- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 21
Tod eines Kassenpatienten
Mein Bruder war am Rand des Bettes zusammengesackt. Seine verheulten Augen pressten sich auf Vaters linken Arm. Das Zimmer nahm das Halbdunkel eines wolkenverhangenen Himmels an, ganz so, wie es sich für Zimmer in solchen Momenten gehört. Ich stand am Fußende und starrte auf Vaters entspanntes Gesicht, ohne zu Weinen oder meinen Bruder zu trösten.
Einen Augenblick zuvor war ich hastig auf den Flur gerannt, um den Krankenschwestern schon wieder Bescheid zu geben, daß etwas nicht stimmt. Es war das letzte Ausatmen, welches von einem sanften Brummen der Stimmbänder begleitet war. Die Schwestern saßen versammelt im Stationsraum und besprachen die Lage. Die dienstälteste antwortete in einem vorwurfsvollen Ton, daß es gerade zwei Uhr sei und damit Zeit für die Übergabe. Ich fühlte mich wie in einen Film versetzt, der dem Betrachter etwas über Tod, Gesundheitswesen oder Hilflosigkeit des Protagonisten vermitteln will. Aber da war kein Film, nur eine Küchenuhr an der Wand, die Punkt zwei Uhr anzeigte, und so blieb ich höflich und stumm. Es gab eh nichts Großes zu sagen, hatte der leere Körper meines Vater nicht mehr zu erwarten als von Tropf und Wäsche befreit zu werden.
Natürlich war ich erst Monate danach wütend und enttäuscht. Die Trauer, die man empfindet, wenn vor wenigen Sekunden ein geliebter Mensch gestorben ist, wird nicht gerade dadurch besänftigt, daß das Krankenhauspersonal in der Stunde des Todes lieber der gewöhnlichen Arbeit nachgeht als hektisch den jungen Chefarzt anzupiepen, der, heldenhaft Stethoskop und Krankenbericht fallenlassend, ins Zimmer gespurtet wäre, den Puls gemessen und 150 Milligramm Atropin verlangt und nach zwanzigminütigen, vergeblichen Wiederbelebungsversuchen, durchgeschwitzt und mit gelockerten Krawattenknoten schwerfällig atmend ein ehrliches „Es tut mir leid. Er ist tot“ von sich gegeben hätte.
Vaters Zustand hatte sich seit der Einlieferung stetig gebessert, obwohl ihm nach der Operation noch nicht mal mehr zwei Tage zu leben gegeben worden waren. Er war stark dehydriert, der Krebs hatte ihm den Dünndarm abgeschnürt. In den ersten beiden Tage auf der Intensivstation appellierte der Arzt immer wieder an unser Gewissen, auf Wiederbelebungsmaßnahmen zu verzichten. Von meinem Vater gab es weder eine Patientenverfügung noch einen letzten Willen, doch entschied er sich, sehr gut auf Nährstofflösung und angstunterdrückende Medikamente zu reagieren und dem Tode vorerst von der Schippe zu springen. Die Ärzte waren sehr überrascht.
Vater hatte sich in den folgenden zwei Wochen, die er bis zu seinem Tod auf der Inneren verbrachte, vor allem dadurch einen Ruf verschafft, daß er sich den außen liegenden Beutel, der mit seinem künstlichen Darmausgang verbunden war, vom Körper riß, sobald sich die Möglichkeit dazu ergab. „Durchgangsdemenz“, sagte der Arzt, und so wurde mein Vater angebunden. Eine Schwester beteuerte stets, daß sie lieber fünfmal täglich die Wäsche wechseln würde als einem alten Mann die Hände festzubinden. Die anderen hielten sich da eher ruhig. Haldol, ein bewährtes Mittel gegen Wahn und Sinnestäuschungen, erleichterte den Schwestern die Arbeit erheblich. Mein Vater bekam 40 mg über den Tag verteilt, und abends war er zumeist wieder so klar, daß er sich, von uns befreit, nicht mehr die ganze Apparatur aus dem Körper zog. Er lag nur still da und wußte um seinen Zustand. Ich erzählte ihm vom Hospiz, wo bereits ein Zimmer auf ihn wartete. Das Gebäude grenzte an einen Kindergarten, und direkt neben dem großen Saal, in dem sich die alten Menschen dreimal täglich zum Essen versammelten, gab es ein großes Fenster, durch das man in den Pausen die spielenden Kleinkinder beobachten konnte. Alte und Kinder, beginnendes Leben und Lebensabend Tür an Tür. Es fehlte nur noch ein Warnschild: „Füttern verboten!“ Wir stellten uns die kleinen Omas vor, die nun statt der dankbaren Tauben auf dem Münsterplatz die kleinen Mäuschen mit Selbstgebackenem vollstopften. Immerhin, es blieb ihm erspart.
Am Tag der Beerdigung strahlte die Sonne, ganz so, als hätte sie eine Verabredung mit den Wolken getroffen, denn sowohl die Tage zuvor als auch den gesamten Oktober über war das Wetter trist und farblos. Ich schwitzte sehr stark unter dem schwarzen Jackett. Mit dem Leiter des Friedhofs führte mein Bruder ein seltsames Gespräch über die Berufsgruppen, die von Friedhöfen im allgemeinen profitieren. Steinmetze, Floristen, Schreiner, Blumenverkäuferinnen. Ich vermißte weinende alte Frauen, die von guten Schwiegersöhnen gestützt wurden, alte Freunde, die mir milde lächelnd auf die Schulter klopften. Es fehlte die Gemeinde, die eine Beerdigung auf einem großen Friedhof sinnvoller hätte erscheinen lassen. Meine leicht martialische Idee war es ursprünglich, nach Magdeburg zu fahren und die Asche in die Elbe zu streuen. Vater war als Siebenjähriger um ein Haar in der Elbe ertrunken, nun sollte sie das erhalten, was ihr zusteht.
Die Urne wurde von zwei uniformierten Angestellten gemessenen Schrittes zum Grab getragen. Sie sahen aus wie Busfahrer in Festtagsmontur. Wir folgten ihnen, bemüht, die ungewohnte Langsamkeit einzuhalten. Ich blickte wie versessen auf ihre schwarzen Schuhe und die zwischen den Beinen der Träger hin- und herbaumelnde Urne. Wir trugen jeder eine rote Rose mit sich, die wir, am Grab angelangt, dem in die Erde versunkenen Behältnis mit auf den Weg gaben. Ich küßte meine Rose, die folgerichtig nicht direkt ins Loch fiel, sondern quer auf den Holzstützen liegenblieb. Ich kniete nieder, um den Akt zu vollenden. Die beiden Träger stellten sich gerade auf, als würden sie am Rande eines roten Teppichs stehen, um auf das Vorbeigehen eines bedeutenden Staatsmannes zu warten. Wir verließen des Grab, und während mein Bruder von dannen zog, drehte ich mich um und nickte den beiden zu, um Dankbarkeit und noch einen schönen Tag zu bedeuten. Als wir weit genug entfernt waren, begannen die beiden, das Grab mit Erde zu bedecken.