Tod und Auferstehung
Auch wenn es ihm schwer fiel die Augen zu öffnen, tat er es trotzdem. Der graue Tag drang durch die Gardinen, die schwer und weich wirkten. Die Strasse unterhalb des kleinen Balkons, auf dem man bestenfalls einen Liegestuhl aufstellen konnte, war schon sehr belebt. Wie ein wirres Knäuel tanzten die Leute auf dem Gehsteig hin und her. Es war ein drunter und drüber, wie man es nur in einer Grossstadt kennt.
Samuel kannte die Grossstadt. Schliesslich lebte er schon seit seiner Zeit nach dem Studium in dieser kleinen Wohnung. Er hatte sich im Verlauf der Jahre eine kleine Welt geschaffen, die er wie einen Schatz hütete. Alle seine kleinen Andenken an vergangene Reisen schauten ihm zu, als er nun aus dem Bett stieg und sich begann anzuziehen. Er liebte es nackt zu schlafen, speziell im Winter, da dann Samuel die Frische der Nacht an seinem ganzen Körper spüren konnte. Dieser war gespannt und sehnig. Samuel fühlte sich fit, wie schon lange nicht mehr. Er wäre in diesem Moment bereit gewesen, Grosses zu unternehmen. Er fühlte sich geradezu auserlesen, eine Aufgabe zu erfüllen, die die Welt nachhaltig verändern sollte. Aber wer sollte ihm eine solche Ehre zukommen lassen? Wen kümmerte es überhaupt, wie er sich nun fühlte?
Solche Fragen gingen ihm durch den Kopf, während er sich einen der Wollsocken über den linken Fuss stülpte, die er immerzu noch von seiner Mutter zu Weihnachten kriegte. Er hasste es, Socken zu Weihnachten zu bekommen. Aber was sollte seine Mutter ihm sonst schenken? Sie kannte ihren Sohn nicht mal richtig. So dachte jedenfalls Samuel. Er konnte ihr nie etwas Persönliches abgewinnen. Und umgekehrt war es genauso. Die beiden sprachen auf einer anderen Ebene und auch wenn sich zwischendurch mal ein Wort den Weg aus dem eigenen Bereich heraus fand, prallte es sofort an einer Mauer aus Sachlichkeit und Misstrauen zurück und traf den, der es losgelassen hatte.
Die Sachlichkeit war den beiden gemeinsam. Man könnte sogar behaupten, dass Samuel sie von seiner Mutter geerbt hat. Das Misstrauen entstand mehr aus einem Instinkt heraus, der Samuel selber fremd war. Er war überhaupt misstrauisch gegen alles und jeden. Es war schwierig an ihn heran zu kommen. Aber Samuel kümmerte das nicht. Vielmehr war er stolz und unnachgiebig in seinem Lechzen nach Unabhängigkeit. Misstrauen war der Grundstein zu seinem persönlichen Erfolg. Er war dauernd auf der Hut vor Leuten, die ihn versuchten zu manipulieren. Und dies geschah nicht selten. ‚Überhaupt sollten die Leute auf der Hut sein’, dachte Samuel. ‚Wieviele Menschen bilden sich überhaupt noch eine eigene Meinung über etwas, das sie in der Zeitung lesen oder von Bekannten hören? Diese Menschen sollten aufpassen und Verantwortung für das tragen, was sie sagen oder tun. Es ist ihnen nicht bewusst, mit welch kostbarem Gut sie umgehen. Überhaupt hadern viele mit der Wahrheit und verzerren sie somit zu einem Zustand der Unkenntlichkeit. Sie biegen sich die paar Wahrheiten, die uns Menschen übrig bleiben zurecht, damit sie in ihr Denkmuster passen, das sie aus lauter Unwahrheiten heraus gebildet haben.’ So dachte Samuel noch häufig über die Menschen und über seine unmittelbare Umgebung nach und machte keinen Hehl daraus, dass er sich sehr um sie sorgte.
Unterdessen war er in der Küche angelangt und strich sich gerade ein grosses Butterbrot, als es klingelte. Es war Sonja.
- Ich war unterwegs mit Markus. Habe ich dir nicht gesagt, dass ich nach dem Konzert noch auf ein Glas Wein im Kulturtempel bin?
- Geht so. Komme gerade aus dem Stollen.
Sie hatte alles, was es dazu brauchte, um diese Bedürfnisse zu befriedigen.
Die beiden setzten sich auf die Couch im Wohnzimmer, von der man über die Dächer Berlins sehen konnte. Ganz in der Ferne erspähten sie ein Flugzeug, das gerade vom Flugplatz Tegel gestartet war. An diesem Platz hatten sie auch gesessen, als er sie zum ersten Mal in seine Wohnung eingeladen hatte. Das war vor fünf Jahren.
Überhaupt war die Beziehung zwischen ihm und Sonja bedeutungsschwanger. Sie waren nicht einfach zusammen, weil sie sich die Zeit zwischen der Arbeit teilen wollten. Vielmehr hatte Samuel in ihr immer eine kleine Göttin gesehen. Sie gehörte zu seinem Leben, wie das Leben zu ihr gehörte. Nun sass sie da, hockend wie Buddha unter dem Ölbaum und schien nachzudenken.
- Ich bin mir über eine Sache noch nicht im Klaren.
- Was für eine Sache denn?
- Gestern kam ein junger Mann, etwa Mitte Zwanzig, zu mir und er schien ganz verstört zu sein.
- Was hat er gesagt?
- Er sprach in Rätseln. Es ging um Tod und Auferstehung.
