause kam. Es war ihm egal.
Ohne sie anzusehen, fuhr er fort, während er die Einkäufe in den Schrank räumte. Die Schranktür, die nur noch in einer Angel hing, quietschte bedrohlich.
„Seit fast sieben Jahren hältst' mir jetzt die Treue.“
Sie wandte ihren Blick nicht von ihm ab. Er fuhr mit der Hand über die Narben an seinem Kopf und den Armen. Tina hatte sich diese Bewegung schon eingeprägt, denn er hatte sie verinnerlicht. Vermutlich machte er sie inzwischen unbewusst. Ein knirschendes Geräusch erklang, als er mit seinen abgenutzten Sandalen in ein paar alte Chipskrümel trat.
Sein Blick fiel auf die Kommode. Ihre Schubladen waren leer, aber sie war das Einzige in der Wohnung, das einen gepflegten Eindruck machte. Penibel wischte er jeden Tag mit einem Lappen über ihre Ablagefläche und duldete nicht ein einziges Staubkorn. Zwei Bilder standen dort in ihren Rahmen und daneben lag ein alter Zeitungsausschnitt.
„Bleibst bei mir, obwohl's mir sch-, scheiße geht.“ Er untermalte seine Aussage mit einer ausholenden Armbewegung und stieß dabei eins von den Bildern von der alten Kommode. Lange Risse bildeten sich auf der Glasfläche.
„Ver-damm-te… SCHEIßE!!!“ Beim letzten Wort beförderte er mit einem wütenden Tritt eine halb geleerte Flasche quer durch den Raum, die zwar den Aufprall an der Wand unbeschadet überstand, aber einen nicht geringen Teil ihres Inhalts auf dem Teppichboden verteilte.
Tina blieb unbeeindruckt.
Nachdem er sich beruhigte hatte, bückte er sich nach dem Bild. „Es… tut mir Leid, mein Schatz“, flüsterte er. „Ich besorge dir einen neuen Rahmen. Einen viel schöneren.“ Und an Tina gewandt fügte er hinzu: „Lass gut sein, ich mach' das gleich weg.“ Das hatte er nicht wirklich vor. Der Fleck würde nicht groß auffallen, zumal der Geruch von Alkohol nicht der schlimmste war, der von den zahlreichen nassen Stellen auf dem Boden ausging.
Als er ihr jetzt endlich einen Blick zuwarf, stellte er ein weiteres Mal fest, dass sie ziemlich zugelegt hatte. Sie war äußerst schlank gewesen, als er sie das erste Mal gesehen hatte, beinahe ausgemergelt. Aber das war einmal. Mittlerweile war sie richtig fett geworden. Das hatte er schon oft zu ihr gesagt.
Natürlich antwortete sie auch diesmal nicht. Stattdessen gab sie einen vorwurfsvollen Laut von sich.
„Dein Napf is' ja schon wieder leer. Dabei hatt'ste doch schon 'ne doppelte Portion heut. Na, wart' kurz, bin gleich zurück.“
Tina wälzte sich träge auf dem Haufen zerrissener Plastiktüten und alter Zeitungen, die ihren Schlafplatz bildeten.
***
JÜLICH (AP). Bei einem Verkehrsunfall auf der B55 sind in der Nacht zu Donnerstag zwei Personen ums Leben gekommen. Ein Familienvater verlor aus bislang ungeklärter Ursache die Kontrolle über seinen Wagen und fuhr das Fahrzeug gegen einen Baum. Seine Frau, die auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, kam bei dem Aufprall sofort ums Leben. Auch die einzige Tochter des Paars erlag ihren Verletzungen noch am Unfallort. Wie durch ein Wunder überlebte der Fahrer selbst den Unfall. Er war beim Eintreffen der Rettungskräfte allerdings nicht bei Bewusstsein und wurde umgehend in ein örtliches Krankenhaus gebracht. Er zog sich schwere Kopfverletzungen zu und schwebt noch in Lebensgefahr.