Mitglied
- Beitritt
- 10.09.2016
- Beiträge
- 901
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 20
- Anmerkungen zum Text
Hab ein Angebot bekommen, einen kurzen Text etwa 5000 Zeichen zu veröffentlichen. Viel in dem Format habe ich nicht. Deswegen dachte ich spontan an den "Zocker"-Text, aber irgendwie wollte ich noch eine Alternative haben. Et voilà!
Der Text ist (Stand: 1 Oktober '21) vollständig überarbeitet.
Hab den Text jetzt wieder auf die alte Version zurückgesetzt. Mit kleinen Neuerungen nur (Stand: 3. Oktober '21).
Tod den Schafen
Dass Peter-Joseph Lenné den ‚Flora‘ genannten Kölner botanischen Garten einst in stramm kampfeslustigem Preußengeist errichtet hatte, wusste man. Die Schaugewächshäuser hingegen waren neu und doch ganz dem „gemischten deutschen Stil“ der achtzehnhundertsechziger und -siebziger Jahre nachempfunden, wie ein Praktikant, Absolvent eines Freiwilligenjahres oder dergleichen Besuchern stolz und ungefragt zu erklären wusste. Das Bouquet setzte sich zusammen aus Sukkulenten jeder Form, Farbe und Größe. Ein schmaler, von dreieckigen Pflastersteinchen gesäumter und mit weißem, glatt gestrichenen Sand gefüllter Pfad schlängelte sich vorbei an Kakteen, ausladenden Blütenkelchen, Palmengewächsen und Araukarien in Knallgrün und Krapprot.
All das war Tillmann verhasst und verhasst waren ihm Sebastian und Gesa Oreschko, sogenannte ‚gute‘ und vor allem einzige ‚Freunde‘, auf die man nun bereits seit über einer Viertelstunde wartete. Seine Partnerin – Tillmann wusste selbst nicht so ganz, wie es zu dieser Verbindung gekommen war – klammerte sich Kaugummi kauend und seit fünf Minuten zur Gewächshausdecke starrend an seinen Arm. Mit der Sneakerspitze versuchte Tillmann unbemerkt, die magentafarbenen Blüten einer Mammillaria zu kappen. Jawohl, die Zeit seiner kindlichen Pflanzenversessenheit konnte mit diesem, seinem achtzehnten Geburtstag offiziell für beendet erklärt werden. Scheiß auf Lenné!
Nach weiteren zehn Minuten endlich stießen Sebastian und Gesa Oreschko aus dem Palmenhaus dazu, offenbar, weil sie nach zehn Jahren Freundschaft mit Tillmann Palmen und Sukkulenten noch immer nicht voneinander unterscheiden konnten und das, obwohl einer wie Sebastian für sich beanspruchte, in den großen gesellschaftlichen und kulturellen Fragen, dem Tod, den er den ‚Schafen‘ wünschte, wortführend zu sein. Vom ‚Großen Austausch‘ redete er neuerdings gern, von Renaud Camus und dem ‚Schuldkult‘. „Wir sind die Saat und sie die Schafe“. Von Semmlitsch, Martin Sellner und dem Briten Collett hingegen sprach Sebastian nie oder nur selten und doch war klar wie Leberknödelsuppe, wem er all diese windschiefen Metaphern, jenen volksliedgut-deutschen Abgesang auf das in Willkommenskultur ersaufende, gute Deutschland verdankte. So durfte Tillmann sich über ein schmales Büchlein mit dem Titel ‚Ethnopluralismus‘ freuen, mit dem er freudig auf Sebastian eingedroschen hätte, wäre da nicht dieser Restfunken verachtenswürdiger Loyalität gewesen, den er sich aus einem unerfindlichen Grund selbst nicht verbieten konnte und der ihn dazu überredete, seinen Geburtstag mit ebenjenen Menschen auszuhalten. So bitter es war: Tillmann musste sich eingestehen, dass er sich ein Leben ohne Freunde schlichtweg nicht vorstellen konnte. Lieber einen Rassisten und Antisemiten und zwei für dessen Ressentiments taubstumme und sowieso gänzlich apolitische Freundinnen als jene Einsamkeit, die ihm blühte – jetzt, da er Lenné mit seinem Tritt nach der Mammillaria endgültig den Laufpass gegeben hatte.
Was Tillmann sich auch unter Denkanstrengungen nie hatte erklären können, war die bedingungslose, nahezu blinde Toleranz Sebastians gegenüber Gesa Oreschkos Wursthaaren und dem Interesse seiner Partnerin – nennen wir sie Thessa – für die geraubte Südseekunst des Rautenstrauch-Joest-Museums. Obwohl sich Letzteres ja durchaus Sebastians Motivlage zuordnen ließ. Nachdem Gesa Oreschko Tillmann ein Hörspiel von und mit Giulia Enders zugesteckt, sie die Förmlichkeiten also hinter sich gebracht hatten, gingen sie mit knirschenden Schritten voran, vorbei an Kakteenlandschaften und durch den künstlich schweren Tropendunst. Wieder einmal war es Zeit für Sebastian.
An sich konnte man das nicht einmal Gedanken nennen, eher waren es Versatzstücke, scharfkantige Klumpen aus einem nach faulen Eiern riechenden Fels geschlagen. Damit jonglierte Sebastian. „Es reicht ja schon der moderate Islamismus“ – „Houellebecq, den magst du doch, Unterwerfung.“ – „Nicht gelesen? Stell dir mal vor …“ Zehn Minuten kreisten sie durch den Kakteenpark wie eine Märklinbahn mit Lok und drei Waggons. In sich bleiben, dachte Tillmann. Aber wo war der Trafostecker?
„Nur ein Beispiel.“ Sebastian deutete auf das mexikanische Beet. „Du brauchst ein Treibhaus, sonst wächst das hier nicht. Nur künstlich eben. Wie gesagt, ich hab nichts gegen die. Aber muss sich ja nicht unbedingt vermischen. Deutschland ist kein Gewächshaus.“
Stumm liefen sie hinter ihm her. Noch immer hielt Thessa Tillmanns Arm umklammert, zerrte regelrecht daran. Gemeinsam knirschten und schwitzten und atmeten sie. Und während Sebastian noch weiter ausführte, was er meinte, über sich, Deutschland und die anderen im Allgemeinen zu wissen, fand Tillmann endlich den Trafostecker.
Mit versteckter Neugier und von der anderen Tischseite aus befragte ihn der Polizist mit dem Fleischergesicht. Warum er seinem besten Freund hinterrücks und heimtückisch einen Igelkaktus ins Gesicht gerammt habe, dem Sebastian in – so wörtlich – völliger Schmerzunempfindlichkeit (die Nadeln bohrten sich ja schließlich auch durch die eigene Hand) das Gesicht ausgekratzt, ihn in Tobsucht gebissen, beschimpft und mit einem schmalen Buch eines rechtsextremen Kleinverlages bis zur Besinnungslosigkeit verprügelt habe. „Nun“, begann Tillmann und sortierte Szene und Gefühle noch einmal in seiner vor Müdigkeit trägen Erinnerung. Er ahnte, dass es auf das Motiv ankommen würde. Letztlich kam es immer auf das Motiv an. „Ich glaube, dass mit der Freundschaft ist einfach nicht das Richtige.“