Tofu Rosso
Lisa hockte zusammen gekauert auf dem grün-grauen PVC-Boden ihrer Küche inmitten einer langsam größer werdenden Blutlache. Während die kalten, feuchten Finger der jungen Frau das Küchenmesser verkrampft umklammerten, konnte sich ihr starrer Blick nicht vom Quell des Blutsees lösen - ihrem Freund Daniel.
"Was habe ich getan?" piepste sie atemlos in die vom monotonen Brummen des Kühlschranks begleitete Stille, während sie sich seltsamerweise gleichzeitig fragte, ob Daniel nun durch sein Ableben zu ihrem Ex mutiert war oder sie mit ihm hätte Schluß machen müssen, bevor sie ihm 27 Male mit seinem Geburtstagsgeschenk an sie in den Rücken gestochen hatte.
"Ganz ruhig", sagte Lisa zu sich, "ganz ruhig... nachdenken... wie ist das passiert...?"
Die Beziehung zwischen Lisa und Daniel stand schon seit Monaten unter einem schlechten Stern. Genauer gesagt seit dem Tag, an dem Lisa sich dazu entschlossen hatte Vegetarierin zu werden. Daniel hatte für "so´n Quatsch" kein Verständnis, betitelte seine Liebste als "Ess-Nazi", machte sich über sie lustig, zog sie auf, in dem er sich immer wieder vor ihren Augen genüsslich ein saftiges, englisches Steak rein zog. Lisa hatte ihre Verärgerung immer wieder runter geschluckt und seicht gelächelt, wenn er seine "Du frisst den Viechern das Grünzeug weg"-Sprüche vom Stapel gelassen hatte.
Zwei Wochen vor ihrem Geburtstag ging die große Streiterei los. Lisa wollte eine Party geben, ihre Freunde einladen, es sollte gefeiert, getrunken und gegessen werden. Doch beim Thema Essen kamen sie und Daniel beim besten Willen auf keinen gemeinsamen Nenner.
Lisa wollte ein vegetarisches Buffet. Schließlich war es IHR Geburtstag. Daniel stellte sich quer.
"Das is doch peinlich!" hatte er gesagt, "Wir könn´den Leuts doch keine Salate und Kichererbsenfrikadellen auftischen! Hömma!"
Nachdem Lisa jedoch eine vollkommene Fleischeslust-Abstinenz an den Tag gelegt und ihren Freund 12 Tage lang betttechnisch am ausgestreckten Arm verhungern lassen hatte, gab er sich endlich geschlagen.
Heute, an ihrem Ehrentag, hatte er ihr feierlich ein japanisches Küchenmesser überreicht, natürlich will keine Frau der Welt von ihrem Lebensabschnittsgefährten einen Haushaltsgegenstand geschenkt bekommen, aber das war schon mehr Akzeptanz ihrem vegetarischen Leben gegenüber, als Lisa von Daniel jemals erwartet hätte.
Doch als das Geburstagskind keine zwei Stunden später in die Küche kam, überraschte sie ihren Freund dabei, wie er, in Partyvorbereitungen vertieft, filetiertes Muskelgewebe in Marinade einlegte. Und wieder reagierte Daniel auf den Zorn seiner Freundin nur mit Unverständnis.
"... gelegentlich mag ich beim Essen eben gerne die leisen Schreie hilflos dahin gemeuchelter Kälber hören", sagte er und grinste.
Daraufhin hatte Lisa schlicht die Nerven verloren und den Auftragskiller mit dem gänzlich fehlendem Einfühlungsvermögen abgestochen, geschlachtet im Namen aller hilflos dahin gemeuchelter Kälber, Schweine, Hühner, die einzig und allein für den Zweck geboren und gestorben waren, damit sich ignorante Einfallspinsel wie Daniel, die sich einen Dreck um das Leben und die Gefühle anderer Individuen scherten, sich mit ihren sterblichen Überresten den Bauch voll schlagen und darüber auch noch gehässige Witze reissen konnten.
In Lisas Augen war Daniels Verhalten die reinste Blasphemie und das ihrige das eines Racheengels.
Hatte sie den Verstand verloren?
In fünf Stunden sollten die Gäste kommen. Die Leiche musste verschwinden.
Die Gefriertruhe bot leider nicht ausreichend Platz, um einen ausgewachsenen Mann am Stück beherbergen zu können. Nachdem Lisa nach einiger Überwindung nach Daniels Fleischerbeil gegriffen hatte, passte es fast, wenn man vom linken Arm ihres Dahingeschiedenen absah.
Lisa blendete aus, daß sich jener Arm fast jede Nacht beschützend um ihre Schultern gelegt hatte und griff abermals zum Beil.
"Ein Mörder weniger", sagte sie sich, während sie blind Fleisch und Knochen zu Klump hackte, führte sich vor Augen, wie viele Tiere wegen Daniel hatten leiden und sterben müssen, rief sich ins Gedächnis, daß durch seinen Tod einige Leben gerettet werden konnten.
