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Tod eines Phantoms
Ich sitze hier und warte. Es ist still. Dieser Moment ist unendlich. Dehnt sich übernatürlich. Wie lange schon starren sie mich an? Ich kann ihre Blicke nicht ertragen, senke den meinen.
Ich wünschte, ich könnte am Rad der Zeit drehen.
Sehen, was ich nicht mehr erinnere oder was ich mir in meinem Kopf schöngefärbt habe. Was ist denn schon Wahrheit? Die Wirklichkeit, in der ich mich befinde, ist sie real? Ich weiß nicht, ob meine Erinnerungen wahr sind, aber sie wirken, noch heute.
Meine Fantasie hilft mir auf die Sprünge. So träume ich viel, ohne zu erkennen, weiß nur: es ist nicht nur ein Traum. Es sind die Schatten meiner Erinnerung, die sich erheben. Ein kleiner Vogel flattert in seinem Käfig. Er springt hin und her, immer schneller schlägt er seine Flügel, stößt gegen Käfigwände. Bis er erkennt: Die Freiheit bleibt ein Traum. Die Grenze seines Lebens besteht aus vielen parallelen Stangen, eng nebeneinander liegend, links und rechts, über und unter ihm. Sie blinken schön, bieten Sicherheit. Aber sie bremsen auch seinen Flug und nehmen ihm die Möglichkeit, seine Grenzen selbst zu setzen.
Im Traum spüre ich die Enge des Käfigs, als mein Herz immer schneller schlägt. Sehe nicht den Käfig, obwohl er doch wirklich ist. Auch der Vogel begreift ihn nicht. Erkennt nur: Alles ist sperrig. Seine Wahrnehmung verengt sich, ist wie ein Tunnel, der sich nicht nur optisch am Ende verjüngt.
Ich will aufwachen auf, weil ich seinen nahen Tod spüre. Denke, dass ich sterben werde.
Die Nacht ist blau, erfasse ich sofort, als ich endlich erwache und die Schlinge um den Hals bemerke. Ich bin starr, liege auf dem Rücken. Wenn ich es wage, mich zu bewegen, wird der Druck auf meinem Kehlkopf stärker. Ich röchele, möchte nach Luft schnappen, aber etwas, wie ein Knebel, verschließt mir den Mund. Es ist Vollmond. Sein Licht zeichnet ein Gespenst, das am Fußende meines Bettes steht. Ich höre, wie es atmet, wundere mich noch, dass Geister atmen können. Schemenhaft nehme ich das Messer wahr. Es glänzt im Mondenschein. Die Klinge ist dünn. Liebkost meine Haut von der Brust abwärts bis zum Bauch. Ein Phantom ist über mir. Ich kann nicht sagen, ob das, was mit mir geschieht, wirklich ist. Sehe nur den Mond, wie ein Zerrbild im Spiegel. Sein bleiches Antlitz ist ausdruckslos. Aber in mir brodelt eine Hitze, die danach lechzt alles zu versengen.
Ich schreie. Erkenne. Nichts als die Wahrheit. Stoße einen leblosen Körper von mir. Meine Hand klebt. So wie die Klinge. Vom Blut.
Ich sitze hier und warte. Erwarte den Richter und die Schöffen. Reibe immer wieder meine Hände am Rock. Mein Anwalt nickt mir zu. Will er mir Zuversicht bedeuten? Ich schließe die Augen. Sehe den Vogel, wie sein Genick bricht, als er im Flug gegen die Käfigwand prallt.