- Beitritt
- 15.07.2004
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Tinkerbell
Ich kann Tinkerbell schmatzen hören. Kann hören, wie ihre wundervollen Kiefer aufeinander schlagen. Wie ihre kleinen, spitzen Zähnchen Stück für Stück das Fleisch herausreißen.
Und ich weiß, dass du es ebenfalls hören kannst, Marie.
Oh ja, du kannst es sogar fühlen. Tief in deinem Inneren. Ihre Bisse. Ihre Zähne. Meine wunderschöne Tinkerbell. Ich sehe es an deinem schmerzverzerrten Gesicht. Dem blanken Entsetzen, das sich in deinen Augen widerspiegelt. Und an dem stummen Schrei, der deine Lippen niemals verlassen wird. Tinkerbell hat sich längst an deinen Stimmbändern gütlich getan. Sie ist eine richtige Feinschmeckerin, meine Kleine.
Glaub mir, Mariechen, ich weiß, dass es wehtut. Es tut mir leid für dich. Wirklich ungemein leid. Aber der Schmerz wird bald vorübergehen, das verspreche ich dir.
In spätestens einer Stunde ist alles vorbei.
Du hast nie verstanden, Marie, dass ich Tinkerbell lieben kann. Nie begriffen, wie sehr ich Tinkerbell liebe. Mehr als ich dich jemals geliebt habe. Vielleicht hasst Du Tinkerbell deshalb so sehr?
Du warst nie in der Lage, ihre wirkliche Schönheit zu erkennen. Für dich ist Tinkerbell nichts weiter als ein grässlicher Bandwurm. Von mir eines Tages unter Schmerzen auf die Welt gebracht. Ein Monster, das es nie geben sollte. Das es gar nicht geben darf.
Aber es gibt sie, Marie. Tinkerbell ist real. Und keiner spürt das besser als du gerade.
Ich glaube nicht, dass Tinkerbell ein Bandwurm ist. Sie mag wie einer aussehen, sich wie einer bewegen. Aber das ist nur ihre irdische Gestalt. Ich kann sie mit anderen Augen sehen. Für mich ist sie eine Fee, eine Elfe, ein Engel. Mein Engel.
Ich weiß nur zu gut, was Tinkerbell mir hätte antun können, als sie so nah an meinem Herzen schlummerte. Aber sie hat mich verschont. Weil meine Seele rein ist. Weil ich lieben kann.
Oh ja! Ich liebe dich, Tinkerbell.
Ich habe dir nie erzählt, Marie, was Tinkerbell mit dem Arzt gemacht hat, zu dem ich nach ihrer Geburt gegangen bin. Voller Panik und Angst. Ekel. Böser Gefühle.
Doch als sie ihn vor meinen Augen fraß, erfüllte mich eine nie gekannte Ruhe. Ungeahnter Frieden. Mich hat sie nicht getötet. Tinkerbell war in mir, hat in mir gehaust. Es wäre so leicht für sie gewesen. Aber sie hat mich nicht getötet. Nach ihrem Mahl kam sie zu mir zurück. Sanft wie ein Kätzchen. Ja wirklich, Marie. Sie kommt nach jedem Mahl zu mir zurück.
Ich weiß, wie verrückt das klingt. Aber ich glaube, sie liebt mich auch.
Noch frisst sie. Doch bald werden deine Augen starr sein, Marie. Dann wird das Schmatzen verstummen und ihr Hunger gestillt sein. Deine Bauchdecke wird sich ein wenig wölben, wenn sie in dir nach einem Ausgang sucht.
Das ist für mich das Zeichen, mich bereit zu machen. Mich demütig hinzuknien und meinen Mund zu öffnen. Die Tür zu ihrem Nest. Ihrem Heim. Dann wird Tinkerbell kommen und in mich hineinschlüpfen. Meine Kleine. Mein Schätzchen. Um sich auszuruhen. Bis zur nächsten Jagd. Bis morgen vielleicht? Oder übermorgen? Ich weiß es doch auch nicht, Marie.
Weine nicht. Es ist bald vorbei.
Das verspreche ich dir, Marie.
*Thema des Monats April*