- Tod und Auferstehung?
- Ja, er schien sich über eine Person, die ihm Nahe steht, ziemliche Sorgen zu machen. Er sagte, diese Person werde in Kürze den Weg ins Jenseits antreten und zwar auf grausame Art und Weise, die er sich nicht ausmalen konnte.
- Das klingt ja fürchterlich!
- Er hat auch gesagt, dass seine türkische Mutter ihm verbat, davon zu sprechen. Wenn sie noch einmal davon höre, werde er von seiner Familie abgewiesen. Eigentlich wollte er mich sehen, weil er sonst niemanden hat, dem er so etwas erzählen könnte.
- Aber was hat er mit Auferstehung gemeint?
- Genau das denke ich auch darüber. Und so denkt auch dieser junge Türke. Irgendwie schien er davon fasziniert zu sein. Er hatte das Gefühl, dass sein Traum bald zur Wirklichkeit werden könnte.
- Was hast du gesagt?
- Was sollte ich sagen? Ich habe jedenfalls sein Anliegen sehr ernst genommen und werde mich ab jetzt jeden Tag mit ihm treffen. Heute um elf sehe ich ihn. Ich möchte, dass du dann auch dabei bist.
Den Rest des Morgens verbrachte Samuel in der Couch. Sonja hatte sich ins Bad begeben und man hörte das Wasser gegen den Duschvorhang prasseln. Er überlegte sich, was er machen würde, falls er in der Lage des jungen Mannes wäre, den sie bald treffen würden. Samuel hatte bis anhin solchen Geschichten keinerlei Glauben geschenkt. Eine solche aus dem Mund seiner Geliebten zu hören führte ihn unweigerlich in einen Glaubenskonflikt, der ihm jetzt deutlich auf die Stirn geschrieben stand.
Als die beiden kurz vor elf die Wohnung verliessen, schneite es. Im dichten Flockenregen steuerte Samuel das Tandem durch die Gassen. Sonja hatte die Wollmütze tief über die Ohren gezogen. Sie war klein und konnte im Gegensatz zu ihm den Boden mit den Füssen nicht berühren, so sehr sie sich auch streckte.
Das Café Hirschmann war im Osten. Ein Tisch in der Ecke war noch frei. Viele Leute, die das Café wegen der Wärme aufgesucht hatten drängten sich um die Theke, welche mit Schneemännern aus Karton geschmückt war. Herber Kaffeeduft beherrschte die Atmosphäre.
Zuvorkommend nahm Samuel Sonjas Mantel ab und hängte ihn über die Stuhllehne wo er trocknen konnte. Die beiden bestellten sich zwei grosse Tassen mit heisser Schokolade. Weiter wurde nichts bestellt, denn der junge Türke kam nicht.
Die folgende Nacht wälzte sich Samuel im Bett. Er konnte selten gut schlafen, wenn Sonja bei ihm war, denn er hatte sein Bett behalten, das er während dem Studium für zwanzig Mark beim Trödler gekauft hatte. Dazu kam, dass Sonja im Gegensatz zu ihm sofort einschlief und sich danach im Viertelstundentakt umdrehte und dabei leise stöhnte. Aber Samuel konnte heute nicht nur wegen ihr nicht schlafen. Schemenhaft erschien das Café vor seinem geistigen Auge. Diesmal war der junge Türke gekommen. Während er in seiner Fantasie mit ihm sprach bewegten sich in der Realität die Lippen.
- Vor was hattest du Angst?
- Vor dir. Vor der ganzen Welt. Wem kann ich noch vertrauen?
- Nein, Sonja, aber wir müssen los!
- Erzähl ich dir später. Zieh dich an, wir gehen!
- Er wohnt gleich gegenüber der Metzgerei Heller in Charlottenburg.
Kurz vor dem Savigny-Platz mussten die zwei stoppen. Eine Baustelle versperrte den Weg. Sie entschieden sich, das Fahrrad zu buckeln und durch den klaffenden Graben zu Fuss zu gehen. Da knallte es. Unweit von ihrem Standort vernahmen sie einen grellen Laut, dessen Echo sich durch sämtliche Gassen schlängelte.
Samuel stiess das Rad von sich und sprang mit einem Satz aus dem Graben heraus, seine Freundin zurücklassend. Er wusste jetzt, was zu tun war. Keuchend rang er um Atem, aber er rannte weiter.
Hinter ihm hörte er noch Sonja rufen, als er fast über den toten Leib gestolpert wäre. Er lag mitten auf dem Gehsteig, das Blut aus dem Kopf rinnend. Die Augen schauten ihn entsetzt an, doch der Blick entzog sich zunehmend seinem und zugleich der ganzen Welt.
Er brauchte keine Bestätigung von ihr, dass es der junge Türke war, der den Lebenshauch soeben ausgehaucht hatte. Wer immer auch seine Feinde waren, sie kannten keine Skrupel. Der letzte Hilfeschrei des Toten wurde nicht als solchen erkannt.
Da standen sie. Zwei Menschen, doch ihre Schatten verschmolzen im schummrigen Licht der Strassenlaterne. Noch bevor die Polizei kam, machten sich die beiden aus dem Staub.
Als der Schnee taute und die Bäume die ersten Knospen hervorbrachten vernahm das Paar im Radio, dass die Mörder des jungen Türken endlich geschnappt wurden. Sie sassen gerade beim Kaffee auf dem kleinen Balkon. Die Augenbrauen hebend blickte Sonja ihren Geliebten hoffnungsvoll an. Samuel sass dort und reagierte nicht. Eine weitere Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet.