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Todsicher
„Es kann gar nichts schief gehen!“, beharrte Liza und reckte trotzig das hübsche Kinn in die modrige Luft. „Weil wir nichts falsch gemacht haben!“
„Wir sind alle zusammengeblieben.“ Tony zählte demonstrativ an den Fingern, während er die wichtigsten Punkte der Strichliste durchging. „Wir haben die Eingangshalle nicht mehr verlassen. Wir haben uns die Grabsteine im Garten nicht angeschaut. Wir haben den Sarg im Mausoleum nicht geöffnet. Und“ – er deutete auf das Mittelgebirge aus Staub und Spinnenweben auf dem Tisch – „wir haben dieses Dokument mit der Aufschrift Tagebuch der Alicia v. C. nicht angerührt, geschweige denn geöffnet. Wir haben nichts falsch gemacht.“
Auf einem der gegenüberliegenden spätviktorianischen Ohrensessel, bei denen schon rein biologische Gründe für ein kribbelndes Eigenleben sprachen, schob Tabatha nervös ihre Brille auf die obere Reihe von Sommersprossen zurück, sah erst zu Billy, der nur betont beiläufig mit den Schultern zuckte und warf dann einen ängstlichen Blick in den Raum. Die vier Studenten hatten die Sessel extra so verschoben, dass Tote Winkel vermieden wurden und sie ein freies Blickfeld auf die angerosteten Ritterrüstungen aus den ostrumänischen Karpaten, den altägyptische Kanopenkrüge auf dem mit gotischen Steinfratzen verzierten Kaminsims, das große Ölportrait des an der Pest gestorbenen Urahnen und die trübe Glasvitrine mit den aztekischen Zeremonialmasken hatten. Außerdem hatte Liza darauf bestanden, dass niemand direkt unter dem elektrischen Kronleuchter saß.
„Ich weiß nicht.“, murmelte Tabatha. „Ich hab’ trotzdem so ein ungutes Gefühl.“
Liza schnaubte. „Ich finde, <ungute Gefühle> sollten mit auf unsere Liste. Das ist typisch: Wenn jemand ein <ungutes Gefühl> hat, dann warten hinter der nächsten Ecke mehrere Zombierotten auf ihn.“
Das Kratzen von Tony’s Bleistift hallte im Raum. „Gute Idee. Fühlt sich noch jemand hier unwohl? Nein? Tabby, könntest du das dann bitte unterlassen? Du gefährdest unser Experiment.“
„Hey Leute!“, Billy hob beschwichtigend die Hände. „Könnt ihr nicht ein bisschen Rücksicht nehmen? Immerhin macht sie das zum ersten Mal.“
„Niemand hat sie gezwungen mitzukommen.“, motzte Tony mit dem seltenen Talent, schneller sauer zu werden, als die Hundertschaft Holzwürmer nach der Sesselrückaktion. „Wenn sie Schiss hat, dann soll sie doch…“
„Tony!“ Liza schnitt ihm mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab. „Denk an die Liste, kein negatives Karma, keine Meinungsverschiedenheiten, kein Streit, keine Fehler.“
Tony holte ein eindrucksvolles Brummen aus den Tiefen seines Quarterback-Brustkorbs, aber er gab Frieden.
Natürlich gab das Haus keinen Frieden. Aus den Tiefen des Gemäuers erklang ein nicht weniger eindrucksvoller Schrei mit Obertönen in jenem Frequenzbereich, das ohne weiteres in der Lage ist Ohrenschmalz aufzulösen und verstopfte Nebenhöhlen zu leeren.
Ein souveränes Schneuzen und Klicken und verhinderte den stimmungsvollen Nachhall. Liza legte Taschentuch und Stoppuhr beiseite.
„Entspann dich!“, sagte sie zu Tabatha, die gerade versuchte mit dem Rückenpolster zu verschmelzen, dann wandte sie sich an Tony: „Dreizehneinhalb Sekunden. Wahrscheinlich aus dem Schlafzimmer.“
„Notiert.“ Tony stocherte zufrieden mit dem Stift in einem Staubhaufen, der vielleicht einmal eine Serviette gewesen war.
„Und?“ Billy’s Gesichtsfarbe verließ langsam den Bereich des Schwarz-Weiß-Films. „Sollten wir da jetzt nicht nachsehen?“
„Eben nicht!“
„Wir machen keine Fehler.“
Tabatha beugte sich zitternd zu ihm herüber. „Ich habe Angst!“, piepste sie.
Billy tätschelte ihre Hand und versuchte cool zu klingen – was er seit mehreren Jahren erfolglos tat.
„Brauchst du nicht, Tabby. Liza und Tony wissen was sie tun. Hey, ich meine, die beiden haben den Boden nach Falltüren abgeklopft. Und sie haben darauf bestanden, die Spinnen am Leben zu lassen, weil sie die Moskitos wegfangen. Wenn das nichts ist…?“
Hinter der Brille entstand in mühevoller Kleinarbeit ein verkrampftes Lächeln, das prompt damit belohnt wurde, dass das Licht ausging. Erstickte Geräusche kamen aus der Richtung von Tabathas Sessel und ein unheimliches Wispern und Knarren durchzog das ganze Haus.
„Keine Angst!“, kommandierte Liza triumphierend. „Wir sind auf alles vorbereitet! Tony, der Akku-Strahler!“
Ein Kramen und unterdrücktes Fluchen erklang in der Dunkelheit. Dann ein gedämpftes schweres Klacken auf der Tischplatte, ein Klicken und Tony’s grinsendes Gesicht wurde im kalten Lichtkegel des klobigen Handscheinwerfers sichtbar. Gleichzeitig ließ ein unsichtbarer Dirigent die Sinfonie von Schauergeräuschen auf pianissimo schalten. Liza feixte überlegen, als sie Billy’s erleichtertes Seufzen hörte.
„Mein Großvater war bei der Feuerwehr.“, brüstete sich Tony. „Der Akku ist so groß, der hält ’ne Ewigkeit. Sieh mal Tabby“ – er zwinkerte ihr zu – „das Ding ist aus gutem alten Pittsburgher Stahl, das kann gar nicht kaputt gehen!“
Er ließ seine Football-Pranke mehrmals stolz auf das pfundige Erbstück niedersausen.
Die Tischplatte ließ ein gehässiges Crescendo aus Knirschen und Splittern vernehmen, während eine Pilzwolke aus Staub nach oben wallte. Billy quietschte fast so laut wie Tabatha.
„Oh.“, machte Tony und tastete in den Trümmern nach Papier und Bleistift. „Holzwürmer…die…hatten wir noch nicht...“
„Das“, sagte Liza leise „war ein Fehler.“
Die Lampe flackerte und ging aus.
Und wie auf ein Kommando öffnete die Finsternis Tausend kleine Augen.