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Tod eines Phantoms

Seniors
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19.03.2003
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Tod eines Phantoms

Ich sitze hier und warte. Es ist still. Dieser Moment ist unendlich. Dehnt sich übernatürlich. Wie lange schon starren sie mich an? Ich kann ihre Blicke nicht ertragen, senke den meinen.

Ich wünschte, ich könnte am Rad der Zeit drehen.

Sehen, was ich nicht mehr erinnere oder was ich mir in meinem Kopf schöngefärbt habe. Was ist denn schon Wahrheit? Die Wirklichkeit, in der ich mich befinde, ist sie real? Ich weiß nicht, ob meine Erinnerungen wahr sind, aber sie wirken, noch heute.
Meine Fantasie hilft mir auf die Sprünge. So träume ich viel, ohne zu erkennen, weiß nur: es ist nicht nur ein Traum. Es sind die Schatten meiner Erinnerung, die sich erheben. Ein kleiner Vogel flattert in seinem Käfig. Er springt hin und her, immer schneller schlägt er seine Flügel, stößt gegen Käfigwände. Bis er erkennt: Die Freiheit bleibt ein Traum. Die Grenze seines Lebens besteht aus vielen parallelen Stangen, eng nebeneinander liegend, links und rechts, über und unter ihm. Sie blinken schön, bieten Sicherheit. Aber sie bremsen auch seinen Flug und nehmen ihm die Möglichkeit, seine Grenzen selbst zu setzen.
Im Traum spüre ich die Enge des Käfigs, als mein Herz immer schneller schlägt. Sehe nicht den Käfig, obwohl er doch wirklich ist. Auch der Vogel begreift ihn nicht. Erkennt nur: Alles ist sperrig. Seine Wahrnehmung verengt sich, ist wie ein Tunnel, der sich nicht nur optisch am Ende verjüngt.
Ich will aufwachen auf, weil ich seinen nahen Tod spüre. Denke, dass ich sterben werde.

Die Nacht ist blau, erfasse ich sofort, als ich endlich erwache und die Schlinge um den Hals bemerke. Ich bin starr, liege auf dem Rücken. Wenn ich es wage, mich zu bewegen, wird der Druck auf meinem Kehlkopf stärker. Ich röchele, möchte nach Luft schnappen, aber etwas, wie ein Knebel, verschließt mir den Mund. Es ist Vollmond. Sein Licht zeichnet ein Gespenst, das am Fußende meines Bettes steht. Ich höre, wie es atmet, wundere mich noch, dass Geister atmen können. Schemenhaft nehme ich das Messer wahr. Es glänzt im Mondenschein. Die Klinge ist dünn. Liebkost meine Haut von der Brust abwärts bis zum Bauch. Ein Phantom ist über mir. Ich kann nicht sagen, ob das, was mit mir geschieht, wirklich ist. Sehe nur den Mond, wie ein Zerrbild im Spiegel. Sein bleiches Antlitz ist ausdruckslos. Aber in mir brodelt eine Hitze, die danach lechzt alles zu versengen.

Ich schreie. Erkenne. Nichts als die Wahrheit. Stoße einen leblosen Körper von mir. Meine Hand klebt. So wie die Klinge. Vom Blut.

Ich sitze hier und warte. Erwarte den Richter und die Schöffen. Reibe immer wieder meine Hände am Rock. Mein Anwalt nickt mir zu. Will er mir Zuversicht bedeuten? Ich schließe die Augen. Sehe den Vogel, wie sein Genick bricht, als er im Flug gegen die Käfigwand prallt.

 

Ich habe diese Geschichte auf meiner Festplatte gefunden. Sie stammt aus dem Jahr 2005.

 

Hallo Goldene Dame,

habe mich letztendlich doch entschlossen, dir einen kleinen Kommentar zu schicken. Woran ich meisten knabbere, ist das am Ende für mich das etwas unklare Geschehen. Den Schritt vom gefesselt daliegen zu jemand abstechen mache ich irgendwie nicht. Aber schieben wir das einmal beiseite.

Der Rest der Miniatur scheint den Rahmen einer Gerichtsverhandlung zu haben (auch sowas habe ich irgendwo schon mehrfach gelesen). Schneidet man den auch noch weg, so bleiben zwei Teile.

Ich weiß nicht, was mich mehr ängstigt: Die Zeit vergeht als solche von mir unbemerkt, oder sie vergeht gleichförmig unendlich und ohne mein Zutun.

Ich wünschte, ich könnte am Rad der Zeit drehen.


Der Erste ist selbstreflektiv und tiefsinnig.

Der zweite ist getrieben und handlungsbehaftet:

Die Klinge ist dünn. Liebkost meine Haut von der Brust abwärts bis zum Bauch.

Das Ganze ist aus der Ich-Perspektive erzählt, was meine persönliche Allergie gegen in dieser Perspektive formulierten Tiefsinn auf den Plan ruft. (Liegt wohl daran, dass euaf meiner eigenen Festplatte noch Megabyteweise derartiges herumliegt)
Und als es dann "abgeht" wechselst du in einen Sprachstil, der mir für meinen Geschmack zu abgehackt, zu unlyrisch wird.