"Ich habe das Richtige getan", schniefte sie, wischte sich die Tränen und Blutspritzer aus dem Gesicht und überlegte, wie sie das frische Hack ala´Daniel nun unauffällig verschwinden lassen konnte. Die Toilette wäre eine schnelle Lösung gewesen. Aber Lisa hatte eine bessere Idee.
Sie griff nach dem Behälter mit den über Nacht eingeweichten Sojabohnen und nach einem Mixer, in der Gewissheit, ihre Rache nun zu vervollkommnen.
"Ooouuuh, hast du den selbst gemacht?" Egon, seines Zeichens Reformhausangestellter, Kind der Natur, bekennender Veganer und von Lisa aufgrund dessen schwer bewundert, gegutachtete den rechteckigen Block frischen Sojaquarks eingehend. "Sieht aus wie Tofu Rosso - ich probier gleich mal...."
"Warte!"
Egon sah Lisa verständnislos an. "Was´n?"
Was hab ich getan? ging es Lisa durch den Kopf. Ich habe meinen Freund zu Tofu verarbeitet! Ich hab den Verstand verloren!
"Lisa...?"
"Der... der Tofu...." Lass dir was einfallen, Mädel! "Der.... ist nicht vegan!" Puh.
Egon zog fragend eine Augenbraue hoch. "Wie, nicht vegan? Haste da Milch oder Eier reingepanscht oder was?"
Lisa konnte nicht mehr. Ihr traten Tränen in die Augen, sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Schnell griff sie Egon am Arm und zog ihn in ihre inzwischen von Grund auf gereinigte Küche, schloss die Tür hinter sich, brach zusammen und beichete.
"Ich will dir jetzt mal was sagen." Egon hockte sich zu Lisa runter, legte ihr seine Hände auf die Schultern und sah ihr in die Augen.
"Du willst die Polizei holen, ja?" schluchzte Lisa, "Nur zu, es ist okay, lass mich nur eben den Tofu -"
"Nein." Egon strich ihr sanft durchs Haar. "Die Arbeitslosigkeit in Deutschland sinkt seit einigen Jahren stetig. Und woran liegt das?"
"Was soll das, was meinst du, worauf willst du hinaus?"
"Antworte auf meine Frage."
Hypnotisiert von Egons sanften Augen und seiner ruhigen Stimme überlegte Lisa einen Moment. "Na... weil die Wirtschaft wieder auf die Beine kommt?"
"Nein". Er schüttelte den Kopf. "Weil immer mehr Deutsche ins Ausland abwandern."
"Aha...?"
"Die Zahl der Vegetarier auf der Welt scheint zu steigen. Was denkst du, woran liegt das?"
Lisa verstand noch immer nicht, worauf Egon hinaus wollte. "Weil... äh... sich immer mehr Leute Gedanken machen, die Augen öffnen und umdenken?"
"Schön wär´s." Egon grinste schief. "Ich sagte, die Zahl scheint zu steigen. Gut, sie steigt wirklich, aber das ist kaum der Rede wert. In Wirklichkeit ist es so: Die Zahl der Fleischesser sinkt."
Lisa sah Egon verständnislos an.
"Was glaubst du, woraus Tofu Rosso besteht?"
Schweigen.
"Du... du meinst...?"
Egon nickte leicht und lächelte.
"Das... das ist ja..." Sie wollte "UNGEHEUERLICH!" schreien, aber jetzt ergab alles irgendwie einen Sinn. Sie hatte ohne es zu wissen das Richtige getan.
"Aber... das ist doch nicht vegetarisch, geschweige denn vegan!"
Egon schüttelte den Kopf. "Unser Wahlspruch lautet: Tiere sind unsere Freunde, und wir essen unsere Freunde nicht... aber unsere Feinde."
"Aber...."
"Der Mensch hat vor Äonen Blut geleckt und ist seit jeher davon besessen. Der Pfad des Menschen wird immer ein blutiger sein. Nur haben wir uns dafür entschieden, nicht mehr das Blut Unschuldiger zu vergießen."
Egon lächelte.
"Herzlichen Glückwunsch, nun bist du wirklich eine von uns."
Noch bevor Lisa das eben Gehörte verdauen konnte, klopfte es an der Küchentür und Jasmin, Erzieherin und Bauchtanzlehrerin aus Eschweiler, steckte ihren Kopf herein.
"Hey Lisa, ich wollte nur fragen, wo Daniel die ganze Zeit bleibt - scheiße, was ist denn mit dir los?"
"Nichts weiter, schon gut." Lisa wischte sich übers Gesicht und erhob sich. "Daniel ist... Daniel und ich haben uns getrennt."
"Oh... das tut mir leid...."
"Schon gut", meinte Lisa und lächelte schwach. "Es war richtig so."