So bleibt als Gesamteindruck überig, dass ich durchaus Respekt vor deinem Werk habe, weil es alles andere als schlecht ist, es aber nicht wirklich mit Gefallen bei mir Punkten kann.

LG,

N

 

Hallo Nicole,

Der Grund warum die Geschichte auf der Festplatte schmorte, war jener, dass ich mich nicht getraut habe diese Geschichte zu veröffentlichen. Letztendlich habe ich sie sogar vergessen. Bis auf einige Formulierungen habe ich sie nicht wieder hervorgeholt. Da ich mir einen neuen PC gegönnt habe, wollte ich meine "Leichen" mal durchlesen. Irgendwie hat mich diese Geschichte wieder fasziniert und gerade das kryptische an ihr mag ich gerne.
Ambivalenzen sind mein Steckenpferd.

Den Schritt vom gefesselt daliegen zu jemand abstechen mache ich irgendwie nicht. Aber schieben wir das einmal beiseite.

Die Protagonistin hat eingangs erwähnt, dass ihre Erinnerungen unwirklich sein könnten.
Das Dilemma ist, dass sie (einst) vergewaltigt wurde und dass sie (später)einen daran unschuldigen Menschen getötet hat.
Mein Ziel war es eben diese Vermischung emotional rüberzubringen.
Danke fürs Lesen und deine Gedanken
Goldene Dame

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Goldene Dame,

die Gerichtsverhandlung als Rahmen hat mir gut gefallen, auch die indirekte Schilderung der psychischen Situation der Frau, die Verdrängung, die ihr Schwierigkeiten macht zwischen Wahrheit und falscher Erinnerung zu unterscheiden.

Weniger gut (da zu bekannt) finde ich das Käfigmotiv, das Vergewaltigungs/Mord-Szenario. Wer unschuldig wen ermordet hat, wird nicht deutlich.


„Ich weiß nicht, was mich mehr ängstigt: Die Zeit vergeht als solche von mir unbemerkt, oder sie vergeht gleichförmig unendlich und ohne mein Zutun.“

- „als solche“ halte ich für überflüssig.

Sehe da keinen großen Ängstigungspotenzialunterschied (:D) –

„Die Zeit vergeht als solche von mir unbemerkt“

Die Zeit „vergeht gleichförmig unendlich und ohne mein Zutun“

(ohne Zutun vergeht sie auch im ersten Fall).


"Ich will aufwachen auf, weil ich seinen nahen Tod spüre. Denke, dass ich sterben werde."

- ohne "auf". Oder: aufwachen - `auf´, weil


L G,

tschüß Woltochinon

 

Hallo Woltochinon,

Weniger gut (da zu bekannt) finde ich das Käfigmotiv, das Vergewaltigungs/Mord-Szenario. Wer unschuldig wen ermordet hat, wird nicht deutlich.

Die Geschichte ist zwei Jahre alt und stammt somit aus einer Zeit, in der ich ausgelutschte Metaphern noch nicht identifieziren konnte.

Das Mord oder Vergewaltigungsszenario war ein Versuch mit Worten zu spielen, um die diffuse Wahrnehmung der Prot zu erzählen. Stilelemente habe ich zu der Zeit eher intuitiv genutzt.

Sehe da keinen großen Ängstigungspotenzialunterschied

Ein paar Darlings ohne Kontext :D hast du natürlich gleich herausgefiltert, du Schuft. ;)

Danke fürs Lesen und Augen öffnen :D

Lieben Gruß
Goldene Dame

 

Hallo Goldene Dame,

man merkt, dass die Geschichte älter ist und man merkt ihr an, wohin dein Weg wollte, als du sie geschrieben hast.
Irgendwie strebst du nach lyrischer Prosa, nach Verdichtung, um Atmosphäre zu erreichen.
Und hier schwafelst du am Anfang abstrakte Überlegungen über die Zeit, so als ob das erzählerische Ich lieber noch mal einen Bogen nähme, bevor es zum Punkt kommt, als zögerte es noch.
Und auch danach findet ein abschweifender Gedankengang über Freiheit und Käfiggitter statt. Bloß nicht zum Kern kommen, bloß Erinnerungen lyrisch verkleistern.
Das kann man so tun, deshalb werde ich es nicht kritisieren. In diesem Fall passt es sogar, weil Opfer mit Traumata zum Teil so umgehen vor lauter Angst, man könnte sie verstehen.
Und doch reizen mich solche Texte bis aufs Blut, sie machen mich in ihrer Verklärung wütend auf den Autor, nicht auf den Inhalt oder das Geschehen. Ich empfinde sie immer als Prahltexte, seht her, wie schön ich formulieren kann. Es muss zwar nicht zweckdienlich sein, aber es liest sich doch toll oder?
Und irgendwann schreibt man eine Geschichte über Inzest oder Missbrauch und alle heulen nur wegen der romantischen Sprache und der schönen Bilder.

Ganz sicher werde ich mit meinem Kommentar dem Text nicht gerecht, ganz sicher beinhaltet er mehr als Eitelkeit, ich merke nur, dass die Form mir die Lust nimmt, mich damit überhaupt auseinanderzusetzen.

Aber es gibt ja genügend Menschen hier, die auf solche Texte stehen. ;)

Ich höre, wie es atmet,
wie denn? Ich höre es atmen
Aber in mir brodelt eine Hitze, die danach lechzt alles zu versengen.
"eine" streichen, können ja nicht zwei Hitzen sein.
Ich verbiete mir das zu fühlen
mir, das
Sehe den Vogel, wie sein Genick bricht, als er im Flug gegen die Käfigwand prallt.
Auch atmosphärisch fände ich eine Formulierung wie "sehe den Vogel, sehe sein Genick brechen, als er ..." schöner.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Goldene Dame,

ich habe deine Geschichte zweimal gelesen, das zweite Mal, nachdem ich deine Erklärung dazu gelesen habe und erst da habe ich den Text verstanden.
Das Bild vom Vogel im Käfig ist in der Tat als Metapher abgelutscht, dennoch beschreibst du hier sehr schön. Allerdings war dies der einzige Teil, den ich beim ersten Lesen nachvollziehen konnte. Zum Schluß habe ich auch verstanden, dass es um einen Mord geht, aber den Bogen konnte ich nicht nachvollziehen.

Bei mir hat die Geschichte leider nicht funktioniert.
Aber dafür haben das schon andere Geschichten von dir und insofern muß ich dir weiß-Gott-nicht sagen "dran bleiben" :-)

LG
Katinka

 

Hallo sim
danke fürs Lesen und Kommentieren dieser Geschichte. Ich habe mich darüber gewundert, dass du sie überhaupt liest ...

Jedenfalls habe ich Anfang 2005 nicht gewusst, welchen Pfad ich schriftstellerisch nehmen sollte. Auch heute weiß ich es nicht. Daher schreibe ich auch nicht mehr soviel. Dem einzigen Pfad, dem ich treu geblieben bin, ist die gefühlvolle Schilderung.

Und doch reizen mich solche Texte bis aufs Blut, sie machen mich in ihrer Verklärung wütend auf den Autor, nicht auf den Inhalt oder das Geschehen. Ich empfinde sie immer als Prahltexte, seht her, wie schön ich formulieren kann. Es muss zwar nicht zweckdienlich sein, aber es liest sich doch toll oder?
Und irgendwann schreibt man eine Geschichte über Inzest oder Missbrauch und alle heulen nur wegen der romantischen Sprache und der schönen Bilder.

Als ich diese Geschichte schrieb, boomten die Missbrauchsstorys. Ich habe sie nicht gepostet, weil ich auch sauer war, dass sich Autoren der Betroffenheitsprosa bedient haben, ohne auch nur einen Schimmer davon zu haben wie sich ein Opfer fühlt.
Daher habe ich einen authentischen Ansatz versucht, den du auch gesehen hast.

Das kann man so tun, deshalb werde ich es nicht kritisieren. In diesem Fall passt es sogar, weil Opfer mit Traumata zum Teil so umgehen vor lauter Angst, man könnte sie verstehen.

Inwieweit Traumata als Thema ausgeschlachtet werden können, oder auch subtil nur angedeutet werden, ist eine Entscheidung, die jeder Autor treffen muss. Ich denke, dass ein Ich-Erzähler sein Trauma nicht unverblümt zur Sprache bringt, solange ihm das Trauma noch nachhängt. Schließlich bewertet ein betroffener Ich-Erzähler das Geschehen anderes als, ein Außenstehender, der beobachtet. Wenn also die Figur für den Beobachter (Leser) transparent sein soll, muss der innere Konflikt irgendwie erfasst werden können.

Die lyrische Verklärung, wie du es nennst, die dich sauer macht, ist für den Ich- Erzähler innere Protektion gegen das eigene Schuldgefühl. Jedenfalls sollte es so funktionieren.:(

Vielleicht macht es dich auch sauer, dass der Ich-Erzähler ängstlich ist?

Auf alle Fälle habe ich diese Geschichte nicht geschrieben, um mit Formulierungen zu prahlen. Dafür sind sie nicht gut genug ;)

Im übrigen gehen deine Textanmerkungen auch in diese Richtung. Das wie, die eine Hitze gehören dazu auch wenn nüchtern betrachtet, mit Sprache geschlampt wird. Wenn aber die "Verfassung" der Figur, ihr Mangel eigene Gefühle zu reflektieren aufgezeigt werden soll, war es mein Mittel zur Darstellung. Wahrscheinlich, würde ich es heute anders schreiben. ;)


Hallo Kathinka

Bei mir hat die Geschichte leider nicht funktioniert.
Aber dafür haben das schon andere Geschichten von dir und insofern muß ich dir weiß-Gott-nicht sagen "dran bleiben"

Ich habe diesen Effekt auch gehabt, als ich die Geschichte nach zwei Jahren wieder gelesen habe.
Aber irgendwann wirkte sie bei mir nach ...

Danke fürs Lesen und Kommentieren


LG
GOldene Dame

 

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